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Kriegsende

In Kabul sind die Straßen heute so leer wie an einem Wochenende. Es ist Feiertag, die Menschen erinnern sich an das Ende des vorvorletzten Kriegs. Vor 25 Jahren, am 15. Februar 1989 zogen die sowjetischen Truppen ab. Mindestens 1.000 000 Afghanen waren in diesem Krieg gestorben. Und drei Jahre später begann der nächste.

 

Der zerbrochene König

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In meinem Zimmer steht ein Schachbrett aus Stein. Dunkelblau und weiß. Es ist ein ganz normales Schachbrett –  nur, dass der blaue König aus zwei Teilen besteht. Er brach in der Mitte auseinander, als er einmal auf den Fließboden fiel. Wir reparierten ihn mit Sekundenkleber, das hielt bis zum nächsten Matt. Ich mag das Schachbrett trotzdem.

Ich glaube, das liegt an dem Mann, der es mir verkauft hat, ein gut gelaunter Schmuckhändler auf dem Basar von Faisabad. „Wie laufen die Geschäfte“, hatte ich ihn damals gefragt. „Ganz gut“, sagte er. „Schmuck kaufen nur die Reichen. Und die haben ja immer Geld.“

 

Sauber und sicher

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„Schau mal raus, dann siehst du, dass sich hier was verändert hat“, sagte ein Freund neulich. Er meint einen Wohnblock im Stadtviertel Kart i Tscha. Drei Häuser mit lauter kleinen Appartments für Familien. Es gibt Wachleute und eine Pforte. Nachts ist sie geschlossen. „Hier ist es sauber und hier ist es sicher“, sagte mein Freund. „Da sieht man doch den Fortschritt.“

 

Eine Zeitreise

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Im Dezember habe ich in der ZEIT über Band-i-Amir geschrieben, tiefblaue Seen in der Mitte Afghanistans. Der Brief, den mir eine Leserin daraufhin schrieb, hat mich sehr gerührt und ich fragte sie, ob Sie einverstanden sei, wenn ich ihn veröffentlichen würde. Hier ist er:

„Vielleicht interessiert Sie, was eine damals junge Frau 1969 in Band-i-Amir erlebt hat.

Mein Mann und ich – beide Ethnologie-Studenten – waren auf dem Rückweg nach Deutschland nach einer geheimen Expedition in die damals aus militärischen Gründen gesperrten Chittagong Hill Tracts (heute Bangladesh) und fast einem Jahr unterwegs in Nepal, Indien und Sri Lanka. Alles mit lokalen Verkehrsmitteln. Afghanistan hatten wir auf dem Hinweg 1968 bereits besucht und wohnten nun ein Jahr später bei einem deutsch-sprechenden Afghanen in einem Dorf in der Nähe Kabuls, was übersetzt „Burg der Freigebigkeit“ hieß.

Wir waren mit dem Bus nach Bamian gefahren, hatten dort eine Woche verbracht, waren auf den Buddha-Statuen herumgeklettert, und der Duft der Kleefelder im Juli hatte erstmals bei mir Heimweh nach Deutschland hervorgerufen. Haben Sie die Kornblumen gesehen, wie unsere, aber gelb?

Ja und dann hatte man uns von Band-i-Amir erzählt, diese kobaltblauen Seen in der Wüste. Es gab keine Verkehrsmittel damals. Wir fuhren dorthin auf dem Anhänger eines Lastwagens, der riesige Salzsteine geladen hatte. Wir hatten uns in arabische Keffijen gewickelt, um die Staubwolke zu ertragen. Ab und zu mussten alle absteigen, um zu helfen, Steine auf dem Weg beiseite zu räumen.

Als wir schließlich dieses Naturwunder erreichten, gab es dort nichts, was an Zivilisation erinnerte, nur ein Teehaus im Bau. Außer uns waren dort lediglich zwei französische Studenten, die der gescheiterten Studentenrevolution von 1968 in Paris entflohen waren. Wir waren 68er aus Berlin, und so verband uns etwas. Wir vier haben dann auf dem Fußboden dieses unfertigen Teehauses geschlafen.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ob es auf dem Hin- oder Rückweg von oder nach Bamian war. Wir mussten übernachten, und das geschah mit ca. 30 Männern auf dicken Teppichen eines kleinen Restaurants. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass es gefährlich für mich sein könnte. Gegen 30 Männer hätte mein Mann mich nicht beschützen können.

Wer glaubt heute noch, wie Kabul 1968/89 war! Es waren Minirockzeiten damals, und mit einem Minirock, der über dem Knie endete, bin ich einmal allein 20 Minuten durch Kabul zur Post gelaufen. Auch das war völlig ungefährlich. In den Gesprächen, die wir mit Studenten geführt hatten, hatten wir den Eindruck gewonnen, es sei so etwas wie ein Aufbruch in die Neuzeit.

Ich habe nie verwunden, wie sehr wir uns getäuscht haben. Die Dias, die ich damals gemacht habe, liegen in meinem Bücherschrank, und ich bin immer noch zu traurig, um sie mir anzusehen.“

 

Princess Plaza

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Ich weiß nicht, welchen Namen ich wählen würde, wenn ich ein Hotel in Kabul eröffnen würde. Darauf wär‘ ich jedenfalls nicht gekommen.

 

Die Toten von damals

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Um ihre Toten zu begraben, baute die britische Armee einen Friedhof in Kabul – 1879, während des zweiten englisch-afghanischen Kriegs. Heute sind von den alten Gräbern nur noch ein paar erhalten. Aber es sind neue dazugekommen. Und riesige Gedenktafeln, auf denen verschiedene Nationen ihrer Gefallenen gedenken. Die meisten von ihnen starben jung.

 

Der Elvis Presley Afghanistans

Egal, welches Taxi man nimmt, man muss nicht lange fahren, bis im Radio eine unverwechselbare Stimme melancholisch-kitschige Schlager singt.

„Wer ist das?“, fragte ich das erste Mal und weil ich mir Namen so schlecht merken kann, noch ein paar Mal darauf. Jedes Mal bekam ich die gleiche Antwort. „Das ist Ahmad Zahir, unser Elvis Presley.“ Und dann in etwa diese Geschichte:

Er wurde in den 1940er Jahren als Sohn des Politikers Abdul Zahir geboren. Schon als Jugendlicher schrieb er seine ersten Hits. Er brach sein Studium in Delhi für die Musik ab und wurde schnell bekannt, auch außerhalb Afghanistans. Viele seiner Lieder waren Balladen, aber in manchen Stücken kritisierte er auch die Politiker, die damals regierten. Im Sommer 1979 starb er bei einem Autounfall auf dem Salangpass. Aber viele Leute sagen, er wurde ermordet.

Als Ahmad Zahir starb, war er 33. Er hatte 27 Alben aufgenommen.

Letztens war ein Freund zu Besuch. Wir aßen und redeten und tranken. Irgendwann lehnte er sich zurück, ließ seinen Kopf nach hinten über die Sessellehne fallen und streckte, beinahe liegend, seinen linken Arm nach vorn. Er sah so aus wie ich mir einen Operntenor in der Badewanne vorstelle. Nur angezogen. Und ohne Badewanne.

Dann begann er zu singen: „It’s now or never…“ Er sang sehr gut. Ich kann das beurteilen, denn er hörte den ganzen Abend nicht mehr auf damit. Er sagte in den nächsten Stunden vielleicht noch vier Sätze, aber Elvis‘ Lied sang er ein Dutzend Mal, auf Englisch, auf Dari, auf irgendwas dazwischen.

Ich musste lachen, weil die Szene so absurd war und ich wurde traurig, weil es kurz vor dem Jahreswechsel war und ich daran dachte, wie gut der Satz das beschreibt, was viele Leute in Kabul über 2014 denken: It’s now or never.

Ein paar Wochen später sehe ich auf Youtube: Nicht nur Elvis hat das Lied gesungen. Auch Ahmad Zahir.