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„In einem Jahr bin ich weg“ – eine Rundreise durch den europäischen Antisemitismus

Meine Reportage erscheint morgen auf Seite 3 der ZEIT (aus Anlass des Gedenktages zur Befreiung des KZ Auschwitz):

Amsterdam/Malmö/Budapest
Vor einiger Zeit hat Raphael Evers aufgehört, die Tram in seiner Heimatstadt Amsterdam zu benutzen. Auch auf den Markt geht er nicht mehr. Er ist ein sichtbarer Jude – ein Rabbiner mit Rauschebart, breitkrempigem Hut und einem schwarzen Anzug mit Frackschößen, der mittags in Sal Meijers Kosher Sandwichshop ein Broodje Meijer mit gepökeltem Rindfleisch und Senf isst und sich dabei die Sorgen älterer Gemeindemitglieder anhört. Das Lokal im Amsterdamer Süden ist ein sicherer Ort. Die Straßen sind es nicht mehr. »Ich werde beschimpft, manchmal sogar angespuckt. Für Juden wie mich gibt es No-­go-­Areas­ in dieser Stadt. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.«
Das »jüdisch-christliche Erbe« wird in Europa derzeit gern beschworen, um sich vom Islam abzugrenzen. Doch der Vereinnahmung der Juden zur Verteidigung des Abendlands widerspricht das prekäre Lebensgefühl vieler, die ihr Judentum offen leben. Zwar gibt es durch die Einwanderung aus dem Osten eine neue Blüte; erstmals nach dem Holocaust. Doch wer wissen will, wie es heute um das jüdische Leben in Europa steht, der stößt auf Beklommenheit, Verunsicherung und Angst – das zeigt sich auf einer Reise nach Amsterdam, Malmö und Budapest.
»Bewusste Juden«, so wurde am 5. Dezember der liberale Politiker Frits Bolkestein in der Zeitung De Pers zitiert, »müssen sich darüber klar werden, dass sie in den Niederlanden keine Zukunft haben.« Sie sollten mit ihren Kindern lieber nach Israel oder in die USA emigrieren. Der 77-jährige Bolkestein war Vorsitzender der regierenden liberalen Partei VVD und später EU-Kommissar. Bolkestein habe, so Evers, seine Landsleute warnen wollen. Aber die Grünen, die sonst gerne über Rassismus reden, kritisierten den Überbringer der schlechten Nachricht. Ihre Spitzenkandidatin Femke Halsema erklärte, Bolkestein müsse wohl den Verstand verloren haben. Für Rabbiner Evers sind solche Reaktionen Teil des Problems.
Er ist als Direktor des Rabbinerseminars das Gesicht des Judentums im Lande. Er ist ein lebensfroher Typ. Er will kein Opfer sein, und er muss seiner Gemeinde Zuversicht vermitteln. Leicht ist das nicht. Das Klima sei »nicht gut« für »offen lebende Juden«, sagt er: »Aber wir dürfen nicht fliehen. Damit würden wir ja den Antisemiten recht geben! Sprechen Sie mit meinem Sohn, der kann Ihnen mehr erzählen.«
Benzion Evers ist wie sein Vater in der Gemeinde tätig. Aber nicht mehr lange: »In einem Jahr bin ich weg. Ich beende noch mein Studium, dann gehe ich mit meiner Frau nach Israel. Mein Vater sagt das zwar nicht öffentlich, aber ich glaube, nach seiner Pensionierung geht er auch weg.« Der 22-jährige Benzion hat sich schon in der Pubertät darauf eingerichtet, dass man in der Stadt besser keine Kippa, sondern eine Baseballkappe trägt. Er hat gelernt, den arabischstämmigen Schülern, die ihn und seine jüdischen Freunde als »Kanker Joden« (Krebsjuden) mobben, aus dem Weg zu gehen. Und er hat sich damit abgefunden, dass er sich permanent für Israels Politik rechtfertigen muss: »Man kann so leben. Aber es nimmt einem die Luft zum Atmen, wenn man seine Religion und seine Identität verstecken muss. Unseren Kindern wollen wir das nicht zumuten.« Benzion betont, er fliehe nicht nach Israel. Fünf seiner neun Geschwister sind schon in Israel. »Vielleicht macht der Antisemitismus nur den kleineren Teil meiner Entscheidung aus«, sagt Benzion. »Aber als Holländer finde ich, in unserem Land sollte so etwas überhaupt keine Rolle spielen.«
Seine Großmutter, Bloeme Evers-Emden, geboren 1926, ist eine Auschwitz-Überlebende. Sie war auf dem gleichen Transport wie Anne Frank. Sie kam zurück und lebte als Zeitzeugin in Amsterdam. Heute unterstützt sie seine Entscheidung. Eine Million Besucher kamen letztes Jahr ins Anne Frank Haus und ließen sich vom Schicksal dieser Ikone des Leides unter den Nazis bewegen. Wozu dient die Vergangenheitsbewältigung, wenn zugleich die Familien von Überlebenden aus dem Land gegrault werden?
Wer Frits Bolkestein in seinem Büro mit Amstel-Blick aufsucht, findet einen weißhaarigen Herrn vor, der einen sehr klaren, wenn auch bedrückten Eindruck macht. »Wenn Orthodoxe hier in Amsterdam eine Bar-Mizwa feiern, brauchen sie Wachleute. Die jüdischen Gemeinden müssen bei uns für ihre Sicherheit selbst bezahlen, die Regierung und die Stadtverwaltung schauen weg. Und die Politik hat Angst, das Problem anzugehen.«
Der muslimische Antisemitismus ist ein unangenehmes Thema in den Einwanderungsgesellschaften Europas, deren politisches System von Rechtspopulisten bedroht wird. Geert Wilders hat gleich versucht, aus Bolkesteins Äußerungen Profit zu schlagen: Nicht die Juden, sondern die Marokkaner müssten gehen. Die Parteien der Mitte scheuen sich, das Thema aufzugreifen, weil es Wilders nutzen könnte.

Seit Jahren findet eine schleichende Verrohung des öffentlichen Raums statt: Weil Ajax Amsterdam als »jüdischer Club« gilt (im Vorstand und auch im Team gab es gelegentlich Juden), rufen die Fans des Konkurrenten Feyenoord Rotterdam von den Stadionrängen »Hamas, Hamas, Juden ins Gas!«. Erst seit sich ein paar Holocaust-Überleben­de darüber in Briefen an die Vereine beschwert haben, beginnt die Liga einzuschreiten.
Seit dem Gazakrieg nimmt der Antisemitismus zu. 2009 – im letzten erfassten Zeitraum – wurde eine Steigerung der judenfeindlichen Straftaten um 48 Prozent registriert. Im Januar 2009, während des israelischen Krieges gegen die Hamas in Gaza, wurden 98 Taten gezählt, neun gewalttätig. Anfang Januar 2011 wurden mitten in Amsterdam Werbeplakate für ein Anne-Frank-Theaterstück mit dem Wort »PaleSStina« überschmiert.
Trotz der Vergangenheit kommen immer mehr junge Israelis nach Europa – ausgerechnet Berlin ist in den letzten Jahren zum Lieblingsreiseziel aufgestiegen. Gleichzeitig entdecken junge Europäer ihr Judentum wieder. Aber viele Juden, besonders orthodoxe, leben wie Rabbiner Evers – vorsichtig, innerhalb selbst gezogener Grenzen. Es gibt einen antisemitischen Alltag, einen offenbar akzeptierten Normalpegel des Hasses – auch in Deutschland: Jahr für Jahr werden im Schnitt 50 jüdische Friedhöfe geschändet, statistisch also jede Woche einer. Es sind meist Juden, die sich um den Antisemitismus kümmern müssen. Auch darum hat sich eine Bedrücktheit über das jüdische Leben gelegt.
Die Frage, wie tolerant Europa ist – wie der Alte Kontinent mit religiöser Vielfalt umgeht –, ist zuletzt anhand von Kopftüchern, Minaretten und Burkas diskutiert worden. Die Offenheit für Muslime ist zu Recht zum Maßstab geworden für das multireligiöse Europa. Darüber droht aus dem Blick zu geraten, wie sich alte Vorurteile, eine neue Demografie und der ewige Nahostkonflikt zu einer giftigen Mischung verquirlen, die Juden das Leben schwer macht. Das multireligiöse Europa muss zeigen, dass die Lehren aus dem Holocaust für alle gelten, auch für die Einwanderer und ihre Kinder.
Eine treibende Kraft der letzten Welle antisemitischer Taten sind muslimische Jugendliche, die selber unter der Engherzigkeit der europäischen Gesellschaften leiden, wenn sie Symbole ihres Glaubens tragen. Zwar wäre es falsch, nur auf sie zu schauen: Ungarn hat nahezu keine Muslime und doch ein wachsendes Problem mit Judenhass. Hier hat nämlich – wie in Teilen Ostdeutschlands – der Rechtsradikalismus Wurzeln geschlagen und sich unter Ministerpräsident Viktor Orbán als normaler Teil des politischen Lebens etabliert. Das neue Phänomen des muslimischen Antisemitismus jedoch ist ein besonders heikles Thema für die Einwanderungsgesellschaften West- und Nordeuropas. Die Hassbekundungen einer kleinen Teilgruppe meist junger, männlicher Migranten muslimischer Herkunft gegenüber Juden gefährden den Religionsfrieden in einem zunehmend multireligiösen Europa.

Auch in Malmö stößt man auf das Wort Gaza, wenn man nach Erklärungen für die Ereignisse der vergangenen Jahre sucht. Aber was hat Fred Kahn, der Vorsitzende der kleinen Gemeinde von Südschweden mit ihren 800 Juden, mit dem Stück Land zu tun, in dem die Hamas regiert? Der freundliche Herr mit Glatze und Schnurrbart, ein pensionierter Professor für Biochemie und Mikrobiologie, ist Schwede durch und durch. Früher, sagt Kahn, war Judenhass ein Phänomen der südschwedischen Neonazi-Szene. Heute machten vor allem Jugendliche aus dem islamisch geprägten Einwanderermilieu Probleme. Fast ein Fünftel der Bevölkerung Malmös ist muslimisch. Fred Kahn betont mehrfach, dass »99 Prozent der Muslime absolut friedlich« seien. Es gebe exzellente Verbindungen zu islamischen Gemeinden. Der Zentralrat der Juden, betont er, habe sich seit Jahren gegen die in Schweden grassierende Islamophobie gewandt. »Wir wissen«, sagt Kahn, »dass es überall, wo gegen religiöse Minderheiten gehetzt wird, am Ende auch gegen die Juden geht. Wir sind gegen Kopftuch- und Minarettverbote und verteidigen jedermanns Religionsfreiheit.«
Die Frage ist allerdings, wer für die Freiheit der Juden einsteht, unbehelligt Zeichen ihrer Religion zu tragen wie die Kippa oder den Davidstern. Der Rabbiner der Gemeinde, ein Orthodoxer, wurde auf der Straße mehrfach schon als »Scheißjude« beschimpft, den man »leider vergessen habe zu vergasen«. Seit dem Gazakrieg, sagt Kahn, sei das Klima so feindselig geworden, dass die meisten die Kippa lieber zu Hause lassen. Es gab Brandanschläge auf eine Kapelle, Verwüstungen jüdischer Friedhöfe und Pöbeleien gegen die Teilnehmer eines jüdischen Kinder-Ferienlagers. Etwa 30 jüdische Familien, schätzt der Vorsitzende, hätten die Stadt bereits verlassen, seit die Angriffe zunehmen. Manche gingen nach Stockholm, wo es mehr jüdische Infrastruktur gebe, in der man sich sicher fühlen könne, manche auch nach England oder Israel.
Der sozialdemokratische Bürgermeister der Stadt, Ilmar Reepalu, hat lange geschwiegen. Nachdem Berichte lokaler Medien den Antisemitismus skandalisierten, gab er ein Interview, das in Fred Kahns Augen alles noch schlimmer machte. Reepalu forderte von Malmös Juden, »sich klar von den Menschenrechtsverletzungen des Staates Israel gegen die Zivilisten in Gaza zu distanzieren«. Diese Äußerung kommt einer symbolischen Ausbürgerung gleich. Eine Ungeheuerlichkeit: Müssen sich schwedische Juden von Israel distanzieren, um sich das Recht auf Unversehrtheit als Bürger zu verdienen? Der Bürgermeister aber setzte in einem späteren Interview noch nach: »Wir akzeptieren weder Zionismus noch Antisemitismus noch andere Formen ethnischer Diskriminierung.« Das ist eine subtile Version der Behauptung, der Zionismus sei eine Form des Rassismus wie der Antisemitismus. Ein linker Bürgermeister, der sich nicht vor seine jüdischen Bürger stellt und stattdessen den als »Antizionismus« posierenden Affekt gegen Juden auch noch füttert? »Wenn Juden aus der Stadt nach Israel auswandern wollen, hat das für Malmö keine Bedeutung«, sagte er. Reepalu ist weiter im Amt und wird von seiner Partei gestützt.
In Budapest kommen die Angriffe gegen Juden aus einer anderen politischen Richtung. Ungarn hat mit über 100 000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Osteuropas. Nach dem Kollaps des Kommunismus gab es ein wahres Revival jüdischen Lebens. Die größte und schönste Synagoge des Kontinents steht an der Dohany-Straße im Zentrum der Hauptstadt, und Péter Feldmájer, Vorsitzender des ungarischen Zentralrats, residiert in einem holzgetäfelten Büro an ihrer Rückseite. Seine Augen leuchten, wenn er von den Tausenden nichtjüdischen Gästen spricht, die jedes Jahr zum jüdischen Sommerfest kommen. Seine Synagoge ist eine der Hauptattraktionen für Touristen, seit sie aufwendig saniert wurde.
Leider hatten auch die Rechtsradikalen ein grandioses Revival in den letzten Jahren. »Unter dem Kommunismus«, so Feldmájer, »war das alles verboten. Da konnte man es nicht sehen, aber es war immer da. Heute ist es wieder völlig normal, jemanden in der Öffentlichkeit als ›verdammten Juden‹ zu beschimpfen – als hätte der Holocaust nie stattgefunden. Was übrigens viele aus dieser Szene behaupten.«

Kristof Domina, ein junger Politikwissenschaftler, hat soeben das Athena Institute gegründet, einen Thinktank, der sich mit der rechtsradikalen Szene Ungarns beschäftigt. Er hat eine interaktive Karte der hate groups veröffentlicht, darunter 13 aktive Neonazi-Gruppen. Die Internetplattform kuruc.info, die regelmäßig den Holocaust leugnet und zur Gewalt gegen Roma und Juden auffordert, hat nach Dominas Erkenntnissen täglich bis zu 100 000 Besucher – eine erschreckende Zahl in einem Land von 10 Millionen Einwohnern. Kristof ist einer der wenigen nichtjüdischen Kritiker des Antisemitismus im Land. Er hofft, dass Ungarns EU-Ratspräsidentschaft die Aufmerksamkeit für diese Entwicklungen erhöht. Péter Feldmájer wünscht sich eine klare Verurteilung des alltäglichen Antisemitismus durch die Regierung. Aber er glaubt wohl selbst nicht daran. Orbáns konservative Regierungspartei Fidesz zögert, die offen antisemitische Partei Jobbik seit deren Zwölf-Prozent-Wahlerfolg im vergangenen Jahr in die Schranken zu weisen.
Für junge Juden wie die Studenten Tamás Büchler und Anita Bartha, beide Anfang 20, ist es eine Last, sich mit überwunden geglaubten Stereotypen zu beschäftigen. Sie engagieren sich in jüdischen Gruppen – Tamás als Koordinator für die Jewish Agency, Anita für eine lokale Jugendgruppe namens Jachad. Sie suchen eine positive Identität, sie wollen weg von deprimierenden Themen wie Holocaust und Antisemitismus. Die offizielle Vertretung der Juden, finden sie, reite zu viel darauf herum. Sie gehören zu der Ge­ne­ra­tion, die nach dem Kommunismus in Freiheit das Judentum wiederentdecken konnten, das ihre Eltern oft verheimlichen mussten. Die beiden tun die ungarischen Nazis als hässliche Folklore ab. Sie weigern sich, ihr Judentum von außen festlegen zu lassen und ihr Leben in Angst zu verbringen.
Vielleicht sind die Nazis mit ihren Pfeilkreuzen und Árpád-Bannern gar nicht das größte Problem. Anita berichtet von einer Untersuchung, nach der 40 Prozent der Geschichtsstudenten an ihrer Uni antisemitische Klischees vertreten. Tamás geht mit einem Aufklärungsprojekt in Schulklassen und muss immer wieder erleben, dass die Kinder darüber erstaunt sind, dass er keine große Nase hat. Er lacht, aber es klingt ein bisschen bitter. Wenn man die beiden fragt, wo sie ihre Zukunft sehen, lautet die trotzig-stolze Antwort: »Wir müssen nicht hier bleiben, anders als unsere Eltern unter dem Kommunismus.«
Aber zu gehen käme ihnen vor wie Verrat oder Niederlage. Entschieden haben sie noch nichts. Aber es ist beruhigend, die Option zum Gehen oder Bleiben zu haben: »Ich liebe diese Stadt wie verrückt«, sagt Anita. »Es ist die beste Stadt der Welt.«

 

Haben Juden in Europa eine Zukunft?

Ich war in den letzten zwei Wochen in Malmö, Amsterdam, Budapest und wieder in Amsterdam, um mir ein Bild von den Schwierigkeiten der jüdischen Gemeinden mit einem neuen (?) Antisemitismus zu machen. Ich habe mit Rabbinern, Gemeindevorständen, gewöhnlichen Juden (fromm, säkular, orthodox, liberal) und auch mit aktiven Gemeindemitgliedern gesprochen.

Und das vorläufige Ergebnis ist: nicht gut. Der Sohn des bekanntesten Amsterdamer Rabbiners sagt mir, dass er in einem Jahr emigriert, wenn sein Studium fertig ist. In Budapest traf ich zwei betont weltgewandte, moderne ungarische Juden, die sich erst gegen den Holocaust- und Opferdiskurs der etablierten Gemeinde verwahren. Und dann, nach ihrer Zukunft befragt, sagen sie: Wahrscheinlich nicht in Budapest, obwohl sie diese Stadt „wie verrückt lieben“. Sie müssen sich permanent für ihr Judentum rechtfertigen, und für Israel. Der Sohn des Rabbiners sagt, er selber komme schon damit klar, man trägt halt Baseballkappe statt Kippa in bestimmten Vierteln. Aber seinen Kindern will er das nicht zumuten.

In Malmö ist die Lage so, dass vor allem junge Paare mit Kindern wegziehen. Erkennbare Juden werden beschimpft und bespuckt. Der sozialdemokratische Bürgermeister hat der Gemeinde zynischer Weise geraten, sie solle sich vom Gaza-Krieg Isarels distanzieren, dann werde die Lage schon besser werden. Schwedische Juden werden also als Agenten und Repräsentanten einer fremden Regierung behandelt – von einem schwedischen Bürgermeister (eine Art geistige Ausbürgerung).

Ein Großteil des neuen Antisemitismus kommt von muslimisch geprägten Einwanderern und ihren Kindern. In Amsterdam sind es vor allem marokkanischstämmige Jungs, in Malmö Somalier. Aber das ist nur eine Facette. Die islamisch/islamistische Judenfeindschaft tritt neben den linken Antiisraeldiskurs (mit dem sie sich teils vermischt). In Ungarn hingegen lebt der „klassische“ faschistische Antisemitismus wieder auf. Dort sind Rechtsradikale die Hauptquelle, wie auch im deutschen Osten.

Die Regierungen tun nichts oder zu wenig. Gestern war ich in Amsterdam bei Frits Bolkestein, dem ehemaligen EU-Komissar und zuvor Vorsitzenden der liberalen VVD. Er hat mit seiner Äußerung, Juden hätten in den Niederlanden keine Zukunft, wenn sie als solche erkennbar leben wollten, die jüngste Debatte ausgelöst. Bolkestein ist hoch beunruhigt und beschämt über diese Entwicklung in seinem Land. Er hat den Krieg in Amsterdam erlebt und weist daraufhin, dass die Holländer schon unter den Nazis gut im „wegkijken“ (wegschauen) waren. Er sieht heute (ohne die Situation gleichsetzen zu wollen) eine ähnliche Haltung am Werk, wenn im Stadion gegen die Spieler von Ajax Amsterdam gilt als „jüdischer“ Verein) gehetzt wird mit Sprüchen wie „Hamas, Hamas, die Juden ins Gas“.

Die Frage ist, ob sich nicht gerade ganz Europa im „wegkijken“ übt. Über die möglichen Folgen davon schreibe ich für die nächste Nummer einen ausführlichen Bericht.

 

Mappus gegen Minarettverbot

Interessantes Interview mit Stefan Mappus in der ZEIT (Printausgabe) von heute, am Ende geht um die Frage von bundesweiten Volksentscheiden:

Mappus: (…) bin ich nicht so sicher, ob es gut wäre, wenn wird drei Mal im Jahr einen bundesweiten Wahlkampf hätten, der in einem Volksentscheid mündet. Wenn Sie in die Schweiz schauen, sehen Sie, was dagegen spricht.

ZEIT: Nämlich was?

Mappus: Ich würde in Deutschland keine Volksentscheide darüber abhalten wollen, ob man Minarette bauen darf, weil ich mir relativ sicher bin, was dabei rauskäme, und weil ich mir absolut sicher bin, dass das nicht das Richtige wäre.

ZEIT: Sie wären gegen Minarettverbote?

Mappus: Minarette zu verbieten, halte ich nicht für korrekt. Wenn ich für Religionsfreiheit eintrete, und das tue ich aus absoluter Überzeugung, dann muss das für alle Gotteshäuser gelten.

 

Warum mich der Dioxin-Skandal anwidert

Jeden Morgen höre ich, wenn ich mir gerade meine leckeren Frühstückseier zubereite, Neues vom „Dioxin-Skandal“ im Radio. Ich muss sagen, als Überlebender des Rinderwahnsinns von vor genau zehn Jahren lege ich eine gewisse Abgebrühtheit an den Tag. Ich habe wahrlich keine große Sympathie für Ministerin Aigner. Aber die hyperventilierende Weise, in der sich manche Kollegen da jetzt über ihr Wirken beugen, hat etwas schwer Verständliches. In der Bundespressekonferenz wurden gestern Dutzende Fragen gestellt zu dem wirklich nicht weltbewegenden Komplex Aigner-McAllister etc., die Revolution in Tunesien wurde mit einer einzigen Frage bedacht („Sind noch deutsche Touristen im Land?“).

Der Überdruss an an dem Pseudoskandal über das (bislang gesundheitlich unbedenkliche) Dioxin bringt mich auf einen Artikel, den ich vor genau zehn Jahren anlässlich des Rinderwahnsinns geschrieben habe. Ich habe ihn wiedergelesen und muss zu meiner Freude feststellen, dass nichts davon überholt ist.

Der Verbraucher ist eine mächtige, aber sehr zweifelhafte Größe der Politik.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Abgebrüht bin ich, was die Erregung über die überschrittenen Grenzwerte angeht. Nicht, was das Los der Tiere angeht. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Bei uns wurde noch zu Hause geschlachtet. Ich habe  keine Schwierigkeiten, meine selbst gefangenen Fische eigenhändig zu schlachten und auszunehmen. Aber: Hunderte Schweine und tausende Hühner werden in Niedersachsen getötet, weil irgendjemand herumgesudelt hat und wir uns jetzt zu fein sind, die zu essen?

Das ist ein Skandal.

Wie dem auch sei. Hier ein Auszug aus meinem Text von 2001:

Der „kritische Verbraucher“, mit dem Frau Künast es zu tun haben wird, ist freilich bei genauerem Hinsehen eine ziemlich ambivalente Figur. Man sollte sich hüten, seine neue Allgegenwart zu einem radikaldemokratischen Durchbruch zu verklären. Jedermann kann von seinen eigenen Konsumentscheidungen wissen, dass die Vorstellung, der Verbraucher sei ein rational handelnder, frei wählender Souverän, der zur Ausübung seiner weisen Macht nur noch mehr „umfassende Information“ (Künast) brauche, eine Schimäre ist. Wer das heutige massenhafte Zurückschrecken vor Rindfleisch von diesem Blickwinkel aus zu erklären versucht, muss bei groben Vereinfachungen enden. Der Verbraucher mit seinen Ängsten und Leidenschaften taugt einfach nicht als Ersatz für die geheimnisvoll alles ordnende invisible hand von Adam Smith. Das derzeitige Konsumentenverhalten sollte vielmehr zum Anlass genommen werden, sich über die ungeheure politische Macht des Ekels als eines politisch-moralischen Gefühls Rechenschaft zu geben. Statt haltloser Umdeutungen solchen Verhaltens zum weisen Richterspruch des ideellen Gesamtkonsumenten brauchen wir ein besseres Verständnis der medial verstärkten Kraft der moral sentiments.

Der Verbraucher lebt heute einerseits im steten Verdacht, falsch informiert, betrogen, verstrahlt und vergiftet zu werden. Zugleich aber kultiviert er eine schnäppchenjägerische Schlaumeierei, einen erstaunlichen Sportsgeist im Aufstöbern von Sonderangeboten und Rabatten. Seine Welt ist durchzogen von steter Angstlust, die ja schon das durchdringende Aroma emblematischer Verbrauchersendungen wie Der siebte Sinn oder Nepper, Schlepper, Bauernfänger abgab. Der Verbraucher, der sich eben noch als Schlitzohr gefühlt hat, weil er zum billigsten Mobilfunkanbieter gewechselt ist, wird gleich darauf von der Paranoia vor den womöglich Krebs erzeugenden Strahlen verschlungen, die sein niedliches kleines Gerät auf ihn abstrahlt. Er lebt in einem manisch-depressiven Auf und Ab zwischen ungetrübten Freuden, wie sie bei der Anwendung „tausend ganz legaler Steuertricks“ entstehen, und der bleiernen Niedergeschlagenheit, die einen bei der Lektüre des Verbraucherbestsellers Bittere Pillen überfallen muss. Symptomatisch für den Geisteszustand dieses hypermoralischen Absahners ist die Website www.geizkragen.de, „die Pflichtseite für alle Knauser“, in deren „Geiz-Chat“-Forum sich schon über 240 000 Mitglieder im Schnorren und Abstauben fortbilden. Zum Ausgleich für die hässlichen Regungen wird auf der gleichen Site zur Teilnahme an der Aktion Klares Wasser für Äthiopien aufgerufen.

Das eigentlich Niederschmetternde an der zwischen schlechtem Gewissen und Durchstecherei schillernden Verbrauchersubkultur ist aber ihre durchdringende Freudlosigkeit. Die Werbung hat sich längst auf solche Kundschaft eingestellt: „Ich bin doch nicht blöd“ – so antizipiert ein großer Elektronikmarkt in knalligen Anzeigen den Verdacht des Kunden, man wolle ihn hier wie überall doch bloß für dumm verkaufen. Ist es nicht ein sozialpsychologisches Alarmsignal, dass der Hauptanbieter von Geräten, die allein der Unterhaltung und dem Lebensgenuss dienen, von den angenehmen Seiten seiner Produkte lieber schweigt? Der angeblich souveräne Konsument kann einem leid tun: Jeder scheint seine Schwächen zu kennen. Der Teppich versichert ihm unaufgefordert, nicht von Kinderhand geknüpft worden zu sein.

Und die Margarine, das Vitaminbonbon, ja selbst noch das Klopapier wollen ihn bei der Moral packen: „Du darfst“, „Nimm zwei“, „Danke!“

Nun also kümmert sich auch noch ein Ministerium um ihn, und bald schon soll es dazu ein fürstlich ausgestattetes Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geben. Auch die Stiftung Warentest wird mehr Geld bekommen. Anstelle eines auf Produzenten orientierten Amtes tritt nun wenigstens dem Namen nach ein Konsumentenministerium. Es ist nur konsequent, dass das Haus aus den Händen der Produzentenpartei SPD in die Hände der Grünen übergegangen ist. Die Grünen sind ja, auch wenn sie es lange nicht wahrhaben wollten, eine Verbraucherpartei, die zwar allerlei Themen im Angebot hat, aber eigentlich doch auf der Welle der Konsumentenängste mehrheits- und regierungsfähig geworden ist. Das Ziel des Hauses ist, wie könnte es anders sein, noch mehr Information, noch mehr Aufklärung und dadurch am Ende mehr „Wahlfreiheit“. Die alte Ideologie des souveränen Konsumenten wird in den Programmen hochgehalten, aber dass man dann doch den Verbraucher schon in der Namensgebung des neuen Hauses als schutzbefohlenes Mündel des Staates definiert hat, stimmt eher pessimistisch.

Es ist ein ehrenwertes Ziel, Schaden vom Verbraucher abwenden zu wollen, der ihm durch Rindfleisch, unseriöse Makler oder Elektrosmog entstehen mag. Aber selbst wenn dies gelingen sollte, bleibt eine Frage, die kein Ministerium beantworten kann: Wer schützt den Verbraucher vor sich selbst, vor den Schäden, die seinem Ekel, seinen Vergiftungsängsten und seiner Pfennigfuchserei entspringen?

 

100.000 Kommentare

Pling! Heute wurde der hunderttausendste Kommentar auf diesem Blog gepostet. Das macht bei 1572 Artikeln im Schnitt 63 pro Blogpost. Und das ist eine Menge. Die Hälfte wäre auch schon viel. Dafür habe ich zu danken, selbst wenn der Umgangston oft zu wünschen übrig lässt, was offenbar bei der hier vertretenen Themenpalette unvermeidlich ist.

Und damit möchte ich auch zugleich ankündigen, dass ich gegenüber bloßem Geschimpfe und wilder Polemik künftig strenger sein werde als manchmal in der Vergangenheit. Ich werde öfter löschen und eingreifen – und hoffe dennoch auf weiterhin rege Beteiligung. Oft genug leide ich unter den Debatten hier – und dann wieder lerne ich eine Menge. Also: lotta continua.

p.s. Ach ja, der hunderttausendste Kommentator – wir ermitteln ihn gerade noch – erhält in Kürze ein Moped der Marke Zündapp, das im Rahmen des „Armando Rodrigues Gedächtnis-Preises“ vergeben wird.

 

Erdogan: Wir warten nicht ewig auf Europa

Der türkische Premier schlägt in Newsweek einen forschen Ton gegenüber Europa an: Ihr braucht uns mehr als wir euch!

Our European friends should realize that Turkey-EU relations are fast approaching a turning point. In the recent waves of enlargement, the EU smoothly welcomed relatively small countries and weak economies in order to boost their economic growth, consolidate their democracies, and provide them with shelter. Not letting them in would have meant leaving those countries at the mercy of political turmoil that might emerge in the region. No such consideration has ever been extended to Turkey. Unlike those states, Turkey is a regional player, an international actor with an expanding range of soft power and a resilient, sizable economy. And yet, the fact that it can withstand being rebuffed should not become reason for Turkey’s exclusion. Sometimes I wonder if Turkey’s power is an impediment to its accession to the Union. If so, one has to question Europe’s strategic calculations.

It’s been more than half a century since Turkey first knocked at Europe’s door. In the past, Turkey’s EU vocation was purely economic. The Turkey of today is different. We are no more a country that would wait at the EU’s door like a docile supplicant.

 

Tunesien: Blamage der europäischen Realpolitik

Die französische (und damit die europäische) Außenpolitik steht angesichts der tunesischen Revolution plötzlich in kurzen Hosen da.  Noch vor einer Woche hatte die Außenministerin Michèle Alliot-Marie den Aufstand gegen den Diktator Ben Ali als Problem mangelnder Professionalität der tunesischen Sicherheitskräfte behandelt. Von Demokratie ist trotz wochenlanger Proteste erst die Rede, seit der Diktator verjagt wurde. Le Monde schreibt, dass die französische Regierung noch am letzten Dienstag, nachdem das Regime in Tunis bereits zugibt, 21 Menschen bei Demonstrationen getötet zu haben, eine Polizeikooperation vorschlägt. Das ist ein Tiefpunkt der europäischen Diplomatie.

Mardi 11 janvier, tandis que la contestation gagne Tunis, des propos tenus par la ministre des affaires étrangères française, Michèle Alliot-Marie, devant l’Assemblée nationale, à Paris, suscitent une certaine consternation, y compris à l’intérieur du Quai d’Orsay. Le gouvernement tunisien vient d’établir un bilan de 21 civils tués par balles depuis le début des troubles, et Mme Alliot-Marie propose… une coopération policière.

La France veut faire bénéficier la Tunisie du „savoir-faire de (ses) forces de sécurité“, afin de „régler des situations sécuritaires de ce type“, explique la ministre, afin que „le droit de manifester soit assuré, de même que la sécurité“. L‘„apaisement peut reposer sur des techniques de maintien de l’ordre“, estime Mme Alliot-Marie.

La crise semble ainsi ramenée à un problème de professionnalisme des forces de l’ordre tunisiennes, auquel viennent s’ajouter les difficultés économiques.

Und wenige Tage später sieht das nun natürlich sehr peinlich aus. Während der iranischen Proteste nach den „Wahlen“ im letzten Jahr hatten die Franzosen die anderen Europäer noch angetrieben, deutlich Stellung zu beziehen. Doch wenn es um den Freund jenseits des Mittelmeers geht, erlischt der demokratische Furor.

Angst vor dem militanten Islamismus kann im Fall Tunesiens kaum geltend gemacht werden. Die ohnehin schwachen tunesischen Islamisten spielen keine nennenswerte Rolle. Doch viele Jahre lang hat man das Spiel von Ben Ali mitgespielt, der sich – wie seine Kollegen in Algerien, Ägypten und Libyen – gerne als Garant säkularer Ordnung inszenierte.

Auf Facebook ist der Bena Ali Wall of Shame entstanden, in dem immer weitere Zeugnisse (vor allem) französischer Geschmeidigkeit vorgeführt werden. In einem Blog auf lemonde.fr sind einige der peinlichsten Momente der französischen Tunesiendiplomatie aufgeführt, darunter zum Beispiel dieser Auftritt von Präsident Sarkozy in Tunis, wo man ihm den Goldenen Schlüssel der Stadt überreichte.

Nach der zweiten Minute spricht Sarkozy
sur l’islam en Tunisie, tolérant et ouvert, “qu’on aimerait voir dans tant d’autres pays”. “Il m’arrive de penser que certains des observateurs sont bien sévères avec la Tunisie, qui développe sur tant de points l’ouverture et la tolérance. Qu’il y ait des progrès à faire, mon Dieu, j’en suis conscient pour la France… et certainement aussi pour la Tunisie”, conclut le chef de l’Etat, avant de vanter le dynamisme de l’économie tunisienne.

Niemand weiß heute, was sich in Tunesien entwickeln wird. Nach einer islamistischen Revolution sieht es nicht aus. Nach einer Militärdiktatur bisher auch nicht. Bis auf die Ausnahme der Türkei waren das bisher die beiden denkbaren Formen des Wandels in der islamischen Welt.
Ob sich tatsächlich etwas Drittes entwickelt?
Immerhin: Die Politik der „Stabilität“ und des status quo, für die in diesem Fall vor allem die Franzosen stehen, ist blamiert.

 

Warum Scharia und Islamismus nicht dasselbe sind

Reuel Marc Gerecht, einer der prominentesten neokonservativen intellektuellen in der außenpolitischen Debatte der USA, plädiert für ein diffenrenziertes Verständnis der Scharia. Der ehemalige CIA-Mitarbeiter (Spezialität Iran) glaubt, dass die Gläubigen im Kampf gegen den Dschihadismus eine entscheidende Rolle spielen:

„Wenn also Europäer oder Amerikaner in bester Absicht suggerieren, die Scharia sei das Fundament des radikalen Islamismus, dann signalisieren sie automatisch allen, auch den säkularisierten Muslimen, dass der Westen sie für irgendwie gestört hält und dass die einzig akzeptable Alternative eine Abkehr vom Glauben sei. Gläubige oder nur traditionelle Muslime sollen zu Spiegelbildern der areligiösen Westler werden. Ein wie auch immer gearteter Stolz, den Muslime auf ihre religiösen Gesetze hegen, wird von solchen Pauschalisierungen achtlos verletzt.

Eine solche Pauschalverurteilung der Scharia führt auch dazu, dass einer der meistverehrten schiitischen Vordenker der islamischen Welt, der irakische Großayatollah Ali Sistani, als bigotter Unterstützer des islamistischen Terrorismus verstanden wird, obgleich er sich unbeirrbar und mit größtem Engagement dafür einsetzt, dass der Irak nicht vollends in mörderischem Chaos versinkt. Das Gleiche gilt für den 2009 verstorbenen Großayatollah Ali Montazeri: Er war spiritueller Anführer der Grünen Bewegung im Iran und Nemesis des obersten iranischen Rechtsgelehrten Ali Khamenei, der wiederum selbst nur ein ziemlich mittelmäßiger Kenner der Scharia ist.

Es stimmt, dass die Scharia in ihrer konkreten Anwendung oft als Instrument hässlichster Unterdrückung vor allem von Frauen missbraucht wird. Der Westen und vor allem die Europäer haben vollkommen Recht, wenn sie sich gegen den Import von Scharia-Gesetzen in ihre Gesellschaften wehren. Grundsätzlich können wir nur hoffen, dass die progressiven muslimischen Rechtsgelehrten, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert erlebten, wieder an Einfluss gewinnen. Doch wir sollten nicht den intellektuellen und historischen Fehler begehen, selbst die unbeugsamsten Vertreter einer konservativen islamischen Geistlichkeit als Handlanger des islamistischen Terrorismus abzustempeln. Das Phänomen des islamistischen Terrorismus wird wohl am ehesten dann verschwinden, wenn eine muslimische Geistlichkeit endlich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass die Ablehnung westlicher Werte und eines westlichen „Kulturimperialismus“ keine Gewalt rechtfertigt.

(…)

Dass wir die innere Zerrissenheit des Islams missverstehen und fälschlicherweise in der Scharia und ihren Hütern unsere ärgsten Feinde sehen, ist nicht einmal der größte Fehler einiger Rechtskonservativer. Viele von ihnen – aber auch viele Liberale – verkennen die ungebrochene Dominanz der westlichen, vor allem der amerikanischen Kultur in der muslimischen Welt. Vom Untergang der USA zu sprechen mag zwar derzeit im Westen ganz im Trend liegen. Doch die Methoden von Osama Bin Laden und seinen Anhängern zeigen doch gerade, dass wir, also der Westen, den Kampf um die Menschen in der muslimischen Welt noch nicht verloren haben. Für Muslime, die das Weltgeschehen per Fernsehen oder Internet verfolgen, verkörpern wir immer noch gleichzeitig Hoffnung und Hölle. Khomenei drückte es einmal so aus: Der Westen sei der große Satan, weil er gute muslimische Männer und vor allem Frauen verführe und vom tugendhaften Pfad abbringe.

Die iranischen Nuklearambitionen und das entschlossene Missionieren der Muslimbruderschaft im Nahen Osten und in den muslimischen Einwanderergesellschaften im Westen sind ein Versuch, der „Verführung durch den Westen“ etwas entgegenzusetzen. Doch die traumatische Verwestlichung des Islams hält an. Sie hat die islamische Revolution im Iran und Osama Bin Laden hervorgebracht. Aber sie hat auch, und zwar mit voller Wucht, den Wunsch der Muslime – und auch hier: vor allem der muslimischen Frauen – nach Demokratie und Wohlstand geweckt. Es besteht also Hoffnung, dass die Übergangsphase des Islams weniger blutig ausfällt als unsere eigene, auch wenn wir mit dem Schlimmsten rechnen sollten.

Wir sollten keine Feinde dort sehen, wo keine sind. Das Heilige Gesetz des Islams ist und war schon immer das, was Muslime daraus machen. In der fundamentalen innerislamischen Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Moderne wäre es töricht, die Geistlichen zur Bedrohung zu erklären. Sie werden, wie sie es immer getan haben, den Weg einschlagen, den sich der Großteil der Muslime wünscht. Der Westen und die Muslime mögen zwar (noch) nicht unbedingt viele Wertvorstellungen teilen. Aber sie teilen ausreichend viele, um auf eine gewalttätige Auseinandersetzung verzichten zu können und eine vielleicht von Misstrauen gekennzeichnete, oft angespannte, aber insgesamt friedliche Koexistenz aufrechtzuerhalten.“

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In eigener Sache

Ich bin derzeit viel unterwegs, um über den Antisemitismus zu recherchieren, der jüdischen Gemeinden überall in Europa – zum Beispiel in Malmö, Amsterdam und Budapest zu schaffen macht. Zum Bloggen komme ich da kaum. Demnächst mehr von den interessanten, teils auch ziemlich erschütternden Begegnungen auf diesen Reisen.

In der Zwischenzeit sei auf zwei englischsprachige Veröffentlichungen meiner Sachen verwiesen, die recht frisch sind. Reset (das italienische Magazin) hat meinen Kommentar zu dem Massaker an Kopten gebracht. Und die englischsprachige Version der „Internationalen Politik“ hat einen Blogbeitrag (extended und remixed) für druckwürdig befunden (hier online).

 

Die vierte Mutation des Antisemitismus

Nicht nur das iranische Fernsehen verbreitet das Gerücht, dass die Juden hinter dem Mord von Alexandria stecken. In ganz alltäglichen Facebook-Debatten trifft man auf Menschen, die eben noch völlig normal schienen und plötzlich anfangen, herzumzuspekulieren, „wem denn bitte schön dieser Anschlag nützt“. Antwort, für diese Sorte Leute offensichtlich: Israel! (Ich habe erstmals jemanden auf Facebook entfreundet, weil er mit solchem Irrsinn kam…)

Aus diesem Anlass empfehle ich eine Rede des britischen Oberrabiners Lord Jonathan Sacks vom letzten Sommer, in der Rabbi Sacks über die vier Mutationen des Judenhasses spricht. Wenn manche Leute von einer Debatte über ein mutmassliches Al-Kaida-Attentat in Alexandria in zwei, drei Schritten schnurstracks bei Israel landen, dann ist offensichtlich, wie aktuelle die Überlegungen zur neuen Mutation des antiisraelisch/antizionistisch drapierten Antisemitismus sind:

We are living through the fourth mutation. It differs from the others in various respects. Number one: the new antisemitism, unlike the old, is not directed against Jews as individuals. It is directed at Jews as a nation with their own state. It is directed primarily against the state of Israel, but it gets all Jews as presumptively Zionist, hence imperialistic, and usurpers and all the rest of it. And all the medieval myths have been recycled; it was Jews who were responsible for 9/11, it was Israel who was responsible for the tsunami, with nuclear underwater testing by Israel. What, you didn’t know this? I always wonder, have they blamed us for the oil spill yet? Just wait, be patient; they’re working on it. So that is the first characteristic which didn’t exist before, because Jews, as a nation state in their own land, didn’t exist before. In other words we have at least 82 Christian nations as part of the United Nations, there are 56 Islamic states, there is only one Jewish state but that, for many people, is one too many. It is far too big – what do the Jews need all that land for? There’s a lovely park in South Africa, with all the lions and giraffes, called Kruger National Park, it’s a really lovely park. The state of Israel is smaller than the Kruger National Park, but it’s too big. So we now have this new form of anti-Zionism about which I think the sharpest comment was made by Amos Oz; he said that in the 1930s, antisemites stood up and sent Jews to Palestine. Today they stand up and say ‘Jews out of Palestine’. They don’t want us to be here, they don’t want us to be there, they don’t want us to be. That is the first difference.

Jonathan Sacks
The second difference is that whereas other forms of antisemitism, especially racial anti-semitism, were carried by national cultures so that you could ask at the time of the Dreyfus trial, is France an antisemitic country? You could ask, is Germany, is Austria, is Italy, is Britain an antisemitic country? In those days, antisemitism was carried by national cultures and so there were some antisemitic nations and there were nations that were distinctly not. But today there is no such thing as a national culture. Today antisemitism, hate and paranoia in general, but antisemitism specifically is carried by the new global media which are extremely focused and extremely targeted so that you can get major incidents of antisemitism in a country that is not antisemitic at all. If we take a slightly different look at it, the suicide bombers of 7/7 were, after all, born in Britain; they lived in Britain, they were educated in Britain, their own friends and neighbours thought that they were perfectly nice people. They didn’t know until after 7/7 and after those video testimonies were shown what deep hatred they had conceived of Britain. So it is very hard to identify and it’s very easy to become very paranoid. America thinks this about Britain: that Britain is an antisemitic country. They don’t realise that there is no such thing any more as antisemitism as a phenomenon of national cultures unless politician decides to make that part of the public discourse of politics. When that happens, as has happened very recently in the case of Turkey, we’re in a very dangerous situation. But the new antisemitism, by and large, is not conveyed like the old.
And finally the legitimisation of it. We often fail to realise that it is not easy to justify hating people, it really isn’t. It is very easy to move people to hate but it is very hard to make them feel that they are justified in hating. And therefore antisemitism has always had to be legitimated by the supreme source of moral authority in a culture at any given time. And what was the supreme source of moral authority in Europe in the Middle Ages? The church, religion. And therefore antisemitism in the Middle Ages was religious. You could not justify hatred on religious grounds in the post-Enlightenment emancipated Europe of the 19th century.
What was the highest authority in Europe in the 19th century? The answer was science. Science was the new glittering paradigm and therefore you will find that 19th century and early 20th century antisemitism was legitimated by two, what we now know to be, pseudo-sciences. Number one: the so-called scientific study of race and number two: the so-called science known as social Darwinism. The idea that, just as in nature, so in society, the strong survive by eliminating the weak.
Today science is no longer the highest authority because, although it has given us unprecedented powers, among those powers is the power to destroy life on earth. So what is the supreme moral authority today? The supreme moral authority since the Holocaust, since the United Nations Universal Declaration in 1948, is human rights. Therefore, if you are going to justify antisemitism, it will have to be by reference to human rights. And that is why in 2001 at Durban, Israel was accused by the human rights NGOs of the five cardinal sins against human rights: racism, ethnic cleansing, apartheid, attempted genocide and crimes against humanity. And those are the three things that make the new antisemitism different from the old.

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