Wie das Amt sich auf Westerwelle vorbereitet

Mein Stück aus der ZEIT von morgen, Nr. 45, S. 5:

Am Werderschen Markt in der Mitte der Hauptstadt haben sie für den Neuen schon seit Wochen großräumig Platz geschaffen. Steinmeiers Sprecher Jens Plötner ist nun Botschafter in Colombo, sein Politischer Direktor Volker Stanzel vertritt Deutschland ab sofort in Tokyo, sein Staatssekretär Reinhard Silberberg in Madrid. Die Regale sind leer, die Familienfotos entfernt: Raum für neue Gedanken, Gelegenheit für überraschende Karrieren!
Kaum jemand hier hatte nämlich Zweifel, dass Guido Westerwelle als vierter FDP-Mann in der Geschichte der Bundesrepublik das Auswärtige Amt in Beschlag nehmen würde. Und selbst jene Berliner Diplomaten, die nicht so recht an Westerwelles außenpolitische Sendung glauben, wären wohl ein bisschen beleidigt gewesen, wenn er doch lieber Finanz- oder Superminister geworden wäre, statt sich in die Ahnenreihe der Scheel, Genscher und Kinkel zu stellen. Unterdessen arbeiten die Fachabteilungen seit Wochen daran, für den Neuen Dossiers zu erstellen, die ihm die Welt erklären – eine Art Gebrauchsanweisung für den Globus. »Wir sind jederzeit in der Lage«, sagt ein führender Diplomat, »Herrn Westerwelle von null auf hundert zu bringen.«
Bei null müssen sie zwar nicht anfangen. Westerwelle hat sich als Oppositionsführer im Bundestag immer wieder in außenpolitische Debatten eingeschaltet – zu Afghanistan (für den Einsatz), zum amerikanischen Raketenschild (dagegen), zu Iran (für harte Sanktionen), zum Nahen Osten (gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon). Und er hat das ganze letzte Jahr damit verbracht, vorauseilend dem Verdacht entgegenzuwirken, es fehle ihm das staatsmännische Stresemann-Gen. Er hat kluge außenpolitische Interviews gegeben und eine ausgefeilte Rede vor Berliner Diplomaten gehalten. Hans-Dietrich Genscher hielt währenddessen seine segnende Hand über ihn, damit auch der Letzte merkte, dass dieser Guido sein geliebter Sohn sei, an dem er Wohlgefallen habe. Weiter„Wie das Amt sich auf Westerwelle vorbereitet“

 

Die befreite Angela

Und noch was aus der aktuellen Nummer der ZEIT von Yours truly (Nr. 42, S. 6) – über die Projektionen des befreundeten Auslands auf Schwarz-Gelb:

Wer liest, was die internationale Presse zum hiesigen Wahlergebnis schreibt, wird Zeuge der Entstehung eines politischen Mythos: der Befreiung von Angela Merkel.
Während die Koalitionäre in Berlin gerade erst begonnen haben, eine Formel für das schwarz-gelbe Bündnis zu suchen, projiziert die Welt schon munter Wünsche, Hoffnungen und Ängste auf die neue Regierung. Das einflussreiche britische Magazin Economist hat den Ton vorgegeben: »Angela Merkel ist befreit worden, um auf Veränderung zu drängen.« Schon vor der Wahl behauptete das ehrwürdige Kampfblatt des Wirtschaftsliberalismus, nicht Merkels »eigene Natur« habe sie gehindert, schärfere Reformen durchzupeitschen, sondern »die Gefangenschaft bei ihren Partnern von der SPD: Es ist Zeit, Angela zu befreien, damit wir sehen, was sie vermag.« Die Titelseite zeigte Merkel denn auch als Prinzessin im goldenen Käfig, bekleidet mit ihrer bekannten großkoalitionären Häftlingstracht – roter Blazer, schwarze Hose.
Als Befreier Angela Merkels feiert man nun den international weitgehend unbekannten »Mr. Westerwelle«. Durch ihn, so die Lesart, könne Merkel nun endlich wieder ihr altes Leipziger Reform-Selbst sein: »Und die neue schwarz-gelbe Regierung könnte genau das sein, was Deutschland braucht.« Fragt sich bloß, warum die aus der babylonischen Gefangenschaft unter Frank Nebukadnezar Steinmeier Befreite die ganze Woche nach der Wahl damit verbringt, ihren vermeintlichen Retter zu entzaubern. Angela Merkel hatte nichts Dringenderes zu tun, als die Liberalen in die Schranken zu weisen und Westerwelle klarzumachen, dass es in den Koalitionsverhandlungen eigentlich nichts zu verhandeln gebe. Eine komische Befreiung. Nach dem ersten Treffen der Delegationen haben beide Seiten immerhin Freude darüber bekundet, künftig miteinander regieren zu dürfen.
Auch über Westerwelles Außenpolitik weiß der Economist schon Genaueres als der wahrscheinliche Minister: Er sei viel »proamerikanischer« als sein Vorgänger und werde darum die deutschen Truppen länger in Afghanistan lassen. Und: »Weil er härter zu den Russen ist, wird er in einem Streich die deutschen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa verbessern.« Dass die Russen sich schon fürchten, ist aber unwahrscheinlich. Denn Westerwelle hat Scheel und Genscher – die personifizierte Entspannungspolitik – als Maskottchen der bundesrepublikanischen Kontinuität erkoren. Niemand würde sich wundern, wenn er im gelben Pullunder in sein neues Amt einzöge.
Während die einen Westerwelle als Putins neuen Zuchtmeister begrüßen, ergehen sich andere in traditionelleren britischen Fantasien über die deutsche Rolle in Europa. Beim Londoner Independent löste Westerwelles Weigerung, die Frage eines BBC-Reporters bei seiner ersten Pressekonferenz auf Englisch zu beantworten, altbewährte antideutsche Reflexe aus: »Wenn so etwas von dem Mann kommt, der wahrscheinlich deutscher Außenminister wird, dann ist das ein erhellender Vorgeschmack auf neuen teutonischen Geltungsdrang in internationalen Angelegenheiten.« Die Zeitung schrieb aber auch, Westerwelle sei »dauergebräunt« – was eigentlich wieder ziemlich unteutonisch ist.
Seit dem Wahlabend hat Angela Merkel immer wieder ihre Entschlossenheit zu Kontinuität demonstriert. Die Londoner Times hingegen hat hocherfreut einen »klaren Rechtsruck« in der deutschen Politik erkannt: Jetzt könne Merkel – »von der Leine gelassen« – endlich beweisen, dass sie keine »verkleidete Sozialdemokratin« sei. Auch die New York Times glaubt, Merkel werde jetzt »endlich die Chance haben, die Pläne für Liberalisierung durchzusetzen, die sie schon vorgeschlagen hatte, als sie zum ersten Mal kandidierte«. Und selbst der eher linksliberale Guardian hängt der Theorie von der »entfesselten Kanzlerin« an und sieht kommen – halb bangend, halb hoffend –, dass »Angela Merkel sich noch als Deutschlands Maggie Thatcher entpuppen« könnte. Ob man Le Monde (»Deutschland rückt nach rechts«), den Figaro (»Die konservative Revolution geht ihren Weg«) oder das Wall Street Journal (»klares Mandat für eine ideologische Lagerpolitik«) liest – überall wird das deutsche Wahlergebnis befreiungstheologisch gedeutet: Angie – free at last!
Wie mag das alles wohl die Kanzlerin erleben, von der es heißt, sie lese sehr viel Zeitung in diesen Tagen des Übergangs? Kaum vorstellbar, dass Merkels nahezu britisch stark ausgeprägtes Ironie-Gen nicht anspringt auf die Suggestion, dass sie sich nun befreit fühlen soll – während sie doch schon voll und ganz mit der Zähmung ihres selbstbewussten neuen Partners beschäftigt ist. Aber etwas Schmeichelhaftes hat der Mythos der befreiten Kanzlerin natürlich auch: Solange über die neue Regierung wenigstens im Ausland noch lebhaft getagträumt wird, kann es so schlecht um Deutschlands Platz in der Welt nicht stehen.

 

Was Außenminister Westerwelle will

Die Internationale Politik, das Organ der DGAP, hat das erste Interview mit dem Schatten-Außenminister:

Westerwelle: Für viele Menschen in der Welt sind die USA immer ein Orientierungspunkt für Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit gewesen. So haben auch viele Deutsche die USA über die schwierige Zeit des Kalten Krieges hinweg zu Recht gesehen – und übrigens auch jenseits des Eisernen Vorhangs, wo die USA immer eine enorme Anziehungskraft auf die Menschen ausgeübt haben. Dieses Bild hat in den vergangenen acht Jahren durch viele außen- wie innenpolitische Fehler der US-Administration Risse bekommen. Mit der Wahl von Barack Obama zum Präsidenten haben die Amerikaner ihre Fähigkeit zum Politikwechsel beeindruckend unter Beweis gestellt. Dabei sind es weniger die Ziele als die Wege, die Barack Obama von seinem Vorgänger unterscheiden – Dialog statt Isolation, Einbindung statt Eindämmung, Kooperation statt Unilateralismus, Stärke des Rechts statt Recht des Stärkeren.

… Wir wollen und brauchen den engen Schulterschluss mit den USA.

(…)  Meine Partei hat es deshalb als schweres Versäumnis wahrgenommen, dass die Bundesregierung die Möglichkeit, den Prozess der Neuausrichtung amerikanischer Außenpolitik nach den Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen, ungenutzt hat verstreichen lassen. Die Bundesregierung hat die Chance vertan, sich mit eigenen Ideen und Vorschlägen einzubringen und damit die Neuausrichtung amerikanischer Geostrategie mit zu beeinflussen. Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass die Begeisterung für Barack Obama in Deutschland nirgends so wenig geteilt wurde wie in der Bundesregierung.

(Das letztere ist schon mal ein ziemlicher Schienbeintritt für Merkel. JL)

IP: Was sagen Sie zu Afghanistan: Exit-Strategie oder Bekenntnis zum Engagement?

Westerwelle: Jeden Bundeswehreinsatz wollen wir so schnell wie möglich wieder beenden. Man sollte aber nicht den Eindruck erwecken, als wären Exit-Strategie oder Bekenntnis zum Engagement Alternativen, die zum gleichen Ziel führten. Jetzt aus Afghanistan abzuziehen hieße, das Land wieder radikalen Islamisten zu überlassen, die erst die eigene Bevölkerung terrorisieren und dann den Terror in die Welt tragen. Die Bilder von öffentlichen Hinrichtungen und die Zerstörung religiöser Stätten durch die Taliban sind mir noch ebenso gut im Gedächtnis wie der 11. September 2001. Beides darf es in Zukunft nicht mehr geben. Dass man dies nicht dauerhaft von außen garantieren kann, ist vollkommen klar. Deshalb müssen die Afghanen so schnell wie möglich in die Lage versetzt werden, selbst für die Sicherheit in ihrem Land zu sorgen, damit die Entwicklung in anderen Bereichen weiter voranschreiten kann.

Dann wird auch der Zeitpunkt gekommen sein, einen schrittweisen Abzug der internationalen Truppenpräsenz in Afghanistan einzuleiten. Bei der Polizeiausbildung ist die Bundesregierung zu lange ihren selbst eingegangenen Verpflichtungen nicht ausreichend nachgekommen. Wer aber heute überstürzt abziehen will, der macht Kabul wieder zur Hauptstadt der Terroristen in der Welt. Wir sind nicht aus Altruismus in Afghanistan, sondern zum Schutz unserer eigenen Sicherheitsinteressen.

(Das sagen alle, aber wikrlich alle, außer der LINKEN. JL)
IP: Wie ist eine atomare Aufrüstung des Iran zu verhindern? Wie müsste der Umgang mit einer Atommacht Iran gestaltet werden? Und weiter: Wie wollen, wie können sich Deutschland und Europa für eine Friedenslösung in Nahost einsetzen?

Westerwelle: (…)

Eine Lösung im Streit um das iranische Atomprogramm fällt den Beteiligten auch deshalb so schwer, weil ihr Verhältnis durch viele Traumata belastet ist. Einer der Schlüssel zur Lösung liegt ohne Zweifel im iranisch-amerikanischen Verhältnis. Präsident Obama hat in seiner Kairoer Rede einen Kurswechsel vollzogen und einen ersten mutigen Schritt gemacht. Mit seiner Würdigung der iranischen Kultur und seinem Angebot zu direkten Verhandlungen hat er sich deutlich von der Eindämmungs- und Eskalationspolitik seines Vorgängers abgegrenzt. Er hat seine Fähigkeit zur Deeskalation unter Beweis gestellt, ohne dabei naiv zu sein. Das ist auch deshalb richtig und wichtig, weil es den Hardlinern in Teheran die Möglichkeit nimmt, den Westen als Provokateur darzustellen, was gerade angesichts des innenpolitischen Drucks im Iran wieder versucht wird.

Ein weiterer Schlüssel zur Entschärfung des Atomstreits liegt in der Umsetzung des Nichtverbreitungsvertrags (NPT), also einer konsequenten Politik der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Zwei wesentliche Elemente des NPT-Vertrags sind das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt sowie das garantierte Recht zur friedlichen Nutzung der Atomenergie. Je ernster die existierenden Atommächte ihre Verpflichtung für eine nuklearwaffenfreie Welt nehmen, desto glaubwürdiger werden sie auch gegenüber Staaten wie dem Iran, denen eine nukleare Bewaffnung verlockend erscheint.

Hinsichtlich des Rechts auf eine friedliche Nutzung der Atomenergie sind kreative Ansätze gefragt, die den Energieinteressen der einen ebenso gerecht werden wie den berechtigten Sicherheitsinteressen aller anderen. Die Idee der Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs ist eine Möglichkeit, die uns dabei vielleicht weiterhelfen könnte. Wie bei nahezu allen Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle kommt es auch hier auf eine lückenlose Kontrolle an. (…)

(Interessant ist die starke Festlegung auf Abrüstung. Volle Kontinuität zu Steinmeier. Ob Guido mehr bewegen kann? JL)

(…)

IP: Welche außenpolitischen Prioritäten setzen Sie?

Westerwelle: Wir Liberale wollen, dass sich Deutschland wieder an die Spitze jener Staaten stellt, die für eine konsequente Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle eintreten. Konsequente Abrüstung und Rüstungskontrolle bedeuten mehr Sicherheit und mehr Vertrauen. Den Trend der vergangenen Jahre – wachsendes Misstrauen und daraus folgend die Gefahr einer neuen Aufrüstungsspirale – gilt es durch eigene Abrüstungsinitiativen umzukehren. Wir haben es für einen großen Fehler gehalten, dass sich Deutschland zuletzt bei den Themen Abrüstung und Rüstungskontrolle so passiv gezeigt hat, obwohl unser Land bei diesem wichtigen Thema große Glaubwürdigkeit genießt.

(…)

Deutsche Außen- und Europapolitik war auch deshalb in den achtziger und neunziger Jahren so erfolgreich, weil wir die Interessen der kleineren Staaten ernst genommen und bei der Formulierung unserer eigenen Politikansätze berücksichtigt haben. Hierzu müssen wir wieder zurückfinden. Es ist ein Skandal, dass die Regierung in ihrer Politik gegenüber kleineren europäischen Ländern vor allen Dingen durch abfällige Worte aus dem Munde des Finanzministers aufgefallen ist.

(„Nimm dies, Steinbrück, Du böser Feind aller Steuerflüchtigen!“ Also das hätte er sich sparen können! JL)

 

Erkennen Sie den Genossen…

…, der hier spricht? (Wer warnt in folgendem Zitat so eindringlich vor der drohenden Ökonomisiserung unserer Außenpolitik und macht dabei Heinrich Böll zum Zeugen?) Wer’s richtig rät, wird gegruschelt.

„Regime, die Bürger steinigen oder ihren Mädchen Bildung verweigern, die Gefangene foltern oder unliebsame Nachbarn erpressen, die Glaubens- und Gewissensfreiheit mit Füßen treten oder Terror exportieren, müssen unseren Druck spüren. Die universell anerkannten Werte – wie der Respekt vor der Würde des Menschen – sind jene Grenze, ab der aus dem Prinzip der  Nichteinmischung gemeinsame Verantwortung wird. Wer hier ehrlich auftritt, gewinnt mehr Glaubwürdigkeit als jener, der leisetritt und Deutschland im Ausland nur als oberster Handelsvertreter repräsentiert. Heinrich Böll hat uns ins Stammbuch geschrieben: Es gibt eine Pflicht zur Einmischung in die innere Angelegenheit der Menschenrechte.

 

Die Internationale

Mein Porträt der Außen-Bundeskanzlerin Merkel aus der ZEIT von heute, Nr. 40. S. 2:

Was bleibt? Das Gruppenfoto im Strandkorb von Heiligendamm? Der Dalai Lama im Kanzleramt? Angela Merkel neben Obama in Buchenwald? Die Rede in der Knesset? Die frostige Pressekonferenz mit Medwedjew nach dem Georgienkrieg? Der Krawall-Auftritt für mehr Finanzregulierung mit Sarkozy in London? Im roten Anorak in Grönland, als Gletscherschmelztouristin? Es ist schwer, den einen symbolischen Moment für die Außenpolitik Angela Merkels zu finden – wie bei Schröder das Nein von Goslar. Außenkanzlerin Merkel hatte viele davon. Kein einziger allein erlaubt den Blick in den Kern ihrer Politik. Gibt es denn einen Kern? Und ist das überhaupt eine sinnvolle Frage in diesen Krisenzeiten?
merkelgipfel

Angela Merkel in ihrem Element Foto: Regierung Online/Kugler

Kurz vor der Bundestagswahl bekommt Angela Merkel noch einmal die Chance, als Krisenretterin und Klimakanzlerin ganz groß zu punkten. In Pittsburgh kann sie sich als Vorkämpferin für Finanzmarktregulierung und CO₂-Reduktion auf größtmöglicher Bühne profilieren, während ihr Herausforderer daheim letzte Bierzelte und Marktplätze abklappern muss. Die Götter meinen es gut mit Angela Merkel und stellen sie auch in dieser Woche wieder im bunten Blazer zwischen lauter pinguinfarben gekleidete Männer.
Und so entsteht ein Muster: Angie und die starken Männer. Wie Angela Merkel sich unter den Mächtigen behauptet hat, offenbart viel über ihren außenpolitischen Stil. Manch einer hat sich früh ein Bild von ihr gemacht und es später revidieren müssen. George W. Bush zum Beispiel.
2003 schrieb sie ihm einen offenen Brief in der Washington Post, in dem sie sich ziemlich anbiedernd von Schröders Nein zum Irakkrieg absetzte. Bush hielt das für einen Treueschwur. Doch als sie Kanzlerin wurde, hat sie ihm wenig geschenkt: Kampftruppen für Afghanistan? Bombardierung Irans? Ukraine und Georgien in die Nato? Dreimal njet aus Berlin. Er blieb Fan, lud sie gar auf seine Ranch in Texas und versuchte ihr beim G-8-Gipfel den Nacken zu massieren. Merkels Zurückzucken wurde ein YouTube-Hit. Die Kanzlerin ließ Bush am Ende nicht mal mehr in die Hauptstadt. Der »liebe George« auf Abschiedstournee musste draußen warten, ein dead man walking im goldenen Gefängnis des Barockschlosses Meseberg. Berliner Bilder mit dem multipel Gescheiterten waren nicht erwünscht.
Auch Obama hielt sie schon vor dessen Wahlsieg auf Distanz. Das Brandenburger Tor gönnte sie ihm nicht als Kulisse. Es war dann sicher nicht leicht, Hunderttausende zum Großen Stern pilgern zu sehen, wo der Global-Charismatiker ersatzweise auftrat. Merkel hat anfangs auffällig spöttisch über die »Obamania« gesprochen. Gegen Bush war es leicht, gut auszusehen. Der ambitionierte Neue drängte »Miss World« aus dem Rampenlicht. Es war mehr als Neid: Charisma in der Politik aktiviert Merkels sehr dominantes Skeptiker-Gen.
Die Krise hat ihr Verhältnis zu Obama verändert: Merkel verweigerte sich zwar dem amerikanischen Druck, die Notenpresse auf Vollgas laufen zu lassen. Und Gefangene aus Guantánamo wollte sie auch nicht aufnehmen. Aber heute treibt sie die Sorge um, der Präsident könnte im Gerangel um seine Gesundheitspolitik so geschwächt werden, dass sein Schwung für eine Weltinnenpolitik verloren ginge. Iran, Nahost, Klima, Finanzkrise – kann man da ohne ein starkes Amerika vorankommen? Vorerst nicht. Ihre Berater rühmen, sie habe die transatlantischen Beziehungen »entspannt«. Ernüchtert wäre vielleicht das bessere Wort. Das wäre die Parallele zu Merkels Umgang mit den Herrschern der anderen Großmacht, deren Abstieg bereits weiter fortgeschritten ist.
Wenn Merkel zu Putin oder Medwedjew fuhr, fanden keine trauten Vieraugengespräche statt wie zu Schröders Zeiten. Putin, stets vorneweg beim Wettbewerb um den Titel des Weltpolitmachos, gerne auch halb nackt angelnd, machte sich einen Spaß daraus, seinen schwarzen Labrador Koni an der Bundeskanzlerin schnüffeln zu lassen – wohl wissend, dass diese Angst vor Hunden hat. Das war die Rache dafür, dass sie Dissidenten traf und beharrlich den Fall der ermordeten Journalistin Politkowskaja ansprach. Aus solchen Gesten wurde Merkels Bruch mit dem Erbe der Entspannungspolitik konstruiert. Das Eigene an Merkels Russlandreisen war aber, dass sie die falsche Alternative Annäherung oder Menschenrechte mied.
Merkel pflegt die Distanz. In der Georgienkrise fand sie als Vermittlerin mit Nicolas Sarkozy einen wohltuend erwachsenen Ton. Sie ließ keine Zweifel aufkommen, dass sie Saakaschwili für einen Hasardeur hielt und dennoch den russischen Einmarsch für ein Unrecht, ja schlimmer: für Torheit.
Aber sie hat eben keine andere Russlandpolitik gemacht als ihre Vorgänger. Im Gegenteil: Sie hat sie noch intensiviert. Dass sie etwa beim Nato-Gipfel in Bukarest den von der Bush-Regierung gewünschten Beitritt Georgiens und der Ukraine auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben half, entzückte Putin. »Das vergesse ich dir nie«, soll er der Kanzlerin gesagt haben. Und wie sie zwei Jahre später im Zeichen der Krise deutsches Steuergeld lockergemacht hat, damit Russland ein amerikanisches Unternehmen mit deutscher Ingenieurkultur kaufen kann, wird Putins gute Meinung von Merkel noch gefestigt haben. Nicht nur Opel, auch die Rostocker Wadan-Werften hat die Kanzlerin einem russischen Investor angedient. Mehr »Wandel durch Verflechtung« (Steinmeier) könnte auch ein ostpolitisch gesinnter SPD-Kanzler kaum zuwege bringen. Aber Angela Merkel ist eine bessere Verkäuferin sozialdemokratischer Politik als die Genossen. Das zeigte sich im lautesten Streit um die Außenpolitik.
Dass Merkels Einladung des Dalai Lama ins Kanzleramt zum Symbol ihrer Geradlinigkeit wurde, ist vor allem der Dummheit der anderen Seite geschuldet, sich die chinesische Empörung allzu eifrig zu eigen zu machen. Die Kanzlerin hatte gar kein großes Zeichen setzen wollen. Merkel empfing den schmunzelnden Wohlfühl-Geistlichen vor allem, weil er eben populär ist. Sie hatte dabei ihren Kredit bei den Chinesen überschätzt. Als der Schaden da war, machte Merkel aus einem diplomatischen Ungeschick eine Demonstration der Prinzipientreue. Ihr Kritiker Steinmeier sah sich gezwungen, zu betonen, auch er spreche in China Missstände an. Punktsieg Kanzlerin, gerade weil es dann der Außenminister war, der die Chinesen mühsam wieder einfangen musste.
Das Publikum sah fortan sich selbst gespiegelt im Bild einer angstfreien Kanzlerin, und wen wundert’s: Es mochte dieses Bild. Später legte Merkel sich wegen des Holocaust-Leugners Williamson sogar mit dem Papst an. Anders als beim Dalai Lama hat sie dies bei der eigenen Basis auch einiges gekostet. Katholische Stammwähler sehen den Papst nicht gerne auf der Bank der Sünder.
Die deutsche EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 war ein Erfolg mit manchmal bizarren Zügen. Merkel kämpfte für den Lissabon-Vertrag, nachdem die Verfassung in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war. Dann kam Polen mit der »Quadratwurzel«-Offensive. Man wollte das Stimmrecht der großen Länder gegenüber den mittelgroßen relativieren, indem nicht die absolute Bevölkerungszahl, sondern die Quadratwurzel daraus zugrunde gelegt werden sollte. Als Kaczyński Merkel vor die Wahl stellte »Quadratwurzel oder Tod«, ließ sie ihn seelenruhig implodieren wie schon so viele Parteivorsitzende, Ministerpräsidenten und Fraktionsvorsitzende in ihrem Leben. Geschafft. Ironischerweise musste sie am Ende feststellen, dass die härtesten Europagegner in der heiß geliebten bayerischen Schwesterpartei sitzen.
Ihren Ruf als Klimakanzlerin hat sie selbst ramponiert, als sie im Streit um die CO₂-Emissionen ziemlich unverhohlen das Interesse der deutschen Autobauer pushte, bei den dicken Schlitten Marktführer zu bleiben. Der fotogene Auftritt im roten Jack-Wolfskin-Jäckchen vor dem grönländischen Eqi-Gletscher wirkt im Rückblick nach Merkels Brüsseler Autolobby-Auftritten unglaubwürdig.
Zum drängendsten außenpolitischen Thema hat Merkel sich widerwillig schubsen lassen. Über den Einsatz in Afghanistan hat sie lange nur unwillig bis pflichtschuldig gesprochen. Erst nachdem die Grünen triezten, sie solle endlich mal hinfliegen, tauchte sie bei den Soldaten am Hindukusch auf. Und es bedurfte der tragischen Entscheidung des Obersts Klein und massiver Kritik der Alliierten, um Merkel zu einer Bundestagsrede zu inspirieren – immerhin im Jahr acht des deutschen Krieges.
Gibt es also einen Kern? Ein vernünftiger Pragmatismus beim Einsatz für Entspannungspolitik, europäische Integration, Klimakompromisse und Menschenrechte, allerdings verbunden mit einem schärferen Sinn für Symbolik als ihre Vorgänger – keine Nebensache in der Außenpolitik. Sehr bundesrepublikanisch eigentlich, doch mit einem diffusen Versprechen von mehr.
Angela Merkels machtvollster Moment zeugt davon. Das Gruppenfoto im Strandkorb von Heiligendamm hat ihn eingefroren: acht wichtige Männer, mittendrin die Dame im grünen Sakko. Sie ist perdu, diese G-8-Welt. Nach der Krise regieren die G 20. Wie Macht und Einfluss in dieser Welt funktionieren, weiß in Wahrheit kein Mensch. Wenn Angela Merkel eine zweite Amtszeit erlebt, beginnt eine Reise in unbekanntes Terrain.

 

Drei Muftis in zwei Tagen: Wolfgang Schäuble internationalisiert den Dialog mit den Muslimen

(Aus der ZEIT Nr. 27 vom Donnerstag, 25. Juni 2009)

Kairo, im Juni
Das Smartphone des Großmuftis vibriert, er nimmt den Anruf an und beginnt hinter vorgehaltener Hand vernehmbar zu plaudern. Der deutsche Innenminister – Ehrengast bei diesem Dinner mit islamischen Würdenträgern – schaut kurz irritiert auf den Nil und fährt dann fort, andere Teilnehmer mit Fragen zu löchern: Wie stark sind die Muslimbrüder wirklich? Schützt der Staat die christliche Minderheit? Wie kooperiert die Regierung mit den theologischen Fakultäten?

Der Nil in Kairo, südwärts      Foto: Jörg Lau
Ägyptens Mufti Ali Gomaa hat unterdessen sein Gespräch beendet und tippt nun eine SMS. Neben ihm sitzt Großscheich Tantawi von der Al-Azhar-Universität, höchste Autorität des sunnitischen Islams. Doch auch er spricht ins Handy, und so verbringt der deutsche Innenminister den Rest des Dinners neben zwei plaudernden Turbanträgern, die offenbar durchaus Interesse am Dialog haben – nur nicht mit ihm.
Wolfgang Schäuble ist 3000 Kilometer weit geflogen, um das Gespräch mit den Muslimen zu internationalisieren. Er sucht in den Herkunftsländern dieser für Deutschland noch immer neuen Religion nach Partnern für das Projekt, das ihm zur politischen Lebensaufgabe geworden ist: die Einbürgerung des Islams in Deutschland. Schäuble wirbt in Alexandria, Kairo und Damaskus auch für seine Islamkonferenz.
Vor allem aber will er verstehen: Der Aufruhr in Iran treibt ihn um, bei dem Hardliner wie Reformer die Sprache des politischen Islams benutzen. Werden diejenigen sich durchsetzen, die Islam und Demokratie für kompatibel halten? Oder wird der militärisch-theologische Komplex der Islamischen Republik Iran die Reformer niederwalzen? Und wie geht es mit dem moderaten Islamismus der türkischen AKP weiter? Wird sich daraus ein glaubensbasierter, aber pragmatischer Konservatismus entwickeln wie in der euro­päischen Christdemokratie?

Landschaft mit Ministerkolonne Foto: Jörg Lau
Dass Entwicklungen in weit entfernten Ländern Rückwirkungen auf die deutsche Dis­kus­sion um den Islam haben werden, ist Wolfgang Schäuble nur allzu bewusst. In Kairo und Damaskus fragt er: Was tut ihr gegen die Radikalisierung der Jugend? Wie entwickelt ihr die Theologie weiter? Wie stellt ihr euch die Rolle des Islams in einer globalisierten Welt vor?
Es kommt an diesem Wochenende ernüchternd wenig zurück. Drei Muftis in zwei Tagen, neben den beiden Ägyptern noch ein Syrer, hinterlassen beim deutschen Innenminister das Gefühl: Bei diesem Kampf sind wir allein. Auf die arabischen Gelehrten kann er nicht bauen. Verkehrte Welt: Wer dem deutschen Innenminister zuhört, wie er die Würdenträger mit seinen besorgten Nachfragen wachzurütteln versucht, erwischt sich bei der Frage: Wer ist hier eigentlich der Obermufti? Wer macht sich mehr Gedanken um die Zukunft des Islams?
Gleich nach dem Dinner mit Nil-Blick rast Schäubles Kolonne zur Universität Kairo, wo der Minister eine Rede über das »Miteinander der Religionen« hält – unmittelbar gegenüber dem Saal, in dem 18 Tage zuvor der amerikanische Präsident eine Rede an die »muslimische Welt« gerichtet hat. Schäuble bemüht sich zwar, schon aus Gründen der Fallhöhe, nicht im gleichen Genre anzutreten. Er spricht über seine Erfahrungen mit der Islamkonferenz und über seine Vision für ein gleichberechtigtes und friedliches Zusammenleben der Religionen in Deutschland. Doch für viele unter den etwa 300 Zuhörern ist er in diesem Moment auch ein weiterer Repräsentant des Westens, der sich um Entspannung und Abrüstung im Krieg der Kulturen bemüht. Dass so eine »bedeutende Persönlichkeit«, wie die Moderatorin mehrmals betont, hierher gekommen ist, um sich der Debatte zu stellen, wird mit Genugtuung aufgenommen. Wie die Welt sich doch verändert hat: Ein Innenminister macht Außenpolitik. Die lange geforderte »Weltinnenpolitik« beginnt mit kleinen Schritten.
Und plötzlich, in dem stuckge­schmückten Foyer der Kairoer Universität, bekommt Schäuble doch noch die Debatte, die ihm die telefonierenden Muftis schuldig blieben: Ein ägyptischer Säkularer hält es für einen Fehler, dass der Staat überhaupt mit der Religion kooperiere. Eine Feministin sorgt sich um die Rechte der Frauen, wenn die konservativen Gläubigen mitbestimmen dürfen. Und eine Teilnehmerin mit Kopftuch fragt misstrauisch: Wollen Sie einen deutschen Islam schaffen, Herr Minister?

Der Innenminister trifft den Stellvertreter seines syrischen Kollegen   Foto: Jörg Lau

Nein, repliziert Schäuble. Er wolle überhaupt keinen »Islam schaffen«. Er sei bloß für die Rahmenbedingungen zuständig, unter denen die Muslime sich dann selbst entfalten müssten.
Das ist die politisch und juristisch korrekte Antwort. Aber sie ist nicht ganz aufrichtig. Denn natürlich geht es dem Minister um ebendies: die Förderung eines deutschen, eines europäischen, eines moderneverträglichen, westlichen Islams. Das ist eine Lehre der Nahostreise des Innenministers, die er so natürlich niemals aussprechen wird: In der islamischen Welt gibt es herzlich wenige brauchbare Partner für diese Entwicklung. Wenn man von zwei modernen theologischen Fakultäten der Türkei in Ankara und Istanbul absieht, muss man der Tatsache ins Auge sehen, dass die Reform des Islams ein langwieriger europäischer Kraftakt sein wird. Diese Reise macht das schmerzlich klar. In der Kairoer Uni sagt Schäuble, es sei jetzt »Zeit zu handeln«, sonst würden »die anderen« weiter die Religion missbrauchen, »um die Welt zu zerstören«. Großer Beifall.
Schäubles doppelte Mission, wie er sie in Kairo entfaltet, ist folgende: Wir Europäer, sagt er, müssen uns daran gewöhnen, dass die Religion, die wir als politischen Faktor schon abgehakt hatten, wieder sichtbarer geworden ist – und dies vor allem durch die muslimische Präsenz auf unserem Kontinent. Und die Muslime müssen, wenn sie die Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften erreichen wollen, ohne Vorbehalt ihren Frieden mit Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechten machen.

Omajadenmoschee in Damaskus     Foto: Jörg Lau
Schäuble sagt den Satz immer wieder, mit dem er seinerzeit die Islamkonferenz eröffnet hatte: »Der Islam ist ein Teil Deutschlands.« Wenn man sich in einigen Jahren zu vergegenwärtigen versucht, was die Große Koalition eigentlich zustande gebracht hat, werden diese sechs schlichten Worte dazugehören: Sie haben eine Zeitenwende im deutschen Selbstverständnis eingeläutet. Der Minister weiß das, und er ist unverholen stolz darauf. Er genießt die Verwirrung seiner Beobachter, dass der Autor dieser Worte derselbe Schäuble sein soll, der einst gegen die doppelte Staatsangehörigkeit polemisiert und die populistische Kampagne Roland Kochs gegen den »Doppelpass« unterstützt hatte.
Aber ist es wirklich derselbe? Ist das einfach nur konsequent, wie er selbst zu glauben scheint: Wer die Integration will – so die innere Logik, die den Schäuble des Jahres 2000 mit dem von heute verbindet –, darf sich eben nicht scheuen, Einwanderern die Loyalitätsfrage vorzulegen und eine Entscheidung für dieses Land abzuverlangen. Und darum sei er eben auch heute noch gegen die doppelte Staatsangehörigkeit.
Mag sein. Aber als Unterstützer einer hässlichen Kampagne wie seinerzeit kann man sich ihn eben einfach nicht mehr vorstellen. Und das spricht dafür, dass irgendetwas Grundlegendes passiert sein muss, ein auch für ihn selbst überraschender, unabgeschlossener Lernprozess.
Als er 2005 zum zweiten Mal Innenminister wurde, waren gerade die Bomben in Londoner U-Bahnen explodiert. Die Pariser Banlieue brannte, und kurz darauf starben Menschen wegen der dänischen Mohammed-Karikaturen. Während die Rechte vielerorts in Europa mit antiislamischer Rhetorik reüssierte, startete Schäuble mit der Islamkonferenz ein gesellschaftliches Experiment: Entspannungspolitik im Inneren, gegen den populistischen Strom der Zeit.

Freundlich grüßen Vater und Sohn Assad. Flughafen Damaskus    Foto: Jörg Lau

Wolfgang Schäuble ist stolz darauf, dass Rechtspopulisten in Deutschland kaum Chancen haben, mit Hetze gegen Moscheebauten und Kopftücher Stimmen zu gewinnen. Dass »Pro Köln« es nicht vermochte, die Domstädter gegen die geplante Großmoschee zu agitieren, schreibt er nicht zu Unrecht auch seiner Politik gut. In seiner eigenen Partei seien die Abwehrreflexe rückläufig: Klar könne man auch dort Menschen finden, erklärt er, die erst mal eine Abwehrhaltung einnehmen – »Muslime, uuh!« –, aber in Wahrheit seien die Leute in seinen Parteiversammlungen stolz, dass die Union bei dem Thema heute führe. Luftherrschaft über den Stammtischen bedeute, für klare Luft zu sorgen, »nicht sich dem Mief anzupassen«. Die Leute wollen vielleicht ja gar nicht, sinniert der Minister, »dass wir ihnen nach dem Mund reden«. Sie wollen Führung, sagt er verschmitzt. Wer mag, darf diesen Satz wohl auch auf andere Politik­bereiche beziehen.
Auf dem Rückflug von Damaskus, nach einem weiteren enttäuschenden Gespräch mit dem dortigen Großmufti, macht Wolfgang Schäuble schon Pläne für die nächsten vier Jahre. Weil wir auf die Scheichs und Muftis nicht zählen können, brauchen wir schnell eine richtige islamische theologische Fakultät in Deutschland. Er werde Druck machen, dass sich ein Bundesland der Sache annehme, sagt er. Der Innenaußenminister nun auch noch als Bildungsminister?
Deutschland hat noch kein Inte­grationsministerium, aber einen Integrationsminister in einem ganz wörtlichen Sinn: Er hält die widerstreitenden Pole in der Konferenz zusammen, die islamkritischen Feministinnen und die konservativen Herren von den Verbänden, die ihn gleichermaßen respektieren. Und er kann auch die skeptischen Teile der deutschen Mehrheit integrieren, vielleicht gerade weil er selber früher harte Töne angeschlagen hat. Und weil er auch das Inbild des harten Sicherheitsministers abgibt. In der Islamkonferenz, so hat es Navid Kermani als Teilnehmer formuliert, müssten »die Beteiligten gewissermaßen stellvertretend für ihre Gesellschaft lernen, wie kompliziert es sich mit den Identitäten verhält«. Das gilt ganz offensichtlich auch für ihren Erfinder.

 

Steinmeier: Warum atomare Abrüstung unseren Interessen dient

Aus einem Gespräch, das ich gestern mit dem Kollegen Peter Dausend zusammen geführt habe:

DIE ZEIT: Herr Steinmeier, nach der Woche der drei Gipfel wird die Erde atomwaffenfreie Zone, der globale Finanzmarkt geregelt und die Türkei EU-Mitglied. Wie viel Traum steckt darin?

Frank-Walter Steinmeier: Wenn man nicht weiß, wo man hinwill, findet man nicht den Weg. Deshalb ist so unschätzbar wichtig, dass der amerikanische Präsident in Prag die atomwaffenfreie Welt als Ziel seiner Politik beschrieben hat. Das ist Vision und Realismus zugleich. Für mich ist dies das wichtigste Ergebnis der letzten Woche. Ich freue mich natürlich, dass die neue amerikanische Regierung den Weg geht, den ich auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar vorgeschlagen habe. Andere in Deutschland redeten da noch der nuklearen Abschreckungsstrategie das Wort.

ZEIT: Geht es Barack Obama darum, die Glaubwürdigkeit des Westens wiederzugewinnen? 

Steinmeier: Obama weiß, dass wir uns von eigenen Widersprüchen befreien müssen, wenn wir überzeugender gegenüber anderen auftreten wollen. Die Glaubwürdigkeit von Appellen zur atomaren Enthaltsamkeit bleibt begrenzt, wenn man seine eigene Sicherheitspolitik auf atomare Abschreckung gründet. Niemand ist naiv, besonders Obama nicht – er weiß genau, wie schwierig es sein wird, Iran zum Einlenken beim Atomprogramm zu bringen. Das wird leichter zu erreichen sein, wenn die Atomwaffenstaaten selbst abrüsten.

ZEIT: Die Europäer sind begeistert von Obama, wollen aber keine neuen Lasten übernehmen. In Amerika werfen ihm manche schon Schwäche vor.

Steinmeier: Der Vorwurf ist unberechtigt und zeigt lediglich, dass es auch in den USA noch eine Innenpolitik gibt. Und dass da so manchem konservativem Thinktank die Neuausrichtung der Außenpolitik nicht passt, wundert mich gar nicht. Auch in Deutschland spürt man ja ein gewisses Unbehagen in konservativen Kreisen. Ich halte es da mit anderen US-Kommentatoren: Auf seiner Europareise hat Obama für die USA das vielleicht kostbarste Gut in internationalen Beziehungen wieder neu aufgebaut: Glaubwürdigkeit.

ZEIT: Die USA haben eine Dialogoffensive gestartet. Was kann die deutsche Rolle dabei sein?

Steinmeier: Russland, China oder Syrien: Auch in Deutschland glaubten in den letzten Jahren viele, Gesprächsverweigerung sei eine besonders markige Form der Politik. Heute will man daran nicht gern erinnert werden. Die neue US-Regierung sieht genau, wer in den letzten Jahren, in der Phase der Abschottung und Abgrenzung, in der Außenpolitik die Dialogkanäle offengehalten hat. Deshalb sucht sie jetzt verstärkt das Gespräch mit uns. 

Mehr morgen in der ZEIT.

 

Anders Fogh Rasmussen darf nicht Nato-Chef werden

Mein Porträt aus der ZEIT von morgen:

Das hat es so noch nicht gegeben: Die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens haben sich auf einen neuen Nato-Generalsekretär geeinigt. Die Amerikaner signalisieren Zustimmung. Doch dann greift der Premier eines anderen Mitgliedslandes zum Telefon, ruft den Auserkorenen an und erklärt ihm, warum er leider trotz allerhöchster Protektion nicht infrage komme. Damit nicht genug: Der Störenfried wendet sich anschließend an die Presse und macht seine Ablehnung öffentlich. So geschehen am Wochenende, als der türkische Premierminister Erdoğan den Medien in Ankara eröffnete, dass die Türkei den dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen nicht als politisches Gesicht der Nato akzeptieren werde. 

 

Der 56-jährige Rechtsliberale Rasmussen regiert bereits seit 2001 in Kopenhagen, immer aus der Minderheitenposition, zusammen mit den Konservativen, geduldet von den Rechtspopulisten der Folkeparti. Rasmussen hat das sozialdemokratische Machtmonopol in Dänemark gebrochen, die Steuern gesenkt, das Land in zwei Kriege geführt und die schärfsten Ausländergesetze Europas verabschiedet. Er hinterlässt ein anderes Dänemark, wenn er nun auf den Posten des Generalsekretärs wechseln sollte, wie es sein Wunsch ist. 

Ob es allerdings dazu kommt, ist unterdessen fraglich geworden. Weiter„Anders Fogh Rasmussen darf nicht Nato-Chef werden“

 

Warum die Linken den Rechten jetzt Antiamerikanismus vorwerfen

Mein Kommentar zum innenpolitischen Guantánamo-Streit aus der ZEIT (Nr. 6, 2009) von morgen:

Der Wandel, den Barack Obama versprochen hat, kommt nicht nur nach Washington, sondern auch nach Berlin. 

Kaum eine Woche ist der neue Präsident im Amt, und schon steht die deutsche Innenpolitik kopf: Jürgen Trittin von den Grünen wirft Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) »blanken Antiamerikanismus« vor. Und seine Kollegin Renate Künast sekundiert, indem sie die »Undankbarkeit« von CDU und CSU gegenüber den Amerikanern anprangert: »Ich erinnere nur an den Marshallplan, die Carepakete, die Berliner Luftbrücke. Wie kann man da heute sagen, die USA sollen das Problem selber lösen?« 

Das »Problem« ist die Unterbringung der etwa 60 Gefangenen in Guantánamo, die als unschuldig oder ungefährlich gelten und nach Schließung des Lagers dennoch nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil ihnen Verfolgung und Folter drohen. Führende Unionspolitiker hatten gefordert, die Amerikaner sollten die Gefangenen gefälligst selber unterbringen.

Muss, wer Carepakete genommen hat, auch entlassene Gefangene nehmen? Ist Guantánamo ein rein amerikanisches Problem, das uns nichts angeht? Weder noch. Wie Deutschland sich am Ende verhalten wird, ist denn auch ziemlich klar: Es kann weder eine prinzipielle Absage noch eine pauschale Zusage geben. Man wird auf eine eventuelle Anfrage der Amerikaner mit dem Angebot einer europäischen Lösung antworten: Nennt uns 20 oder 30 Gefangene, wir werden jeden Einzelfall prüfen und die Unbedenklichen dann auf die willigen Länder verteilen. Und das leuchtet auch ein: Nachdem wir jahrelang Bush für die Demontage des Rechtsstaates kritisiert haben, werden wir seinem Nachfolger bei dessen Wiederherstellung zur Hand gehen. Klare Sache.

Wirklich? Die Debatte der letzten Woche nährt Zweifel. Es hat sich ein bitterer Streit entzündet, der mit einem erstaunlichen Rollenwechsel einhergeht. Rot-Grün stimmt nun das alte transatlantische Tremolo von Deutschlands historischer Bringschuld gegenüber der amerikanischen Schutzmacht an. Carepakete! Luftbrücke! War man nicht unter Bush noch stolz, endlich erwachsen geworden zu sein? Und nun doch zurück in die Zukunft des Kalten Krieges? 

Die Union wird im Gegenzug – gemeinsam mit dem schwarz-gelben Schatten-Außenminister Westerwelle – derart patzig gegenüber den Amerikanern, dass fast ein Hauch von Schröders Goslarer Nein in der Luft liegt. Räumt euren Mist selber auf! Verkehrte Welt: Hat die Union Steinmeier nicht seinerzeit im Untersuchungsausschuss für seine Hartleibigkeit im Fall Murat Kurnaz kritisiert? Jetzt unterstellt Schäuble dem SPD-Kollegen, er untertreibe die Gefahr, die von den Entlassenen ausgehen könnte, weil er sich bei Obama lieb Kind machen wolle.

Dass die deutschen Parteien mit einem nervösen Rollenspiel auf die Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik reagieren, ist ein Krisensymptom. Durch den neuen Präsidenten ist ungeahnte Verunsicherung ins einst so festgezurrte transatlantische Verhältnis gekommen. Obama erzeugt ganz offenbar erheblichen Stress auch auf unserer Seite des Atlantiks. Paradoxerweise besonders dann, wenn er alte Lieblings-Forderungen der Europäer erfüllt.

Man sollte die Debatte darum nicht als bloßes Wahlkampfgetöse abtun. Sicher wollen die einen gerne im Kielwasser von Obamas change segeln, und die anderen möchten sich als knallharte Sicherheitspolitiker profilieren. Aber insgeheim ahnen beide Seiten schon, dass Obamas Weg auch von Deutschland eine Neuausrichtung jenseits von Rechts und Links verlangt. 

Die Guantánamo-Debatte ist bloß der Anfang eines Gesprächs über die neue Lastenverteilung im Westen. Das Lager zu schließen ist nämlich die Voraussetzung für eine neue Politik gegenüber dem Nahen Osten, die wir lange gefordert haben. Gerade diese wird Deutschland noch vor härtere Fragen stellen. Der neue diplomatische Ansatz gegenüber Iran: Was darf er die deutsche Industrie kosten? Denn ohne schärfere Wirtschaftssanktionen wird Obamas Bereitschaft, mit den Mullahs zu sprechen, nichts bringen. Und falls Obama uns anbietet, über eine neue Strategie in Afghanistan zu reden – was könnte von uns zusätzlich kommen? Geld? Truppen? Andere Mandate? Sollte Amerika wie angekündigt eine ausgeglichenere Politik gegenüber Israel und den Palästinensern verfolgen, würden wir unseren israelischen Freunden bittere Wahrheiten über den Siedlungsbau und die Checkpoints sagen?

Wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, wird zeigen, ob Deutschland wirklich ein freies, erwachsenes Verhältnis zu Amerika gefunden hat. Bush hat es uns sehr einfach gemacht. Er hat nicht nur in Amerika das »kindische« Wesen befördert, das Obama überwinden will. Zu Obama Nein zu sagen wird eine schwierigere Sache. Und Ja zu sagen auch.

 

Links-Aussen

Die LINKE debattiert vor ihrem ersten Parteitag über Israel, Afghanistan und Menschenrechte. Erkundungen zur Aussenpolitik der Linkspartei
(aus der ZEIT vom 21. Mai 2008)

Von Cottbus aus werden am kommenden Wochenende Botschaften in weit entlegene Weltgegenden ergehen. Antrag G 26 zum ersten Parteitag der Linken preist den Erdöl-Autokraten Hugo Chávez – der Angela Merkel gerade mit Hitler verglich – als Pionier eines »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Antrag P 29, eingebracht von der »Cuba Sí AG« in der Linken, feiert die Castro-Diktatur für ihre »fünfzigjährige Erfahrung im Kampf um eine sozialistische Ge­sell­schafts­per­spek­ti­ve«. Mehrere Anträge verlangen die Auflösung der Nato, die Verhinderung des EU-Reformvertrages von Lissabon und den »sofortigen und unbedingten Abzug aus Afghanistan«. So weit, so bekannt: Sympathiebekundungen für Diktatoren (sofern sie sich links geben), die Forderungen, Deutschland aus dem westlichen Bündnis und der EU zu lösen und die Afghanen ihrem Schicksal zu überlassen – so präsentiert sich die Außenpolitik der Linken.
Gut möglich, dass sich noch einmal das linksradikale Antiwestlertum mit allerlei schrillen Redebeiträgen austoben wird. Parteitage sind schließlich in erster Linie Veranstaltungen zur geistigen Heimatpflege. In der Außenpolitik hatte die Linke mangels Machtperspektiven im Bund die Lizenz zum freien Schwadronieren. Auch für die SPD war das recht bequem, es machte die Distanzierung leicht: Mit einer Partei, die so zu Afghanistan, EU und Nato steht, kann man im Bund einfach nicht zusammenarbeiten, wurden Kurt Beck und Frank-Walter Steinmeier denn auch nicht müde zu betonen.
Es könnte allerdings sein, dass die Abgrenzung der SPD eine paradoxe Wirkung entfaltet. Seit die Sozialdemokraten die Außenpolitik zur Demarkationslinie erklärt haben, beginnen bei den Linken Tabus zu fallen, und vormals Unaussprechliches tönt von den Podien.
Nun, da sich mit den Erfolgen im Westen eine Macht­per­spek­ti­ve auch im Bund auftut, dämmert den klügeren unter den Außenpolitikern der Linken, dass die schlichten Parolen nicht mehr tragen. Eine Partei, die in die Regierungsverantwortung hineinwill, kann nicht immer nur »Raus!« (aus Nato, EU und Afghanistan) schreien.
Gregor Gysi hat den bisher gewagtesten Schritt getan. Vor einigen Wochen hielt er eine bemerkenswerte Rede über »Die Haltung der deutschen Linken zum Staat Israel«. Darin findet sich der Satz: »Gerade in parlamentarischen Aktivitäten sollten wir nur Forderungen formulieren, von denen wir überzeugt sind, dass wir sie, wenn wir in einer Bundesregierung wären, auch tatsächlich umsetzten.« Pragmatisch kühl räumt Gysi mit der linken Israelfeindschaft auf. Er nimmt die verlogene Haltung der DDR zum Nahostkonflikt auseinander, die sich als »antifaschistischer« Staat aus der deutschen Verantwortung für Israel gestohlen hatte. In einem Konflikt Israels mit seinen Feinden könne Deutschland – und auch die Linke – nicht »neutral« sein, so Gysi. Der Antizionismus müsse aufgegeben, das Existenzrecht Israels anerkannt werden. Mehr noch: Gysi rät der Linken, zu akzeptieren, »dass die Solidarität mit Israel ein moralisch gut begründbares Element deutscher Staatsräson« sei. Staatsräson? Er hat es wirklich benutzt, dieses Wort, das so verdächtig nach finsteren Kapitalinteressen riecht. Und darum tobt nun auch eine heftige Debatte um Gysis Rede.
Wer die maßgeblichen außenpolitischen Köpfe der Linken aufsucht, trifft auf skeptische Verwunderung. Man ist nicht gewohnt, auf diesem Feld ernsthaft befragt zu werden. Wolfgang Gehrcke, als DKP-Veteran eine schillernde Figur der Westlinken und heute Obmann der Partei im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, vermeidet zwar das Wort Staatsräson im Bezug auf Israel. Er betont, Deutschland sei durch die NS-Verbrechen nicht nur den Juden, sondern auch den Palästinensern verantwortlich. Aber auch er lässt in seiner Entgegnung auf Gysi keinen Zweifel aufkommen, »dass der Zionismus (…) eine angemessene Antwort auf das fundamentale Bedürfnis des über Jahrhunderte verfolgten jüdischen Volkes nach Sicherheit war«. Gehrcke kennt die zerrissene westdeutsche Linke zu gut, als dass er eine schnelle Regierungsbeteiligung für realistisch hielte. Die Partei müsse sich erst zusammenrütteln. Dennoch hat er mit seiner Rede schon einmal einen Pflock an sensibler Stelle eingeschlagen.
Die Abgeordnete Monika Knoche, Leiterin des Arbeitskreises Internationale Politik, ist auf Einladung der Bundeskanzlerin mit nach Israel gereist. Von Merkels Knesset-Rede war sie enttäuscht, weil die Kanzlerin die israelische Besatzung und den Mauerbau nicht einmal erwähnte, wozu Merkel »doch gerade als Ostdeutsche« einen Zugang haben sollte. Wenn Monika Knoche jedoch beschreibt, wie Merkel auf ihren Reisen Deutschland vertritt und wie sie auch oppositionelle Abgeordnete einbezieht, schwingt durchaus Respekt mit. Knoche hat 2001 wegen des Afghanistankrieges die Grünen verlassen. Fragt man sie als Feministin, was ein sofortiger Rückzug für die Frauen in Afghanistan bedeuten würde, kommt sie ins Stocken. Man wolle das Land ja nicht sich selbst überlassen, »Afghanistan ist uns nicht egal«. Man müsse die Rechtskultur wiederbeleben, die Gleichstellung der Frauen in der Stammesversammlung Loya Jirga durchsetzen. Wie das alles ohne Präsenz ausländischer Truppen gehen soll, kann Knoche nicht erklären. Die Truppen müssten ja nicht alle auf einmal gehen, deutet sie an. Den Wählern der Linken teilt man diese Differenzierungen lieber noch nicht mit. Wenn die Linke aber nur einen graduellen Rückzug für möglich hält, weil alles andere Afghanistan ins Chaos stürzen würde: Müsste sie dann nicht für die Präsenz von Truppen stimmen, die zivile Helfer so lange schützen, bis die Afghanen das selbst können? Sie weicht aus. Wichtig sei erst einmal der Einstieg in den Ausstieg: die Rücknahme der rot-grünen »Militarisierung der deutschen Außenpolitik«, ein erster Schritt zu einem rein zivilen Engagement. Die SPD, stellt sie klar, müsse von der Linken lernen, nicht umgekehrt. Einen Kurswechsel der SPD zu erzwingen scheint einstweilen wichtiger zu sein als die Detailfragen eines konkreten Rückzugs.
Was »raus aus Afghanistan« eigentlich bedeutet, ist jedenfalls sehr viel weniger klar, als es auf den Plakaten der Linken erscheint. Auch im Gespräch mit Lafontaines Co-Parteichef Lothar Bisky wird das deutlich. Was der militärische Einsatz denn gebracht habe, fragt er zu Recht. Wenn man jedoch Genaueres über den Abzug der deutschen Truppen wissen will, flüchtet er sich in Floskeln über die Unmöglichkeit einer rein »militärischen Lösung« – an die allerdings selbst die Nato nicht glaubt. Es klingt ein wenig schuldbewusst, wenn Lothar Bisky aufzählt, was die Linke alles für die »afghanische Zivilgesellschaft« tut. Er setze sich persönlich dafür ein, dass Künstlerinnen aus Kabul ihre Bilder in Berlin zeigen könnten, fügt er hinzu. Der erfahrene Bisky weiß, dass die Außenpolitik der Linken in Gefahr ist, vom hohen moralischen Podest (»einzige Antikriegspartei«) in den Zynismus des reinen Ohnemicheltums abzustürzen. Afghanistan den Taliban kampflos zu überlassen mag populär sein. Als emanzipatorische Politik könnte man es kaum verkaufen.
Was heißt eigentlich Internationalismus heute – in Zeiten der Globalisierung? Bisky gerät ins Grübeln: Die alte Internationale sei tot, und zwar zu Recht. »Eine neue ist noch nicht definiert.«
Auf dem Parteitag wird es einzelne Versuche in dieser Richtung geben: Ein Antrag aus Freiburg beschäftigt sich mit der Tibetfrage, zu der die
Parteiführung aus alter Solidarität mit der KP lange peinlich geschwiegen hat. Bei den Menschenrechtsverletzungen in China, heißt es in Antrag G 02, dürfe die Linke ebenso wenig zuschauen wie bei jenen der Besatzermächte in Afghanistan und im Irak.