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Amerikanisches Krisentagebuch III

Eine ältere Dame im Café in Rockport, Massachusetts, fängt unaufgefordert an, sich für den amerikanischen Präsidenten zu entschuldigen. Der Auslöser ihrer Rechtfertigungssuada ist die Tatsache, dass wir aus Europa kommen: „Sie wissen ja hoffentlich, dass wir ihn nicht gewählt haben. Hier in Massachusetts hat kein Mensch George Bush gewählt. Wir haben noch nie für die gestimmt.“ Sie arbeite als Bibliothekarin am MIT, gibt sie uns zu wissen. Mir dient diese Reaktion auch zur Erinnerung, dass Massachusetts mit seinem eingefleischten Demokraten-Stolz und Kennedy-Kult nicht für die USA im Ganzen steht. Aber andererseits wird gerade heute berichtet, dass Obama auch in Ohio vorne liege.

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Der deutsche Botschafter spricht in Harvard. Er nennt die Weltprobleme, die das transatlantische Verhältnis herausfordern werden. Nummer eines ist die Finanzkrise. Dann kommt die globale Erwärmung und die Abhängigkeit von fossiler Energie. Dann „nukleare Proliferation“ – das Wort Iran fällt nicht. Viertens radikalen Extremismus (auch islamistischer Art). Fünftens „failed states“. Sechstens Armut. Siebtens die transatlantischen Institutionen (NATO inklusive). Achtens Russland, China, Afghanistan und Iran – und die Zukunft der internationalen Strukturen im Licht dieser Konflikte. Die Reihenfolge ist einigermassen frappierend. Iran hätte vor kurzem noch ganz oben gestanden. Der Nahe Osten wird am Ende mehr pflichtschuldig erwähnt. Es gibt erstaunlicher Weise keine Einwände gegen diese Rangfolge von den amerikanischen Anwesenden. Vor Jahr und Tag noch hätte man an der jeweiligen Rangfolge der Probleme die transatlantischen Differenzen kenntlich machen können – hier Venus Europa, da Mars Amerika. Vorbei? In wenigen Wochen hat sich eine radikale Neuordnung der Prioritäten durchgesetzt. Vielleicht eine Rückkehr zum Wesentlichen?

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Meine Vermieterin Kim weiß aus Georgia zu berichten, dass die Menschen stundenlang anstehen, um jetzt schon am early voting teilzunehmen. Hunderttausende neue Wähler seien dabei, die vorher nie zur Wahl gegangen sind – vor allem unter den Schwarzen. Kim ist selber schwarz. Als ich behaupte, diesmal würde die Rassenfrage nicht so sehr ins Gewicht fallen, weil die realen Probleme zu stark seien, bleibt sie skeptisch: „Das Rassenthema ist tief eingegraben in unserer Gesellschaft.“ Ausserdem sei die Wirtschaftskrise nicht unbedingt ein starkes Argument für Obama: Der sei nicht viel besser qualifiziert als McCain, um die Finanz-Probleme zu lösen, sagt Kim. Für sie scheint die Aussenpolitik eine starke Rolle zu spielen: Amerikas Ansehen in der Welt, der Irakkrieg. Und im Innern die immer weiter wachsende Ungerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Mein Eindruck ist, dass sich bei Obamas Anhängern eine Art magisches Denken Bahn bricht: Nur ja nicht voreilig den Sieg beschreien, nur ja nicht zugeben, wieviel für einen daran hängt – es mag Unglück bringen. Klug ist das ja auch, denn: „it ain’t over until the fat lady sings“.

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Joseph Nye von der Harvard Universität – Erfinder des Konzepts soft power – hält es für möglich, dass Obama von Osama eine „October Surprise“ drohen könne. Der letztere könnte sich nämlich durch Herrn Obamas „soft skills“ gefährdet sehen, durch welche die Weltmeinung wieder für das verhasste Amerika eingenommen werden könnte. Und um dies zu verhindern könnte Osama versucht sein, etwas anzustellen, das McCain in die Hände spielt. Da ist etwas dran: Obama könnte in der Tat das Spiel der Qaida durchkreuzen, weil er Amerika (für den Anfang jedenfalls) das offensichtlich Feindliche nimmt. Er wäre – gerade wegen seines kenyanischen Vaters und seiner Jugend in Indonesien – schwerer als Feind und „Kreuzfahrer“ zu brandmarken. Aber die Vorstellung, dass die Qaida-Planung auf den amerikanischen Wahlkampf hin berechnet werden könnte, riecht mir dann doch zu sehr nach Verschwörungstheorie.

 

Was sind die russischen Argumente für den Krieg wert?

Mein Beitrag aus der morgigen ZEIT, Nr. 35, S. 6:

Der russische Botschafter in Berlin, ein eleganter Mann um die fünfzig mit exzellenten Deutschkenntnissen, vertritt sein Land seit vier Jahren mit Charme und urbanem Chic. Wladimir Kotenew ist bei aller Loyalität gegenüber seinem Förderer stilistisch ein Anti-Putin, ohne machohafte Machtgesten. Doch an diesem Mittwoch, dem ersten Tag nach Einstellung der Kampfhandlungen im Kaukasus, steht der sonst so konziliante Botschafter sichtlich unter Strom. Er hat die deutsche Presse geladen, um sie in dem riesigen stalinistischen Herrschaftsgebäude Unter den Linden mit der offiziellen Lesart des Kaukasus-Krieges vertraut zu machen: »Hinterlistige Georgier«, sagt er mit verbissener Miene, hätten Zchinwali überfallen. Sie hätten »Kinder und alte Frauen zermalmt«, Menschen in Kirchen verbrannt und Friedhöfe planiert. Eine »Tragödie von unvorstellbarem Ausmaß« und ein »versuchter Völkermord« gingen auf das Konto des »größenwahnsinnigen« Präsidenten Saakaschwili. Russland habe lediglich seinen »Friedenseinsatz« zum Schutz des Völkerrechts fortgesetzt, ganz wie der Westen im Kosovo.
Im Auftritt des Botschafters liegen Wut und Genugtuung, Bitterkeit und Triumphgefühl auf eine überraschend undiplomatische Weise offen zutage. Er wirkt wie befreit, wenn er voller Sarkasmus vom »ausgezeichneten Englisch« und den »großartigen Beratern« des georgischen Präsidenten redet. Ob Russland sich nicht international isoliere durch sein Vorgehen, wird Kotenev gefragt. »Ach, wissen Sie, Russland war fast immer allein«, gibt er zurück. Russlands Argumente würden sowieso abgetan, winkt er ab.
Wie stichhaltig also sind die russischen Argumente?

Erstens: Wir mussten unsere Friedenstruppen verteidigen

Wer angefangen hat, wird sich vielleicht nie ermitteln lassen. Die Georgier behaupten, Weiter„Was sind die russischen Argumente für den Krieg wert?“

 

Alice im Wunderland

Ein Kommentar aus der ZEIT Nr. 24 von morgen, Donnerstag, 5. Juni:

Wenn eine Freiheitskämpferin wie Alice Schwarzer plötzlich Verständnis für eine Militärjunta aufbringt, wird man stutzig. Die Generäle in Birma, schreibt Schwarzer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, misstrauten »zu Recht der Großmut und dem Pflichtgefühl der internationalen Gemeinschaft«.
Denn in dem Druck auf das Regime, Helfer ins Land zu lassen, damit nicht weitere Hunderttausende an den Folgen des Zyklons sterben, sieht Schwarzer finstere Motive am Werk. Unter dem Vorwand der Hilfe gehe es um einen neuen Kolonialismus: »Versteht sich, dass das kleine Myanmar schon längst vom mächtigen Westen im Namen der Menschenrechte und Demokratie ›befreit‹ worden wäre, würde das mächtige China nicht die Faust darüber halten.« Sicher, auch China verfolge eigene Interessen, gesteht Schwarzer zu. Aber im Vergleich zum westlichen Neoimperialismus, der »einst ehrenwerte Begriffe wie Menschenrechte oder Demokratie« vorschiebt, sei Chinas brüderliche Hilfe das kleinere Übel.
Das Technische Hilfswerk und die GTZ mit ihren Wasseraufbereitungsanlagen als Vorboten eines neuen Kolonialismus? So stellt es gern die Regierungspropaganda der Generäle dar. Deutschlands bekannteste Frauen- und Menschenrechtlerin sekundiert. Wie bitte?
Sie sei viel gereist in dem Land und habe »nie Hunger oder wirkliches Elend gesehen«. Erst in den letzten Jahren, mit der Öffnung für westliche Reisende, »tauchten erste bettelnde Kinder auf: angefixt von Kugelschreiber und Kyats verteilenden Touristen«. Nicht die korrupten Generäle mit ihrem absurden Unterdrückerregime, nein, der Westen ruiniere das »versunkenschöne Land«.
Alice Schwarzers Zwischenruf erinnert an Peter Handkes Reiseberichte aus Jugoslawien – schillernd zwischen Eingeborenenkitsch (»goldhäutig und heiter«) und westlichem Selbsthass, voller Hohn auf Menschenrechte und Demokratie als Alibi der Machtpolitik.
Aus dem Text spricht eine tiefe Verzagtheit, eine Verunsicherung im Herzen des Westens. Was taugen unsere Werte, wenn unsere Politik sie oft genug selbst unterminiert? Sind sie überhaupt für alle Welt geeignet? Und wie können wir für sie eintreten, ohne sie zu beschädigen? Nach einem Jahrzehnt des Interventionismus von Bosnien über Afghanistan bis Irak wachsen die Zweifel. Und sie sind weiß Gott berechtigt.
Doch das hehre Prinzip der Nichteinmischung, zu dem sich Alice Schwarzer bekennt, ist den modernen Autokraten und Tyrannen nicht ohne Grund heilig. In Russland dient es dazu, unbehelligt von der Weltöffentlichkeit Morde an Journalisten zu vertuschen. China benutzt es zur Rechtfertigung der Abriegelung Tibets. Und in Iran findet eine beispiellose Repression der Opposition in seinem Schatten statt. Viele der Opfer des Teheraner Re­gimes sind übrigens Feministinnen. In Iran sind die Gefängnisse voll mit Frauen, denen man vorwirft, unter dem Vorwand der Menschenrechte einen samtenen Umsturz zu planen. Dass sie mit westlichen Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen zusammenarbeiten, reicht schon für die Verhaftung. Ist Alice Schwarzer, die nicht müde wird, die Geschlechter-Apartheid in der islamischen Welt anzuprangern und den Westen zu mehr Druck aufzufordern, auch hier »strikt gegen jegliche westliche Intervention«? Den Feminismus lehnen die Islamisten übrigens mit den gleichen Argumenten ab, die Schwarzer im Fall Birmas geltend macht: Eine (unmoralische) westliche Lebensweise solle den Muslimen unter dem Deckmantel der Menschenrechte aufgedrückt werden.
Es ist aber gar nicht (mehr) der Westen, der die zivile Unruhe in die Autokratien trägt, wie etwa der Mönchsprotest in Birma letzten Herbst gezeigt hat. Das Regime möchte es zwar so erscheinen lassen. In Wahrheit stehen die Machthaber vor dem Problem, dass kein Mensch gern Stiefel im Gesicht hat.
Die Politik des Demokratieexports durch verdeckte Operationen und gewaltsam herbeigeführte Regimewechsel ist gescheitert. Was nun? Raushalten? Zurückziehen und schuldstolze Selbstanklage? Ist das nicht in Wahrheit nur die depressive Kehrseite des kolonialen Auftrumpfens von einst? Genauso narzisstisch-selbstbezogen wie in den Zeiten imperialer Träume. Wieder sind die anderen nur Objekte. Wenn der Westen schon nicht mehr bestimmen kann, wo es lang geht, dann will man wenigstens schuld an allem sein.
Selbsthass kann genauso blind machen wie Sendungsbewusstsein. Die wahre Frage lautet: Wie kann der Westen nach dem Ende seiner Dominanz noch für seine Werte eintreten, ohne in Überheblichkeit oder Appeasement zu verfallen – prinzipienfest, aber nicht auftrumpfend, lernbereit, doch ohne Kotau?

 

Aussen Minister, innen rot

Aus der aktuellen Print-Ausgabe: Ein Porträt des Aussenministers und Vizekanzlers Frank-Walter Steinmeier, das ich zusammen mit dem neuen Kollegen Peter Dausend geschrieben habe. Die beiden Reden, auf die ich mich beziehe, finden sich hier und hier.

Vom Rasenplatz in Bochum zu den Lehmplätzen von Ouagadougou braucht Frank-Walter Steinmeier nur Sekunden, für den Rollenwechsel vom SPD-Vize zum Außenminister nur einen Satz. Soeben hat Kurt Becks Stellvertreter mit Fans und Spielern des VfL Bochum über Rassismus im Fußball diskutiert – und jetzt berichtet Deutschlands höchster Diplomat von Straßenkindern in Burkina Faso. »Faszinierend« sei es, wie ein Fußballprojekt diesen Vergessenen zwar nur selten eine Profikarriere beschere, aber oft einen Schulabschluss. Burkina Faso ist das ärmste Land der Welt, die SPD eine gepeinigte deutsche Partei, der Fußball politisch – und die nächste Rolle immer die schwerste.
Steinmeier hat nun gleich vier Rollen zu spielen. Seit Oktober 2007 ist der Außenminister auch stellvertretender SPD-Chef, seit November Vizekanzler – und seit Kurt Becks Wortbruch Kanzlerkandidatenkandidat. Nicht genug damit, dass Steinmeier mit vier Hüten durch die Welt reist. Er muss seine Reiseplanung immer mehr an innenpolitischen Pflichten ausrichten: Wegen Becks Krise musste vor zwei Monaten bereits der Indien-Teil seiner Asienreise amputiert werden. Und am vorletzten Sonntag killte die Parteisitzung zur Bahnreform die Station Chicago bei Steinmeiers Amerika-Trip. Seine Gesprächspartner in aller Welt werden sich im Wahljahr 2009 daran gewöhnen müssen, dass der Außenminister sonntags und montags meist Innenpolitik macht.

Als Steinmeier vor gut zweieinhalb Jahren an die Spitze des Auswärtigen Amtes bestellt wurde – der erste Sozialdemokrat seit Willy Brandt –, wiederholte sich ein Phänomen, das noch aus jedem Klaus Kinkel einen Politstar gemacht hat: Kaum im Amt, stürmen Außenminister alle Popularitäts-Hitparaden. Bei Steinmeier überraschte das dennoch. Schließlich war er bis zu seinem Amtsantritt den Deutschen weitgehend unbekannt. Für andere war der Außenministerposten oft Krönung einer öffentlichen Karriere – für den promovierten Juristen der Einstieg. Im stillen Kämmerlein eines Staatskanzleichefs in Hannover, eines Kanzleramtschefs in Berlin hatte der heute 52-Jährige mehr als ein Jahrzehnt lang all das organisiert, was ein anderer, Gerhard Schröder, im öffentlichen Scheinwerferlicht als seine Politik verkaufte. Steinmeiers rasanter Aufstieg von Schröders Schattenmann zu Merkels Beliebtheitsrivalen hat jenseits der roten Teppiche mehrere Ursachen: den Hanns-Joachim-Friedrichs-Reflex, mit dem die Deutschen grau melierten Männern, die sie aus dem Fernsehen kennen, Seriosität und Glaubwürdigkeit attestieren. Die sonore Stimme, die gelassen eine Politik erklärt, die nur schwer zu verstehen ist. Die vielen »konstruktiven Dialoge«, »fruchtbaren Gespräche« und »gemeinsamen Bemühungen«, die einen so sehr aller Parteilichkeit entheben, bis der Sozialdemokrat im Außenminister verschwindet. Doch der muss jetzt wieder sichtbar werden. Steinmeier ist nun außen Minister – und innen rot.
»Werden Sie denn nun gegen Merkel antreten?«, will Professor John Silver in Harvard wissen. Der Außenminister hat gerade eine programmatische Rede gehalten. Steinmeier scherzt, er habe die Einladung an die Elite-Eni in Mas­sa­chu­setts eigentlich angenommen, weil er sich hier vor solchen Fragen sicher wähnte. Aber nicht gefragt zu werden hätte ihm auch nicht gefallen.
Steinmeier war längst Diplomat, bevor er an die Spitze des Auswärtigen Amts wechselte…

Steinmeiers Rollenkonflikt besteht darin, dass er nach außen Entspannungspolitiker bleiben will, nach innen aber Spannungspolitiker werden muss. Das spiegelt sich in den zwei großen Reden, die er jüngst gehalten hat – eine nach Osten, eine nach Westen gerichtet. In Berlin warb er für eine »neue europäische Ostpolitik«, in Harvard stellte er seine »neue transatlantische Agenda« vor. Steinmeier sieht Deutschland als »Modernisierungspartner« für Russland. Er reagiert allergisch auf Kalte-Kriegs-Töne. Mit dem republikanischen Kandidaten John McCain hat er sich deswegen schon gelegentlich hinter verschlossenen Türen gefetzt. Steinmeier will aber auch nicht als Russland-Schmuser gesehen werden. Darum flicht er jetzt öfter Worte über »die Mängel im politischen System Russlands« in seine Statements.
In Harvard stellt er klar, dass er die Rückkehr Amerikas als politisch-moralische Führungsmacht in einer unübersichtlichen Welt wünscht. Dass Amerika den Ansehensverlust der vergangenen sieben Jahre wiedergutmacht, ist für ihn wichtig, weil wachsender Antiamerikanismus zu Hause (nicht nur in der Linkspartei) es schwer macht, Mehrheiten etwa für den Afghanistaneinsatz zu organisieren. Steinmeier zeigt sich in Amerika ganz undiplomatisch als Parteigänger Obamas. Dessen Slogan »Yes, we can« hat er als Pointe in seine Rede eingebaut. Einen Sieg Obamas, der den Irakkrieg immer für falsch hielt und den Afghanistaneinsatz verteidigt, würde Steinmeier als Bestätigung seiner eigenen Außenpolitik se­hen – ein letzter postmortaler Sieg von Rot-Grün….

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Prophet des nächsten Weltkriegs

Aus der Printausgabe von diesem Donnerstag:

Vom Trotzkisten zum Kämpfer gegen den »Islamofaschismus«: Wie der New Yorker Intellektuelle Norman Podhoretz die Bush-Regierung auf die Bombardierung Irans einschwören will – und warum er Erfolg haben könnte

Der Präsident redet vom Weltkrieg, und selbst seine Sprecher sind erschrocken. Es sei bloß eine »rhetorische Bemerkung« gewesen, ließ das Weiße Haus verlauten, dass George Bush den »Dritten Weltkrieg« an die Wand gemalt hatte, als Russlands Präsident Wladimir Putin vergangene Woche bei seinem iranischen Kollegen Machmud Ahmadineschad zu Gast war. Doch das apokalyptische Bild ist George Bush nicht in der Hitze des Augenblicks zugeflogen. Es hat eine lange Vorgeschichte, die bis ins Jahr 2001 zurückreicht. Seither nämlich arbeiten einflussreiche außenpolitische Köpfe daran, dass der Präsident der Vereinigten Staaten den Konflikt, der mit den Anschlägen des 11. September ausbrach, nicht nur als »Krieg gegen den Terrorismus«, sondern als veritablen »Weltkrieg« deklarieren solle.

Niemand hat dafür so unermüdlich getrommelt wie der 77-jährige New Yorker Intellektuelle Norman Podhoretz, einer der Gründerväter des Neokonservatismus. Seit Jahren propagiert er in Essays, Interviews und nun auch in einem Buch die Lesart, dass die USA sich längst schon in einem neuen Weltkrieg befinden. Als Erster hatte Eliot Cohen, ein neokonservativer Pentagonberater, bereits im November 2001 im Wall Street Journal den 11. September als Menetekel des »Vierten Weltkriegs« gedeutet. Warum »Vierter Weltkrieg«? Die Neokonservativen sind Bush um einen Zähler voraus, weil sie bereits den Kalten Krieg als den dritten rechnen. Der ehemalige CIA-Chef James Woolsey nahm 2002 den Ball auf und benannte den Feind in diesem Kampf: die schiitischen Islamisten Irans, die »Faschisten« der irakischen Baath-Partei und die sunnitischen Terroristen der al-Qaida. Newt Gingrich, der ehemalige Mehrheitsführer im US-Kongress, forderte Präsident Bush im vergangenen Jahr auf, den israelischen Libanonkrieg zu einer Schlacht in jenem Weltkrieg zu erklären.

Doch Norman Podhoretz wurde der einflussreichste Propagandist des Vierten Weltkriegs. Podhoretz hat Jahrzehnte im intellektuellen Dunstkreis der Macht verbracht. Als jahrzehntelanger Herausgeber der Zeitschrift Commentary gehörte er zur ersten Generation von Neokonservativen – jenen Konvertiten, die sich, enttäuscht von der Linken, nach rechts gewendet hatten. Die meisten von ihnen waren Juden, viele waren Ex-Trotzkisten. Im Kalten Krieg waren sie zu außenpolitischen Falken, innenpolitischen Deregulierern und zu eingeschworenen Feinden der Kulturrevolution der Sechziger geworden. Podhoretz mit seiner legendären Streitlust war stets ihr lautester Wortführer. Mit dem früheren US-Präsidenten Ronald und dessen Frau Nancy Reagan verband ihn eine Freundschaft; George W. Bush verlieh ihm 2004 die Presidential Medal of Freedom, die höchste Auszeichnung für einen Zivilisten. Das war, wie sich zeigen sollte, mehr als eine Anerkennung für alte Verdienste.

Im Frühling 2007 wurde Norman Podhoretz zu einem Gespräch unter sechs Augen ins New Yorker Hotel Waldorf Astoria geladen. Dort durfte er dem Präsidenten und seinem damaligen Berater Karl Rove 45 Minuten lang darlegen, warum es an der Zeit sei, Iran zu bombardieren. Der Präsident sei »sehr ernst« gewesen und habe die meiste Zeit zugehört, erzählte Podhoretz im September der Londoner Times. Nur einmal seien Bush und Rove in lautes Lachen ausgebrochen: als er, Podhoretz, die Verhandlungen über UN-Sanktionen gegen Iran als den Versuch bezeichnet habe, »der Sinnlosigkeit eine Chance« zu geben. Das Weiße Haus ließ Podhoretz gewähren, als er das inoffizielle Treffen im Waldorf publik machte, um sein soeben erschienenes neues Buch zu bewerben. Es trägt den Titel: Der Vierte Weltkrieg. Der lange Kampf gegen den Islamofaschismus.

Wurden die ersten drei Weltkriege gegen Imperialismus, Faschismus und Kommunismus geführt, so steht Amerika nun gegen den »Islamofaschismus«: Mit der iranischen Revolution ist diese Kraft auf die Bühne der Weltgeschichte getreten, als Terror der schiitischen Hisbollah in Beirut 1983 hat sie erstmals die USA getroffen, mit Saddam Hussein zeigte sie sich als Erbe Hitlers und Stalins zugleich, und durch al-Qaida erfasste sie die sunnitische Welt mit einer revolutionären Befreiungsbotschaft. Der Afghanistankrieg, der Irakkrieg, der israelische Libanonkrieg und der Streit um das iranische Atomprogramm sind in dieser Sicht nur verschiedene Fronten in einem einzigen großen Kampf. Nach Osama bin Laden bildet der iranische Präsident Machmud Ahmadineschad die Speerspitze des Islamofaschismus. »Wie Hitler«, schreibt Podhoretz, »ist er ein Revolutionär, dessen Ziel im Umsturz der internationalen Ordnung besteht.« Und darum muss, wer den Islamofaschismus besiegen will, nach dem Fall Kabuls und Bagdads gegen Teheran ziehen.

Der Begriff »Islamofaschismus« planiert die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten im Irak, zwischen säkularen Tyrannen wie Saddam Hussein und messianischen Führern wie bin Laden. Er ignoriert die Interessengegensätze zwischen den wahhabitischen Herrschern Saudi-Arabiens und ihren persisch-theokratischen Herausforderern, und er unterscheidet nicht zwischen lokalen Widerstandsgruppen und dem globalen Dschihadismus. Der angenehme Nebeneffekt für die Bushisten: Das Desaster im Irak erscheint im Licht des titanischen Menschheitsringens höchstens noch als kleiner Rückschlag.

Warum überhaupt Rückschlag? Sind die täglichen Massaker der Aufständischen im Irak, fragt Podhoretz, nicht in Wahrheit »ein Tribut an die enormen Fortschritte, die bei der Demokratisierung und Vereinigung des Landes unter einem arbeitsfähigen föderalen System gemacht wurden«? Warum denn sonst würde der »Widerstand« wohl so viel Blut vergießen, wenn er nicht überzeugt wäre, dass die US-Mission im Irak gelingt? Die Rede vom Weltkrieg gegen den Islamofaschismus dient auch dazu, die innenpolitischen Gegner ins moralische Zwielicht zu rücken. Wenn wir vor einem »neuen München« stehen, wie Podhoretz behauptet, dann werden Befürworter der Diplomatie zu Wiedergängern der »Appeasement«-Politik von 1938, die Hitler freie Bahn geschaffen hat.

Präsident Bush macht sich zwar Podhoretz’ Weltkriegs-Zählweise nicht zu eigen, indem er vom Dritten Weltkrieg spricht. Aber auch er definiert die iranischen Nuklearambitionen nun nicht mehr nur als »Gefahr für den Weltfrieden«, sondern als Element eines größeren Kampfes. Zugleich zieht er mit der Einführung der Weltkriegsmetapher die rote Linie für Iran enger: Galt bisher der Erwerb der Bombe als »unakzeptabel«, so sieht Bush nun bereits den Erwerb des nukleartechnischen Wissens durch Iran als mögliche Schwelle zum »Weltkrieg«.

Während der Präsident aber noch warnt, ein Weltkrieg müsse vermieden werden, sehnt Podhoretz die Stunde herbei, in der er endlich offen und ohne Zurückhaltung ausgefochten wird. Mögen andere sich gegen die Bezeichnung »Kriegshetzer« wehren – Podhoretz steht jenseits solcher Ehrpusseligkeit. Er lebt aus einem Gefühl der Stärke, das sich seit eh und je am Erschrecken der »feigen Liberalen« weidet. Er sieht das Entsetzen im Auge seines Gegenübers als Beweis, dass er richtig liegt. Und so legt er immer weiter nach: Sein jüngster Aufsatz »Argumente für die Bombardierung Irans« (Commentary, Juni 2007) endet mit den Worten, er »bete als Amerikaner und als Jude mit ganzem Herzen dafür«, dass Präsident Bush »es tun« werde. Vor Ahmadineschads Besuch in New York ließ Podhoretz in mehreren Interviews wissen, er sei sicher, dass Präsident Bush Iran vor dem Ende seiner Amtszeit bombardieren werde. Und im Fernsehen sagte er: »Wenn wir Iran bombardieren – und ich hoffe und bete, dass wir es tun –, wird dies eine Welle des Antiamerikanismus auslösen, gegen die der Antiamerikanismus, den wir bis jetzt ertragen haben, ein Liebesfest sein wird.« In Podhoretz’ Logik wäre auch dies wieder nur ein weiteres Zeichen dafür, dass der Sieg im Vierten Weltkrieg näherrückt. Denn mehr Antiamerikanismus kann nur bedeuten, dass Amerika mehr denn je das Richtige tut.

Podhoretz genießt den Schrecken, den die Ungeheuerlichkeiten auslösen, die er betont lässig und stoisch vorbringt. Entlarvungsgesten prallen an ihm ab: Er spielt ganz offensiv und lustvoll die jüdische Karte und inszeniert sich als letzte Hoffnung Israels gegen die »Appeaser« des »Islamofaschismus«. Gerade in jüdischen Kreisen ist Podhoretz darum umstritten: Die Mehrheit der liberalen Juden in Amerika, die loyal zu Israel stehen und gerade darum die Nahostpolitik der Bush-Regierung mit Sorge sehen, empfindet seine Position als Anmaßung. Was Podhoretz wiederum als Bestätigung verbucht: ein perfekt geschlossenes System.

Manche Einlassungen von Podhoretz deuten auf Realitätsverlust hin: In seinem Buch erklärt er, der Meinungsstreit um den Irakkrieg sei »kein Stück weniger blutig als derjenige, den unsere Truppen im Nahen Osten kämpfen«. Es handele sich dabei schließlich ebenfalls »um eine Art Bürgerkrieg«. Mancher würde ihn wegen solcher Äußerungen gern als »zunehmend einsamen Mann« abtun, der mit »ideologischer Blindheit« (so der New Yorker Publizist Ian Buruma) geschlagen ist. Podhoretz ist zwar ein typischer Upper-East-Side-Intellektueller zwischen Pomp und Hysterie, wie man sie aus Woody Allens Filmen kennt. Aber zugleich ist er ein in den Washingtoner Machtsphären gut vernetzter Mann, auf den immer noch gehört wird.

Vielleicht sind die Nachrufe auf den Neokonservatismus, die angesichts der Lage im Irak verfasst wurden, zu früh geschrieben worden. Wer schon glaubte, die revolutionäre Außenpolitik der Neocons sei ein Opfer des Irakkriegs, sollte die Präsidentschaftskampagne des früheren New Yorker Bürgermeisters Rudy Giuliani im Auge behalten. Norman Podhoretz ist seit Kurzem dessen außenpolitischer Berater.

 

Ägyptischer Grossmufti: Genitalverstümmelung bringt „unsägliches Leid“ für Mädchen und Frauen

Der berühmte Abenteurer Rüdiger Nehberg ist kurz davor, einen sensationellen Durchbruch im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung zu erzielten. Nehberg, bekannt durch seine vielen waghalsigen Reisen („Im Tretboot über den Atlantik“), ist seit vielen Jahren hauptsächlich als Menschenrechtler aktiv. Seine Organisation „Target“ widmet sich vor allem der Abschaffung der Praxis der so genannten Klitorisbeschneidung.

Auf Initiative von „Target“ treffen sich nächste Woche Mittwoch in Kairo hohe muslimische Theologen, um die Praxis zu ächten. Es werden Teilnehmer aus Ägypten, Somalia, dem Tschad, Mali, Mauretanien, Äthiopien, Eritrea, Qatar, Nigeria, Dschibuti, Marokko, der Türkei und Russland erwartet.

Die Sensation besteht darin, dass der ägyptische Grossmufti Dr. Ali Gomaa als Schirmherr gewonnen werden konnte. Rüdiger Nehberg sagte der ZEIT, er habe eigentlich vorgehabt, die Konferenz in Berlin abzuhalten:

„Doch der Grossmufti schlug vor, dass wir ins theologische Zentrum des sunnitischen Islams gehen, an die Al-Azhar-Universität. Der Grossscheich der Universität, Dr. Mohammed Sayed Tantawi, unterstützt die Konferenz ebenfalls. Auch der ägyptische Religionsminister steht dahnter. Und Jussuf Al-Karadawi, der populärste Prediger der sunnitischen welt, will auch kommen.“

Der Grossmufti findet in seiner Einladung deutliche Worte:

„Es geht um die düstere Wirklichkeit der Genitalverstümmelung an Frauen und die Haltung des Islam zur Unantastbarkeit des weiblichen Körpers. Und es geht um die Achtung der Würde und Ehre des Menschen sowie das Verbot von Aggressionen in jeglicher Form.“

Der letzte Satz lässt ahnen, dass der Mufti diese Initiative in einem weiteren Kontext islamischer Reform sieht. Geniatlverstümmelung ist zwar keine rein islamische Praxis. Auch unter Christen und Juden war und ist sie verbreitet. Doch heute ist die überwältigende Mehrzahl der Täter und Opfer islamisch. und der Koran wird fälschlicher Weise immer wieder als Legitimation hernagezogen.

Das Ziel des Grossmufti besteht offfenbar darin, im Gelehrtenkonsens die Frauenverstümmelung zur „Sünde“ zu erklären. Ein Bann der koranischen Legitimation einer menschenrechtsverletzenden Praxis wäre ein Druchbruch für Millionen Frauen. Und er wäre zugeich ein wichtiger Schritt der islamischen Selbstbesinnung. Die Stellung der Frau im Islam würde ganz neu zum Thema werden, wenn der Islam aus sich heraus die Kraft fände, den schlimmsten Exzess der Frauenfeindlichkeit als unislamisch zu brandmarken.

Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielt der deutsche „Zentralrat der Muslime“, der schon vor fünf Jahren mit Nehberg zusammen die Aussage erarbeitete:

„Weibliche Genitalverstümmelung ist mit dem Koran und der Ethik des Islam unvereinbar. Sie ist Gottesanmaßung und eine Diskriminierung des Islam.“

Täglich werden geschätzte 8000 Mädchen zum Opfer der archaischen Praxis. Weltweit leiden an die 150 Millionen Frauen unter den Folgen. Vor allem in den Ländern der Sahelzone ist der Brauch verbreitet. Klitorisbeschneidung ist eigentlich eine verharmlosende Bezeichnung für diese Praxis. Ohne Betäubung und oft von medizinischen Laien wird zumeist die Klitoris samt Schammlippen mit Rasiermessern entfernt.

Nicht nur der traumatische Raub der sexuellen Empfindungsfähigkeit ist die Folge, die Frauen leiden oft lebenslang unter Krankheiten und schmerzhaften Beschwerden.