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Deutsche Muslime verurteilen Massaker an Christen

Es treffen auch Tage nach dem Anschlag von Alexandria immer noch neue Bekundungen des Abscheus von muslimischer Seite ein.  Ein paar Kernaussagen seien hier zusammengestellt (nur deutsche Quellen):

Der Koordinationsrat der Muslime schrieb am Samstag auf seiner Website:

Der Koordinationsrat der Muslime verurteilt diesen feigen und schrecklichen Anschlag auf das Schärfste. Der Sprecher des KRM Erol Pürlü äußerte sich bestürzt: „Wir verurteilen diesen schrecklichen und unmenschlichen Anschlag auf das Schärfste. Wer Menschen so hinterhältig und grausam Schaden zufügt und ermordet, kann sich auf keine Religion oder eine andere Weltanschauung berufen. Der Koran fordert den Schutz des Lebens und den Schutz von Gotteshäusern.“
Sure 22, 40: „Und wenn Allah nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt hätte, so wären fürwahr Mönchsklausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen zerstört worden, in denen Allahs Name häufig genannt wird.“

Der „Liberal-Islamische Bund“ schreibt:

Der Liberal-Islamische Bund verurteilt diesen heimtückischen Angriff auf das Schärfste. Dabei sehen wir uns an der Seite vieler Musliminnen und Muslime in Deutschland und in aller Welt. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Möge Gott ihnen allen die Kraft und Stärke geben, die nötig ist, um das Erlebte zu ertragen. Wir trauern in der Hoffnung, dass sich alsbald niemand mehr finden wird, dieses blutige Werk fortzuführen.

Im Internet kursieren Bekennerschreiben von al-Qaida nahen Gruppierungen. Sollten die Täter ihre mörderischen Pläne unter Berufung auf den Islam durchgeführt haben, so möchten wir hier klarstellen, dass es dafür keine theologische Rechtfertigung gibt. Der schreckliche Anschlag ist die Tat von feigen Fanatikern, die den rechten Weg längst verlassen haben.

Es liegt an uns allen, unmissverständlich klarzustellen, dass niemand im Auftrag Gottes handeln kann, wenn er andere Menschen ermordet. Es liegt an uns allen, solche Verbrechen beim Namen zu nennen und die Täter aus unserer Gemeinschaft auszuschließen. Es liegt an uns allen, den Tätern deutlich zu machen, dass sie keine Sympathie und keine Solidarität für ihr Handeln erfahren werden.

Die Antwort auf den Terror und auf das Schüren von religiösem Hass kann jetzt nur sein, dass sich Christen und Muslime gemeinsam wehren und sich nicht spalten lassen. Wir appellieren an die ägyptische Regierung, ernsthafte Schritte zu unternehmen, um die strukturelle Diskriminierung von Kopten und anderen religiösen Minderheiten in ihrem Land zu überwinden.

Das „Forum für Interkulturellen Dialog e.V.„, das dem türkischen Prediger Fethullah Gülen nahesteht,

„verurteilt den Bombenanschlag von Alexandria auf das schärfste. Es gibt keine im Islam begründete, theologische Rechtfertigung für eine solche Tat. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen.
Fethullah Gülen zu Terror im Islam:

Muslime sollten sagen: „Im wahren Islam gibt es keinen Terror.“ Niemand darf einen Menschen töten. Niemand darf einen Unschuldigen töten, selbst im Krieg ist das verboten. Niemandem steht es zu, zu diesem Thema ein Urteil zu erstellen. Niemand darf sich als Selbstmordattentäter betätigen. Niemandem ist es erlaubt, mit Bomben am Körper in eine Menschenmenge zu stürmen. Völlig unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Menschen in jener Menge verbietet dies die Religion. Selbst im Kriegsfall ist das nicht erlaubt. Der Islam ist eine gerechte Religion, die auch richtig gelebt werden sollte. Es wäre definitiv falsch, auf dem Weg zum Islam von sinnlosen Ausreden Gebrauch zu machen. Wenn das Ziel, das man verfolgt, ein gerechtes Ziel ist, dann sollten auch die Mittel zur Erreichung dieses Ziels gerecht sein. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann niemand dadurch ins Paradies eingehen, dass er einen anderen tötet. Kein Muslim kann sagen: „Ich werde einen Menschen töten und dann ins Paradies eingehen.“ Die Akzeptanz des Willens Gottes verdient man sich nicht dadurch, dass man andere Menschen tötet. Ein wahrer Muslim, der den Islam in all seinen Aspekten versteht, kann kein Terrorist sein. Jemand, der sich an terroristischen Aktivitäten beteiligt hat, kann kaum ein Muslim bleiben. Die Religion billigt es nicht, einen Menschen zu töten, um ein Ziel zu erreichen.

Der Penzberger Imam Benjamin Idriz schreibt zum gleichen Thema:

Als Imam und Vorsitzender des „Zentrums für Islam in Europa – München (ZIE-M)“ habe ich immer und immer wieder bekräftigt,
– dass Terror durch nichts auf der Welt zu rechtfertigen ist,
– dass diejenigen, die Anschläge verüben, Verbrechen gegen Gott und gegen die Menschheit begehen,
– dass das Ansehen unserer Religion, die den Frieden im Namen führt, durch die sinnlosen und verbrecherischen Taten verblendeter Gewalttäter geschändet und entstellt wird.
Mit den Mitgliedern des ZIE-M bin ich entsetzt und fassungslos, was unseren christlichen Brüdern und Schwestern in Alexandria angetan wurde.
Wir rufen denjenigen zu, die in Hass und Gewalt involviert sind, oder die dazu neigen, solche Verbrechen zu verharmlosen anstatt sie in aller
Schonungslosigkeit beim Namen zu nennen: Hört auf mit Eurem Tun und hört auf, Euch dabei auf Gott und auf unsere Religion zu berufen! Terror ist niemals eine Lösung, aber immer eine Sünde. Jeder Angriff auf eine Kirche – oder eine Synagoge – ist wie ein Angriff auf eine Moschee: eine Sünde und ein Verbrechen.
Im Namen Gottes und der Menschen:
denkt nach, glaubt an die wahre Botschaft des Islam und verbreitet Frieden! Wer sich bei solchem Tun auf Gott und auf unsere Religion beruft, stellt sich
in Wahrheit gegen Gott und gegen den Islam. Deshalb rufen wir auch alle Glaubensbrüder und -schwestern auf, keinesfalls aus falsch verstandener Solidarität potentielle Täter zu schützen oder ihr Tun zu verharmlosen! Der Islam gebietet uns, für die Sicherheit der Menschen in jedem Land, in dem wir leben, einzustehen. Deshalb ist für uns gemeinsame Wachsamkeit mit allen friedliebenden Menschen ebenso wie mit den zuständigen Behörden eine Selbstverständlichkeit. Gemeinsam müssen wir gegen Extremismus, gegen Gewalt wie gegen radikale Gesinnungen eintreten, egal gegen wen sie sich richten.

Der Koptisch-Orthodoxen Gemeinde in München drücken wir unsere Solidarität, unsere Betroffenheit und unser tief empfundenes Mitgefühl aus.
Wir wünschen Ihnen und Ihren Brüdern und Schwestern in Ägypten, dass Sie trotz des Entsetzens und der Trauer eine friedvolle Weihnacht feiern können und mit Gottes Segen ein Jahr der Aufrichtigkeit, des Miteinanders und der Überwindung von Konflikten gelingen wird!

Und schließlich, this just in, schreibt die Religionsgemeinschaft des Islam Baden Württemberg:

Als Religionsgemeinschaft des Islam verurteilen wir die Anschläge auf Christen und andere Minderheiten in muslimischen Ländern aufs Schärfste. Es ist höchst bedauerlich und inakzeptabel, dass Menschen aufgrund ihres Glaubens diskriminiert werden und dass ihnen sogar das Lebensrecht abgesprochen wird.
Nach islamischem Glauben stehen Menschen, die unschuldigen Menschen nach dem Leben trachten, außerhalb des Islam. Sie sind durch Gehirnwäsche manipulierte Menschen, die alle anderen als Feinde sehen, die nicht wie sie denken und glauben.
Der Islam verbietet solche intolerante, inhumane Aktionen und Auffassungen. Kein aufrichtiger gläubiger Muslim würde sich jemals zu einer solchen Untat  hinreißen lassen.
Wir kennen solche Menschen mit verzerrtem Glaubensbild zu genüge. Daher ist unser Anliegen die Aufklärung der Muslime hier wie dort.

 

Verfolgte Christen in Ägypten

Auch Muslime müssen den Kampf für die Unversehrtheit der Christen in der arabischen Welt aufnehmen

(Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen, Nr. 2, 2011, S. 1)

Jetzt nennt man sie eine „Märtyrerin“. Doch Maryouma Fekry hatte anderes vor mit ihrem noch jungen Leben. Minuten bevor sie zur Neujahrsmesse aufbrach, speicherte die 22jährige ein Update auf ihrer Facebook-Seite: „2010 ist vorbei…Dieses Jahr ist das beste in meinem Leben…Ich habe so viele Wünsche für 2011…Bitte Gott, bleibe bei mir und hilf mir, sie wahr zu machen“. Kurz nach Mitternacht explodierte die Bombe vor der St Markus und Peter Kirche der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Maryouma und 20 weitere koptische Christen starben, mehr als hundert wurden verletzt.
Maryoumas Facebook-Seite gibt es noch. Unter dem Bild der strahlenden jungen Frau, die Harry Potter und Linkin Park mochte, tragen sich Hunderte ein, die sich dem Irrsinn des islamistischen Terrors entgegenstellen wollen. Es sind auch Muslime unter Ihnen.
Sie haben offenbar verstanden, dass es um mehr als nur einen weiteren beklagenswerten Terrorakt geht: Es droht die kulturelle Selbstverstümmelung der islamischen Welt durch schrittweise Vernichtung des orientalischen Christentums. Alexandria ist kein Einzelfall. Erst vor wenigen Wochen traf es die Gemeinde der Kirche „Maria Erlöserin“ in Bagdad: Ein Selbstmordkommando stürmte am 31. Oktober den Sonntagsgottesdienst und massakrierte mit Bomben und Maschinengewehren 58 Menschen. Al-Kaida im Irak bekannte sich zu dem Massenmord.
Das Christentum im Zweistromland, darunter einige der ältesten Gemeinden weltweit, ist in den letzten Jahren bereits um die Hälfte geschrumpft. Wer es sich leisten konnte, ging in den Westen, die Armen suchten Zuflucht im ruhigeren und toleranteren kurdischen Norden und in der Türkei. Nach der Gräueltat von Bagdad hat nun eine weitere Fluchtwelle eingesetzt. Die Welt schaut hilflos zu, während das Christentum der Chaldäer und Assyrer, in deren Gottesdiensten teils noch das biblische Aramäisch vorkommt, zugrunde geht. Welch grausame Ironie: Dem Irakkrieg wurde »Kreuzzüglertum« unterstellt. Doch nun ist es denkbar geworden, dass das Christentum in ihrem Gefolge von einigen seiner frühesten Stätten vertrieben wird. Die Ureinwohner Ägyptens und Iraks, deren Gemeiden viele hundert Jahre vor dem Islam schon dort beheimatet waren, sind Sündenböcke geworden. Fanatiker erklären sie zu Fremdkörpern und fünften Kolonnen, die es auszumerzen gelte.
Die radikalen sunnitischen Islamisten der Kaida haben sich die religiöse „Säuberung“ der muslimischen Welt auf die Fahne geschrieben. In ihrer Vision eines neuen Kalifats zwischen Bagdad und Marrakesch gibt es keinen Platz für Christen und Juden. (Aber auch nicht für die Schiiten, die ihnen ebenfalls als Häretiker gelten.) Der Neujahrsanschlag, der die Handschrift der Kaida trägt, ist auch ein Schlag gegen das ägyptische Regime von Hosni Mubarak. Im September nämlich soll in Ägypten ein neuer Präsident gewählt werden. Mubarak will seinen Sohn installieren und unterdrückt brutal den Widerstand, ganz gleich ob säkular oder islamistisch. Wer die Kopten schlägt – mit mehr als 8 Millionen die größte christliche Minderheit in Nahost – trifft zugleich das prowestlichste Regime der arabischen Welt.Der »Pharao« Mubarak spielt sein eigenes Spiel: er versucht, die erbärmliche Lage der Kopten ganz auf die Taten der Extremisten zu reduzieren. Doch sein Regime hat die schleichende Islamisierung der Gesellschaft zugelassen und Bigotterie gegen Andersgläubige geschürt. Kopten werden am Kirchenbau gehindert und haben kaum Aufstiegschancen im korrupt geführten Staat. Vor einem Jahr, am koptischen Weihnachtsfest, erschossen muslimische Attentäter sieben Christen vor der Kathedrale von Nag Hammadi. Sie waren Ägypter. Der Präsident ließ sich zwei Wochen, bis er die Tat verdammte.

Die Vertreter des Islams in Deutschland muss niemand mehr lange bitten, sich zu positionieren: Nur Stunden nach dem Massaker hat der »Koordinationsrat der Muslime« den »feigen und schrecklichen Anschlag auf das Schärfste« verurteilt. Ein Lernprozeß: Muslime haben verstanden, dass die radikalen Islamisten mit dem Vertrauen auch die Grundlage des Zusammenlebens hierzulande zerstören wollen. Es ist absurd, von unbescholtenen Muslimen nach jedem Anschlag die Distanzierung von Gewalttaten zu fordern, die sie niemals gebilligt haben. Leider geschieht das auch jetzt wieder. Mit solchen kenntnisfreien Forderungen macht man die Wohlwollenden indirekt zu Geiseln jener Dschihadisten.
Das ist fatal, weil die eigentliche Kampflinie nicht zwischen den Religionen verläuft, wie es die Weltenbrandzündler gerne hätten. Sie verläuft zwischen denen, die in einer multireligiösen Gesellschaft leben wollen und den Fanatikern der Reinheit – heute vor allem: innerhalb des Islams. Die größte Provokation für die Mörder im Namen der Reinheit ist die angstfreie Vermischung, auf der die Stärke der freien Gesellschaften beruht. Denn jeder Muslim, der friedlich und gut nachbarschaftlich im Westen lebt, ist eine wandelnde Widerlegung Bin Ladens. Wir sehen das oft nicht mehr in unserer erregten Islamdebatte. Mit jedem Christen hingegen, der Ägypten oder Irak verläßt, kommen die islamistischen Träumer des Absoluten ihrem Ziel näher. Darum müssen die Muslime – auch im Westen – den Kampf für die Rechte der Christen des Orients mit führen: Es ist auch ihr Kampf, die Differenz zwischen dem Islam und der aggressiven Ideologie deutlich zu machen, durch die Maryouma Fekry zur Märtyrerin wider Willen wurde.

 

Ein Opfer des Terrors gegen Christen

Mariouma Fekry starb bei dem Attentat auf Christen in Alexandria. Sie war gerade 22 geworden.

2010 war „das beste Jahr in meinem Leben, hat sie auf ihrer Facebook-Seite geschrieben, die noch existiert und nun eine Art digitales Monument für die Opfer des Massakers wird.

Screenshot: J. Lau

Sie mochte Linkin Park, Titanic, Rihanna und Harry Potter. Ihre Lieblingszitate lauten so:

– “ The power of God within you is greater than the pressures around you.“
– „Happiness is a choice that requires effort at times“
– „Es ist gerade seltsam, wie wenig ein Mensch braucht, um gluecklich zu sein- und noch seltsamer, dass einem gerade das Wenige fehlt“

Kurz bevor sie zur Mitternachtsmesse aufbrach, hat sie noch folgendes Update auf Facebook geladen:

“2010 is over…this year has the best memories of my life…really enjoyed living this year…I hope 2011 is much better…I have so many wishes in 2011…hope they come true…plz god stay beside me & help make it all true”

 

Großstadtwerte

(Mein Text aus der ZEIT dieser Woche.)

In der neuen Serie von David Simon, dem wohl größten Erzähler des zeitgenössischen Fernsehens, geht es wieder um eine Stadt. In dem Polizei-Drama „The Wire“ – das Simon zur Legende gemacht hat – war das arme Baltimore, geschlagen mit Drogen, Korruption und Verbrechen, die eigentliche Heldin. So diesmal New Orleans, genauer gesagt Treme (Tre-mäy gesprochen), das älteste schwarze Viertel Amerikas, ganz nahe am berühmten French Quarter gelegen. Der Jazz, die erste genuin amerikanische Kunst, Amerikas Geschenk an die Weltkultur, hat dort seine tiefsten Wurzeln.

Es geht aber um mehr als New Orleans, so tief Simon auch diesmal wieder in lokale Szenen eintaucht. Obwohl es gewiss die untypischste Stadt des Landes ist, firmiert New Orleans hier paradoxer Weise als die amerikanische Stadt schlechthin, samt Hoffnung, Fluch und Versprechen. „Kleinstadtwerte helfen uns nicht weiter“, hat Simon kürzlich gesagt, „wir brauchen Großstadtwerte… New Orleans war Französisch, Spanisch, Amerikanisch, die Musiker von dort nahmen afrikanische Rythmen und europäische Arrangements und schenkten dies der Welt… Das Konzept der amerikanischen Stadt – mit all diesen unterschiedlichen Kulturen, das ist es, was wir der Welt gegeben haben.“

Clarke Peters als Albert Lambreaux in seinem Mardi-Gras-Kostüm  Foto: HBO

Nun ist die Stadt allerdings lebensgefährlich verwundet, als die Handlung beginnt – im Winter 2005, wenige Monate nach dem Hurricane Katrina. Der elegante Vorspann macht schon klar, dass Simons Kunst aus dem Verfall erblüht. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass die wunderbar eleganten, abstrakten Muster auf den Wänden der Häuser in Wahrheit Schimmelpilze und Reste vom Schlamm sind.

Wir finden uns unmittelbar unter den Überlebenden der Katastrophe. David Simon wirft uns unter die Musiker, Lebenskünstler, Discjockeys, Handwerker, Barfrauen, Anwälte und Arbeitslosen, die ihr Leben über die Folgen des Sturms hinweg zu retten versuchen. Manche würden besser daran tun zu gehen, doch keinem fällt es leicht, diese Stadt aufzugeben. Nicht allen wird das Bleiben gut bekommen, das ahnt man gleich.

Jede der Hauptfiguren trägt eine Frage mit sich herum. Wird Antoine Batiste (gespielt von dem großen Wendell Pierce, einem gebürtigen New Orleanian, der in „Wire“ der Polizist Bunk Moreland war) jemals von seiner Musik leben können? Kann seine Ex-Frau LaDonna (die schöne und strenge Khandi Alexander) ihren Bruder aufspüren, der während der Flut im Polizeigewahrsam war und nie wieder auftauchte? Kann Albert Lambreaux (Clarke Peters), „Häuptling“ eines traditionellen Mardi-Gras-Indianerstamms, seine Leute dazu bringen zu bleiben und bei der Parade mitzumachen? Wird Creighton Bernette (John Goodman), der wütende und depressive Englischprofessor, endlich seinen Schlüsselroman über die Flut von 1927 zu Ende schreiben? Wird sich die schöne Geigerin Annie (Lucia Micarelli) von ihrem Straßenmusikpartner Sonnie trennen, der wieder mit den Drogen angefangen hat? Diese und noch viel mehr Geschichten sind auf eine lose, an Robert Altman erinnernde Weise, verwoben. Und die Musik der Stadt ist der Webfaden.

Keine andere Serie hat so viel großartige Musik – kein Wunder bei dem Handlungsort. Die Musik wird nie nur zur Untermalung benutzt. Sie ist – oft live gespielt – organischer Teil der Handlung. Dr. John, Allen Toussaint, Kermit Ruffins, Steve Earle, McCoy Tyner und Elvis Costello und andere echte Stars treten in Gastrollen auf. Viele Figuren sprechen einen starken Dialekt und benutzen Insider-Begriffe wie „second line“ und „lower nine“, die nicht erklärt werden. Man muss sich eine Weile lang einhören in den Sound von Treme.

Diese zunächst abweisende Erzählweise hat einen Grund im kompromisslosen Realismus, den Simon-Fans schätzen. Er passt aber auch zu New Orleans, das hinter der touristischen Fassade immer eine unzugängliche Seite bewahrt hat. Nur durch Widerborstigkeit konnten französische Sprache, afrikanische Riten und schwarze Hipness vor dem Ausverkauf bewahrt werden. Nichts zu erklären ist aber schließlich auch ein Kunstgriff: Beim Zuschauer verstärkt er das Gefühl, man werde zum Zeugen einer realen Geschichte. Großartig, dass Drehbücher von solcher Schroffheit in Amerikas Kabelfernsehen nicht zuschauerfreundlich totredigiert werden. So wird das Fernsehen zur Kunstform, in der jene ein Exil finden, denen Hollywood zu langweilig, zu flach, zu unpolitisch ist.

David Simon ist (neben Ken Loach) der wütendste politische Filmemacher dieser Tage. Seine Weltsicht lässt sich im deutschen Koordinatensystem als vitaler Linkspopulismus verstehen: korrupte Eliten, kaputte Institutionen, eine verlogene öffentliche Moral, kleine Leute ohne Lobby bevölkern seine Welt. Es ist offenbar ein Vorurteil, dass man daraus keine große Kunst machen kann. Das kann man eben doch, wenn man diese Welt mit dem Reporterblick anschaut, den der gelernte Journalist Simon (er war Polizeireporter bei der Baltimore Sun) nie abgelegt hat.

Simon leidet an der Selbstzerstörung Amerikas, von der alle seine Serien erzählen. Aber er lässt seine Wut nie einer guten Geschichte in die Quere kommen. Auch in Treme geht es ihm nicht um die politische Anklage. Er hält sich nicht lange damit auf, dass Präsident Bush und seine inkompetente Regierung das Natur-Desaster erst zur Katastrophe haben auswachsen lassen. Treme erklärt nicht, warum New Orleans beinahe zerstört wurde (so wie The Wire die Zerstörung Baltimores auf allen institutionellen Ebenen rekonstruierte). Simon ist für einen solchen analytischen Zugang zu verliebt in New Orleans. Und so handelt Treme von den Versuchen vieler einzelner, das Versprechen dieser Stadt aus dem Schlamm und dem Schimmel zu bergen.

So klingt es allerdings ein wenig zu kitschig. Die städtische Utopie von New Orleans zu retten, das kann in Treme nämlich nur ganz konkret geschehen: durch kreolische Küche, ein unvergessliches Zydeco-Konzert, einen umwerfendes Mardi-Gras-Kostüm aus lauter gelben Federn. Oder, in den unsterblichen Worten von Dr. John: makin‘ whoopee.

 

Kann man den Islam vom radikalen Irrsinn befreien?

Die Palestinian Authority, also die Fatah-Regierung in der Westbank, geht seit einiger Zeit sehr hart gegen radikale Prediger vor.

Der neue Minister für Religiöse Angelegenheiten, Mahmoud Habbash, hat die Kontrolle über die Moscheen übernommen. Der Hintergrund: Über radikale Prediger hat die Hamas im Westjordanland einen erheblichen Einfluss ausgeübt.

Jetzt ist Fatah offenbar entschlossen, diesen Kanal zu schließen. Die Washington Post schreibt, die Freitagspredigten würden von Habbash zentral verfasst und den Moscheen übermittelt. Die Imame müssen diese Texte als grundlage ihrer Predigten nehmen. Wenn sie davon abweichen, werden sie von Sicherheitsdienst gemeldet.

Die Imame müssen auch durch die Moscheen rotieren, um „Gedenkenkontrolle“ der Gläubigen durch einzelne Prediger zu verhindern. Das System erinnert stark an das türkische Modell des Staatsislams (Diyanet) oder auch an den Zugriff des ägyptischen Staates auf die Religion. Die Zentralisierung der Religion stellt aber für die Westbank eine Novität dar – und die Gegenpropaganda der Hamas lässt auch nicht auf sich warten:

The firm grip on mosques is the latest element in a long effort to curb the strength of Hamas that has included widespread arrests and bans on Hamas media and gatherings. On Tuesday, when 70,000 people gathered in Gaza to mark the 23rd anniversary of the founding of Hamas, there were no rallies in the West Bank to mark the occasion.

The United States has pushed the Palestinian Authority to put an end to the vitriolic sermons that the United States and Israel say undercut peace efforts. But it has been careful not to overtly praise the latest effort. While seen as helpful to U.S. goals, the crackdown also reveals an authoritarian streak in a Palestinian leadership routinely hailed by American officials for its governance.

Such central government control of clerics is not uncommon in the Arab world. But it is disappointing to those who had expected greater tolerance from the Palestinian Authority, which rules parts of the Israeli-occupied West Bank. As part of its clampdown, the ministry has banned Hamas-affiliated imams from preaching. Those who are authorized to preach are paid by the Palestinian Authority.

„The Palestinian Authority’s plan is to combat Islam and the religious trend within it,“ said Sheikh Hamid Bitawi, a well-known Islamic religious authority in Nablus who delivered sermons for four decades before the Palestinian Authority banned him three months ago.

Bitawi estimates that dozens of other imams have been prevented from preaching since the crackdown started, leading to a preacher shortage at many mosques. „I’m sure the popularity of Fatah [Abbas’s party] and the Palestinian Authority is going down,“ Bitawi said. „They will be punished for their behavior.“

Ein Problem könnte sein, dass die Repression der Extremisten als Verbeugung vor den Forderungen der USA und Israels gesehen wird. Aber Habbash wehrt sich gegen solche Vorwürfe. Der Kampf gegen den Antisemitismus, führt Mahmoud Habbash, selber islamischer  Theologe,  als Kampf um die Seele seiner eigenen Religion. Ein mutiger Mann.

Habbash insists his goal is to advance Palestinian unity, not to appease the United States or Israel. So far, the Palestinian Authority has focused most of its attention on the mosques and responded quickly when it sees a problem.

After an imam urged Muslims to kill Jews in a sermon broadcast on a Palestinian government-run television station earlier this year, U.S. officials complained. Habbash apologized, said the imam had been a last-minute substitute, and ordered the next Friday’s sermon at all mosques to be about tolerance among followers of Islam, Judaism and Christianity.

Habbash, 47, taught Islamic law and wrote a newspaper column before being forced to flee the Gaza Strip after Hamas seized control of the territory in 2007. Today, he is one of the government ministers closest to Abbas. His policy also makes him one of the most endangered: While most ministers travel with two bodyguards, he has six.

„My main message is, we need to liberate Islam from this madness, from this extremism and wrong understanding of Islam,“ he said. „Islam does not incite to hate.“

Khalil Shikaki, chief pollster at the Palestinian Center for Policy and Survey Research, said the overall crackdown on Hamas, including the mosque policy, has clearly weakened Hamas in the West Bank. „They have no media – no newspapers or magazines“ in the West Bank, he said. „No doubt they have lost the mosques as a key platform.“

Liberate Islam from this madness.

Starke Worte. Wer so etwas sagt, begibt sich in Palästina in Lebensgefahr.

 

Die schleichende Vernichtung der irakischen Christen

Ich hatte heute Besuch von vier irakischen Christen, die dieser Tage auf Einladung des Goethe-Instituts in Deutschland sind.

Was sie mir über ihre Lage erzählt haben, ist sehr aufwühlend. Sie hatten auch Bilder dabei, die ich wohl so schnell nicht vergessen werde. Auf ein solches Grauen war ich nicht vorbereitet. Ein wenig bin ich immer noch unter Schock, vielleicht hilft es da, ein paar Eindrücke aufzuschreiben.

Nabeel Qaryaqos ist Journalist in Baghdad. Er sagt, wenn er schreiben würde, was er denkt und was er für richtig hält, würde er umgebracht. Über die grassierende Korruption kann er nicht ohne Lebensgefahr berichten. Seine Tochter, auch sie Christin, wird in der Schule gezwungen, den Koran zu lernen. Seine Frau, eine Ingenieurin, kann nicht mehr an der Uni unterrichten, weil sie sich weigert, ein Kopftuch anzulegen. (Auch sie ist Christin.) Abends klopfen Leute an die Tür und rufen: Haut ab! Sie hinterlassen auch Zettel mit Drohungen. Die Christen sollen aus Bagdad, aus dem ganzen Land verschwinden. Über so etwas kann er nicht schreiben, sonst bringen sie ihn gleich um. Herr Qaryaqos erzählt von einer Familie, die sich nach jahrelanger Einschüchterung entschlossen hatte, auszuwandern. Sie verkauften ihr Haus, allerdings zu einem viel zu geringen Preis – weil ja bekannt war, dass sie unter Druck standen wegzugehen. Nach dem Verkauf wurde die Familie überfallen und ermordet. Das Geld aus dem Hausverkauf wurde gestohlen.

Aziz Emanuel Al-Zebari ist Sprecher des „Chaldean Syrian Assyrian Popular Council“, einer Dachorganisation der chaldäischen Christen im Irak, einer der ältesten christlichen Gemeinschaften weltweit. Christen hätten keine Rechte im Irak, sagt der exzellent englisch sprechende Herr Al-Zebari, der in Erbil Englisch lehrt. Sie werden bestenfalls als „Dhimmis“ behandelt und müssen oft die islamische Kopfsteuer (Jiziya) an islamistische Gruppen bezahlen, die wie Mafiosi ihnen gegenüber auftreten. Man versuche systematisch, Christen aus ihren Häusern und Wohnvierteln zu verdrängen und ihnen ihr Eigentum wegzunehmen. Moscheen werden in Christengegenden gebaut, um den Machtanspruch des Islams zu demonstrieren. Iran und Saudiarabien, sonst verfeindet, würden beide jene Gruppen unterstützen, die den Irak vom Christentum reinigen wollen. Ein halbe Million Christen hat den Irak bereits verlassen, eine weitere halbe Million hält sich noch, vor allem im kurdischen Norden. Aber viele seien als Binnenflüchtlinge dorthin gekommen und hätten keine Lebensgrundlage. Das chaldäische Christentum, so schildert es Herr Al-Zebari, steht vor dem Aus. Die einzige Lösung wäre eine autonome Region, sagt er, so wie die Kurden eine haben. Ohne einen sicheren Hafen sei die Jahrtausende alte christliche Kultur, die lange vor dem Islam in Mesopotamien zuhause war, in wenigen Jahren am Ende. Seine eigene Familie ist schon teils im Ausland.

Dr. Samir S. Khorani, ein (christlicher) arabischsprachiger Professor für Literaturkritik an der Salahadeen Universität von Erbil, schließt sich dem Plädoyer an. Die Welt solle den Christen lieber im Irak helfen, statt sie zu Flüchtlingen zu machen. Nur dort könnten sie auf Dauer ihre Kultur bewahren. Mit Saddam Husseins Förderung des politischen Islams in seiner späten Phase habe das Elend angefangen. Christen, die Ureinwohner des Landes, wurden schon unter Saddam zunehmend zu „Ungläubigen“ umdefiniert. Nach der Invasion von 2003 wurden sie zur Zielscheibe des Hasses vor allem der Sunniten auf den Westen, auf Amerika. Die einheimischen Christen, sagt Herr Khorani, haben den Preis für den Krieg bezahlt, weil man sich an ihnen ohne Risiko schadlos halten konnte. Sie wurden als Verräter gebrandmarkt, weil man automatisch annahm, sie hätten die Amerikaner gerufen. Weil im Irak seit 2005 die Scharia als Maßstab der Gesetzgebung gilt, sie die institutionelle Diskriminierung von Christen programmiert. Was den Christen im Irak angetan werde, sei ein „Genozid in Zeitlupe“. Täglich würden Christen in Mossul und Bagdad ermordet.

Abdulla Hermiz Jajo Al-Noufali ist Chef der staatlichen Stiftung für „Christen und andere Religionen“ in Bagdad. Er sagt, die Christen seien das Ventil für den innerislamischen Hass zwischen Sunniten und Schiiten. Das ist die einzige Sache, über die sich die Extremisten in beiden muslimischen Lagern einig seien: der Hass auf die Christen. „Hier bei euch in Europa verlangen Muslime die Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften, selbst wenn die Muslime nicht Bürger dieser Länder sind. Wir aber sind die Ureinwohner des Irak und haben keine Rechte. Alles, was wir verlangen, ist folgendes: Behandelt uns in unserem eigenen Land so, wie die Muslime in Europa behandelt werden. Das würde uns schon reichen.“ Schiiten, sagt Herr Al-Noufali, seien etwas weniger schlimm als die radikalen Sunniten, deren Agenda von Al-Kaida bestimmt werde. Und dies deshalb, weil die Schiiten selber jahrhundertelang von den Sunniten verfolgt und unterdrückt wurden. Auch theologisch seien die Schiiten wesentlich gesprächsbereiter als die Sunniten, bei denen die Salafiten den Ton angeben. Trotzdem: das Ende des Christentums in Mesopotamien stehe bevor, wenn die internationale Gemeinschaft nicht bald handele.

Und dann holt er ein Album hervor. Er will mir zeigen, was in der Kirche „Maria Erlöserin“ in Bagdad am 31. Oktober passiert ist. (Ein Massaker, das bei uns kaum Reaktionen ausgelöst hat.) Ein Al-Kaida-Kommando hatte das Gotteshaus am Sonntagabend überfallen, die Gottesdienstbesucher als Geiseln genommen. Am Ende des Gemetzels waren 58 Menschen tot, mehr als 70 verletzt.

Ich blättere: Blutspuren an allen Wänden, an der Decke, zwei tote Priester im Ornat, eine Mutter mit einem totem Baby, noch eine Mutter mit totem Baby, ein Leichenfetzen hängt im Kronleuchter, ein Stück Fleisch liegt zwischen Kirchenbänken, und dann: Tote, Tote, Tote. Eine Gruppe von Menschen, erklärt Herr Al-Noufali, hatte sich in einen hinteren Raum zurückgezogen und diesen mit Regalen verrammelt. Zwei Islamisten sprengten sich am Eingang des Raumes in die Luft, um den Weg freizubekommen. Dann warfen andere aus dem Kommando Granaten in die betende Menge.

Die Zeit ist um, die vier Herren ziehen weiter, um anderen Journalisten und Abgeordneten von der Lage ihrer Leute zu erzählen.

Herr Al-Zebari sagt, er werde noch einen Abstecher nach Schweden machen, bevor er in den Irak zurückkehrt. Dort wohnt ein Teil seiner Familie. „Haben Sie von dem Anschlag in Stockholm gehört?“ fragt er mich. Natürlich, sage ich, und verweise auf den irakischen Hintergrund des Täters. „Wir fühlen mit Ihnen, wenn dieser Wahnsinn jetzt nach Europa kommt“, sagt Herr Al-Zebari.

 

Der Ipad-Bomber von Stockholm

Der Selbstmordattentäter von Stockholm, konnte ich heute morgen schon in der Presseschau des Deutschlandfunks hören, sei ganz offenbar ein Einzeltäter-Desperado. Darum sei es auch richtig, einfach cool zu bleiben und die offene Gesellschaft nicht in Frage zu stellen.

Hat das irgendwer getan? Ruft jemand nach irgendwelchen irrationalen neuen Sicherheitsmaßnahmen? Muss ich verpasst haben.

Woher bloß haben manche Kollegen den Mut, über ein Attentat, das gerade erst geschehen ist, so weitgehende Meinungen aufzustellen – und es gleich wieder zur Nummer im Debattenzirkus über Innere Sicherheit zu verwandeln?

Unterdessen stellt sich nämlich heraus, dass der Täter einen britischen Hintergrund hat. Und das ist doch wohl interessant. Taimour al-Abdaly hat in Bedfordshire studiert und hat auf sozialen Netzwerken einige Spuren hinterlassen. Er scheint Verbindungen nach Luton zu haben, einem Hotspot des britischen Dschihadismus, der auch bei den Attentätern von 7/7 schon eine Rolle spielte Mohamed Sidique Khan, der Kopf der Londoner Bomber, hat hier seinen Al-Kaida-Kontakt getroffen.

Also scheint es doch möglicherweise einen Hintergrund von Helfern und Anstiftern zu geben. Und was heißt überhaupt „Einzeltäter“? Soll das heißen, aus der Radikalisierung dieser Männer ließen sich keine Schlüsse ziehen? Scheint mir voreilig. Der Guardian berichtet folgendes:

A profile on the Muslim dating site Muslima says Abdaly was 29 years old (another site claims it was his birthday today) and that he is „looking for my wife (2nd)“. He describes himself as being 5ft 3ins tall and weighing 93kg (14.6 stone). He was born in Baghdad, and moved to Sweden in 1992.

In 2001 he was apparently a high school student in a village in Sweden before moving to Britain to study at the University of Bedfordshire for a BSc in physical therapy. He spoke English, Arabic and Swedish. It is believed he met his wife in Bedfordshire before bringing her to Sweden.On his Facebook profile, Abdaly’s likes are a mixture of Islamic and technological – „I’m a Muslim and I’m proud“, „the Islamic Caliphate state“, „Yawm al-Qiyamaah [the Islamic day of judgment]“, but also „I love my Apple iPad“. The Swedish newspaper Aftonbladet quotes friends who paint a picture of Abdaly as enjoying playing basketball and a good party, yet who had become increasingly angry over the past few years.

A look at his Facebook wall postings show a trend in the links he posted – from video clips from comedy shows in April to increasingly graphic videos. One shows a blindfolded Iraqi man being taunted and abused by US soldiers. Several more are part of a series on „Russian war crimes in Chechnya“. Others show speeches given by radical mullahs.

The email he sent shortly before he blew himself up does not just contain a warning. It also has a message to his family: „I never travelled to the Middle East to work or earn money, I went there for jihad.“ It apologises to his family for not telling them what he was planning. He says he loves his family, and asks his wife to give a kiss to the children from him. It ends „Tell them that Daddy loves them.“

Daraus lassen sich vorerst folgende Schlüsse ziehen: Dieser Täter gibt schwedenspezifische Gründe für seine Tat an (z.B. die Karikatur von Lars Vilks), aber seine Radikalisierung ist vielleicht im Kontext der britischen Dschihadiszene zu sehen. In anderen Worten: Englands radikale Muslime werden zum europäischen Problem. Das scheint ein Muster zu werden: Immer ist irgendeine Begründung zur Hand (Karikaturen, Irak, Tschetschenien), warum der wütende junge Mann sich in die Luft jagen muss. Aber der Zusammenhang zur Tat wird immer beliebiger: Weihnachtseinkäufer in Stockholm umbringen wegen des Einsatzes in Afghanistan oder wegen Lars Vilks? Gaga.

Leute wie er sind sehr schwer zu bekämpfen, weil die Radikalisierung oft schnell vor sich geht und stark übers Internet gesteuert ist. Wie soll man jemanden zu fassen kriegen, der sich perfekt in die zeitgenössische Welt einpasst („I love my Ipad“) und zugleich auf einer Dating-Seite eine Zweitfrau sucht (mit Billigung seiner ersten Frau!), und der im selben Atemzug das Kalifat verherrlicht? Selbst die eigene Familie hat er belogen über den Sinn der Reise in den Nahen Osten. Wo ist er ausgebildet worden?

Zum Glück haben sich die letzten Selbstmordattentäter als technische Amateure herausgestellt – vom Unterhosen- über den Times Square-Bomber bis zu dem Weihnachtsmarktkiller von Stockholm. Auf Facebook hat sich schon eine „Darwin-Preis“-Seite gebildet, die ihn sarkastisch dafür ehrt, die Welt um seine Anwesenheit erleichtert zu haben. Sarkasmus ist sicher besser als Panik. Aber wir müssen mehr über diese Leute lernen, die mitten unter uns leben und sich mit interessierter Hilfe in lebende Zeitbomben verwandeln.

 

Warum Ägypten besser keine Demokratie werden sollte

Seit das lachhafte Wahlergebnis in Ägypten bekannt wurde, stelle ich mir auch diese Frage, die Leon Wieseltier jetzt in der New Republic offen angeht: Haben wir das Konzept Demokratie für Ägypten aufgegeben?

Anders lässt sich ja kaum erklären, dass dieser Wahlbetrug, der ebenso dreist ist wie der iranische  im letzten Jahr, bei uns keine Schlagzeilen macht.

Der Unterschied liegt auf der  Hand: In Ägypten hält ein säkulares Regime (na ja…) die Muslimbrüder unter der Knute. Im Iran hat ein klerikalfaschistoides Mullahregime eine Opposition unterdrückt, die eine Öffnung des Systems wollte (wenn auch viele in der Grünen Bewegung eben nicht die Abschaffung des Regimes wollten).

Also im Klartext ist unsere Haltung mittlerweile so: Demokratie nicht für alle im Nahen Osten, sondern nur dort, wo wir sicher sein können, dass sie nicht Islamisten an die Macht bringt. Auch aus Amerika war zu den Wahlen in Ägypten merkwürdig wenig zu hören. Hier hat von Bush zu Obama eine kuriose Wandlung stattgefunden. Bushs Demokratieagenda hatte Mubarak dazu gezwungen, die Wahlen so weit zu öffnen, dass 88 Muslimbrüder erstmals ins Parlament gewählt werden konnten (wobei sie natürlich als „Unabhängige“ kandidierten, um den Anschein zu wahren). Bush war gut für die Muslimbrüder.

Obama aber hat die Demokratieagenda stillschweigend aufgegeben. Nicht einmal angesichts der iranischen „Wahlen“ ließ er sich sehr laut vernehmen. Und dadurch fühlt sich nun Mubarak berechtigt, seine Unterdrückung der MB knallhart durchzuziehen wie in alten Zeiten. Das ist natürlich auch Vorbereitung für den Machtwechsel. Sein Sohn soll bei der Wahl im nächsten Jahr das Zepter übernehmen. Und die Opposition weiß jetzt schon mal, wie das laufen wird. Ironie: Obama, mit seiner Politik der offenen Hand, ist schlecht für die Muslimbrüder.

Das ist die Lage. Ich muss sagen, dass es mir schwer fällt, prinzipiell dagegen zu argumentieren. Ich fürchte mich vor einem Ägypten, das von der MB regiert wird, genau wie Leon Wieseltier.

The authoritarian immobilism of the Mubarak regime lacks all legitimacy. But in view of the alternative, does it lack all utility? The question is not cynical. The parliamentary elections last week were preceded by a repression: Mubarak’s National Democratic Party cracked down on the Muslim Brotherhood, arresting 1,200 of its supporters and barring some of its candidates from running. Then came the election, in which the Muslim Brotherhood, which had 88 members in parliament, discovered that its number of seats had been reduced to zero. This wild fraud is a premonition of what awaits Egypt in its presidential election next year. The outrage is obvious. But so is the complication. In standing up for the opposition, for the victims of the dictator, we are standing up for the Muslim Brotherhood. Consider the consequences of its ascension to power. There can be no doubt about the undemocratic uses that the Muslim Brotherhood has for democracy: Egypt will have been opened up to be shut down. I know that the smart thing to say about these religious radicals (and about others in the Middle East) is that they are sophisticated and pragmatic and themselves agents of a kind of modernization—this view made its appearance many decades ago in the conclusion of Richard P. Mitchell’s extraordinary study The Society of the Muslim Brothers, where, pointing to the Brothers’ “Western-type suits” and their acceptance of science and technology, he declared that they represent “an effort to reinstitutionalize religious life for those whose commitment to the tradition and religion is still great, but who at the same time are already effectively touched by the forces of Westernization”—but this is an anti-modern modernity; an adaptation, not a transformation. Political theology has always been a mixture of inflexibility in beliefs and flexibility in tactics. The effects of a Muslim Brotherhood regime upon Egypt’s relations with Israel, and therefore upon the stability of the entire region, may also be devastating. Israel already endures two borders with hostile Islamist theocrats. Should it endure a third such border, and with the largest Arab state? The incommensurability of values, indeed. This seems like a choice between democracy and peace.

Andererseits: Das undemokratische islamische Regime  Saudi-Arabiens hat uns den modernen Terrorismus im Namen des Islams beschert. Von dort kommen die meisten Attentäter, von dort kommt immer noch das meiste Geld für den Terror.

Ägypten ist unter Mubarak eine Hölle, was die Menschenrechte angeht. Und die Islamisierung des Landes hat schon mit Duldung des „säkularen“ Regimes begonnen. Es ist also nicht so, dass man in Mubarak einen Garanten der Zivilität hat. Gut möglich, dass dieser Pharao auf westlicher Payroll mit seiner Repressionspolitik auf lange Sicht einen zweiten Iran schafft.

 

Kulturelle Gründe des islamischen Rückstands

Der Merkur hat anläßlich der Sarrazin-Debatte einen exzellenten Artikel von Siegfried Kohlhammer wiederveröffentlicht, in dem alles schon drin steht über die kulturellen Gründe des wirtschaftlichen Versagens vieler muslimischer Einwanderer. (Für kurze Zeit im Netz, hier unter „Hintergrund“ klicken.) Unter anderem zählt Kohlhammer zu den Hinderungsgründen den Familiarismus, auf den viele Muslime gerade stolz sind. Hier hätte ich mir allerdings gewünscht, dass erklärt würde, warum der chinesische oder koreanische Familiarismus nicht die gleichen schädlichen Wirkungen entfaltet. Zitat:

Einen entscheidenden negativen Faktor bei der Integration − und weiterhin im wirtschaftlichen Handeln − bedeutet der Familiarismus der konservativen muslimischen Einwanderer: Das Wohl der Familie und der Nutzen für die Familie sind die oberstenWerte, denen sich alle anderen gesellschaftlichen Werte, Gesetze und Regeln unterzuordnen haben. Das fördert Nepotismus, Korruption und generell die Mißachtung der meritokratischen Prinzipien und der egalitären Gesetze, wie sie dieMehrheitsgesellschaft vertritt.
Die Gesetze und die Polizei des Aufnahmelandes werden nicht als gemeinsamer Schutz aller gesehen, sondern als Eingriffe undÜbergriffe von außen. Familiarismus schafft so eine Doppelmoral, isoliert sozial und verhindert das für Integration wie Wirtschaftsaktivitäten wichtige Vertrauen.
Wenn Vertrauen nicht über den Rand der Familie oder Sippe hinausreicht, wird Kooperation mit anderen erschwert. Mißtrauen und Verschwörungsdenken dominieren imVerhältnis nach außen.ÖkonomischesHandeln ist zu einem wesentlichen Teil Kooperieren mit familienfremden anderen, und je mehr ich diesen Fremden vertraue und vertrauen kann, desto reibungsloser und erfolgreicher wird mein ökonomisches Handeln sein. Kulturen wie die islamischen oder lateinamerikanischen, in denen, aus welchen Gründen auch immer, der Radius des Vertrauens sehr gering ist, sind wirtschaftlich benachteiligt.
Zugleich ist der Familiarismus die Primärform des antiindividualistischen Kollektivismus. Individualismus aber ist eines der bestimmenden Prinzipien moderner westlicher Gesellschaften….

 

Stuttgart 21: Legimation durch Protest

Meine Kolumne „Bücher machen Politik“ aus der ZEIT von morgen:

Der Soziologe Niklas Luhmann hat in unvergleichlicher Trockenheit festgestellt, zwei Leistungen hätten die Bundesrepublik geprägt: die Marktwirtschaft und der Protest. Beides hat tiefe Wurzeln im Südwesten der Republik, nirgendwo gehen »Dabeisein und Dagegensein«, Industrie und Pietismus, Bürgerwut und Schlichtung so gut zusammen wie in Stuttgart. Wer verstehen will, was daran neu – und was alte Bundesrepublik – ist, muss zwei Luhmann-Klassiker lesen.
Der Titel eines seiner frühen Werke wird gern zitiert, um zu erklären, warum die Politik es heute so schwer hat, Zustimmung für Entscheidungen zu gewinnen, die korrekt zustande gekommen sind: »Legitimation durch Verfahren«, so Sigmar Gabriel mit Blick auf Stuttgart 21, sei »eben nicht mehr ausreichend.«
Aber was hat Luhmann mit seiner Formel gemeint? Dass die formale Korrektheit eines Verfahrens – etwa eines Ratsbeschlusses oder einer Planfeststellung – schon die Anerkennung durch die Bürger garantiert? So einfach war es nie. Moderne Gesellschaften brauchen Zustimmung unabhängig von Meinungsschwankungen der Bürger und vom Charisma der Herrschenden. Sie erzeugen diese politisch vor allem durch regelmäßige Wahlen und durch die Kontinuität der Gesetzgebung, die wiederum durch Wahlen beeinflusst und kontrolliert werden kann. So können Regierungen Entscheidungen treffen, die in Meinungsumfragen immer durchfallen würden. Eine moderne Gesellschaft ohne diese Fähigkeit wäre unregierbar. Wesentliche Entscheidungen der Nachkriegszeit sind von der Politik gegen populäre Stimmungen gefasst worden: Wiederbewaffnung, Westbindung, Ostpolitik, Nachrüstung. Aber: Auch solche Entscheidungen bleiben auf Anerkennung angewiesen. Bleibt sie aus, hilft auch der Hinweis auf die formale Korrektheit der Verfahren nichts.
Und da kommt der öffentliche Einspruch ins Spiel. In seinem 1996 erschienen Buch „Protest“ sagt Luhmann sardonisch, »die Gewohnheit zu protestieren« habe einen festen Platz in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Themen kommen und gehen, man ist und bleibt alternativ.
Legitimation durch Verfahren und Protest sind zwei widerstreitende und sich doch ergänzende Elemente unserer Ordnung. Die eigentümliche Modernität der Bundesrepublik, ihr Wettbewerbsvorteil, besteht in dieser unwahrscheinlichen Kopplung. Das vergessen die Apokalyptiker der »Dagegenrepublik« ebenso wie diejenigen, die ihre Bedenken gegen einen Bahnhof als »Widerstand« und Aufstand des Gewissens inszenieren. Der Protest kann eine Art Immunfunktion haben, mit der sich die Gesellschaft Schäden vor Augen führt, die gerade durch das Funktionieren ihrer Systeme entstehen: Wenn die Wirtschaft zwar rund läuft, aber eben dabei ihre Umwelt verfrühstückt, oder wenn die Politik Entscheidungen trifft, die zwar korrekt sind, aber doch die Ressource Vertrauen aufzehren. Der Protest, sagt Luhmann bei aller skeptischen Kühle, hat »auch einen Frühwarneffekt«.
So wie gerade das erfolgreiche System den Protest gegen seine Funktionen hervorbringt, führt der erfolgreiche Protest oft zu einem widerstandsfähigeren System. Das ist eine Ironie, die sich für manchen gewohnten Protestler allerdings eher wie Tragik anfühlt: Manchmal ist der Erfolg des Protests von seinem Scheitern schwer zu unterscheiden. In Stuttgart hat der Protest die Legitimation durch Verfahren nicht ersetzt, sondern bloß verfeinert. Der Widerstand hat sogar ein neues Verfahren hervorgebracht: die öffentliche Schlichtung. Legitimation durch unerbittliche Nettigkeit – Luhmann hätte es gefallen. Demnächst auch in Ihrer Stadt, liebe Leser.