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„Ich kann mich kaum erinnern“ – das NSU-Medienlog vom Donnerstag, 6. Juni 2013

 

An jedem Werktag fassen wir im NSU-Prozess-Blog die wichtigsten Medienberichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.

Die weitere Vernehmung von Carsten S. bestimmt auch die Berichte deutscher Medien vom Donnerstag, nachzulesen unter anderem in Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Stuttgarter Zeitung, Focus Online, Frankfurter Rundschau, Merkur Online und beim SWR. Richter Manfred Götzl hatte den Angeklagten weiter befragt, bevor dessen Verteidiger eine Unterbrechung beantragten.

Stern.de gelangt zu der Einschätzung, dass sich S. intensiv mit seiner rechten Vergangenheit in Jena auseinandergesetzt hat. Er erinnere sich an viele Details, habe aber auch viele Erinnerungslücken. Den Satz „Ich kriege das nicht wiederhergestellt“, wiederhole er wie ein Mantra und wirke dabei fast verzweifelt.

Nach seiner rechten Ideologie gefragt, verharre Carsten S. in Begriffsstutzigkeit. In dieser Ideologie habe er damals sein Lebensrecht als Schwuler verwirkt und das auch selbst erkannt, doch mit den politischen Inhalten habe er sich nicht auseinandergesetzt. „Es wäre ein Leichtes an diesem Punkt zu sagen: ‚Ich war verblendet und schäme mich dafür‘ – doch es kommt ihm nicht über die Lippen“, schreibt stern.de.

Überzogene Erwartungen an den Zeugen: Carsten S. könne sein Feindbild nicht klar benennen, schreibt auch Tom Sundermann auf ZEIT ONLINE. Er fragt sich, ob S. tief in sich gehe und in seiner Erinnerung bohre oder ob er einfach keine Lust hat, noch mehr von seiner Vergangenheit offenzulegen. Er erinnert daran, dass S. im Gespräch mit dem psychiatrischen Gutachter Norbert Leygraf bereits umfangreiche Angaben machte. „Doch die Erwartung, mit seiner Hilfe ließen sich en détail die Anfänge des NSU nachzeichnen, stellt sich als überzogen heraus“, schreibt Sundermann.

 

Es sei „unverständlich“, dass Gutachter Leygraf bei der Befragung des Angeklagten Carsten S. nicht anwesend war, findet Gisela Friedrichsen von Spiegel Online. Sie erinnert daran, dass Leygraf zuvor begutachtete, ob Carsten S. nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen sei. „Der unmittelbare Eindruck von S.s Aussageverhalten vor Gericht ist dem Gutachter nun entgangen, selbst eine nachträgliche Information kann diesen Mangel nicht aufwiegen. Eine solche Situation hätte nicht entstehen dürfen“, schreibt Friedrichsen.

Auch die Europa-Ausgabe der türkischen Tageszeitung Sabah, der Sender CNN Türk und das Online-Portal Dünya Bülenti, schildern die Aussage des Angeklagten Carsten S. ausführlich. Die Berichte erwähnen außerdem, dass Carsten S. aussagte, er hätte damals Unterschriften gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft gesammelt.

Die in den Jahren 1998 und 1999 von der CDU initiierte Kampagne habe den Weg geöffnet für Spannungen und Polarisierungen im Land, schreibt die Sabah.

Das englischsprachige Online-Portal The Local fasst den sechsten Prozesstag ebenfalls zusammen und beruft sich dabei auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Spiegel.

Aus „sicher“ wird „ziemlich sicher“: Parallel zum NSU-Prozess tagte am Mittwoch der NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags. Dabei kam laut Süddeutscher Zeitung heraus: Die bayerischen Ermittler haben wichtige Hinweise einer Zeugin ignoriert. Die Zeugin hätte Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2005 in der Nähe des Dönerimbisses beobachtet, an dem Vormittag, als Ismail Yaşar ermordet wurde. Später habe sie die beiden Männer auf Überwachungsvideos aus Köln wiedererkannt, wo sie ein Jahr zuvor vor türkischen Ladenlokalen eine Bombe zündeten.

„Für mich persönlich war kein Zweifel: Das sind die beiden“, sagte die Zeugin vor dem Ausschuss und warf der Polizei vor, ihre Aussage nicht ernst genommen und relativiert zu haben. Tatsächlich wurde im Vernehmungsprotokoll nur vermerkt, die Zeugin sei sich „ziemlich sicher“, die Spur verfolgten die Ermittler nicht weiter. Die Süddeutsche Zeitung zitiert Ausschusschef Schindler mit den Worten: „Das war mehr als eine Panne. Das war ein gravierender Fehler.“

Detailliert nachzulesen sind die neuen Erkenntnisse aus dem bayerischen Untersuchungsausschuss auch auf publikative.org.

Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, den 7. Juni.