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Ein Prozess, der den NSU-Hinterbliebenen wenig gegeben hat

 

Auf eine umfangreiche Aufklärung hatten die Hinterbliebenen der Mordopfer im NSU-Prozess gehofft. Geblieben ist davon nichts.

Die Trauer um seinen Vater hat sich in den vergangenen 18 Jahren tief in sein Gesicht gegraben. Sie hat dunkle Schatten um die Augen von Abdulkerim Şimşek gezogen, auffällige Falten auf seine Stirn geworfen. Am 9. September 2000 wurde sein Vater Enver Şimşek erschossen. Er war das erste von zehn Mordopfern des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Da war Abdulkerim 13 Jahre alt.

Am Mittwoch fällt im Münchner NSU-Prozess nach fünf Jahren Verhandlung das Urteil gegen Beate Zschäpe, die mutmaßliche Mittäterin der Gruppe, und vier als Unterstützer angeklagte Männer. Abdulkerim Şimşek wird im Gerichtssaal sein, ebenso seine Schwester und seine Mutter. Die ganze Familie nimmt als Nebenkläger am Verfahren teil. So machen das insgesamt rund 90 Angehörige und Verletzte der Anschläge. Das Urteil ist ein Abschluss. Für das Gericht, für die Angeklagten, für die Öffentlichkeit. Nicht für Abdulkerim Şimşek.

Warum wurde der Vater zum Opfer?

Die Trauer um den Vater verfolgt ihn genauso wie die Fragen – Fragen, auf die ihm der Prozess keine Antworten liefern konnte. Er wolle wissen, „was mein Vater gefühlt und gedacht hat, als auf ihn geschossen wurde“. Hatte er Schmerzen in den zwei Tagen, die er nach den Schüssen auf der Krankenstation lag, bevor er starb?

Şimşek spricht ins Mikrofon auf einer Pressekonferenz in München, die Anwälte mehrerer NSU-Opfer und Angehörigen der Ermordeten organisiert haben. Eine der letzten Gelegenheiten, bei der die Betroffenen ihrem eigenen Schmerz Raum geben können, bevor sich der Schleier des öffentlichen Vergessen über den Fall NSU zu legen droht.

„Warum haben die Mörder gerade meinen Vater ausgewählt?“, fragt Şimşek. „Das kann kein Zufall sein!“ Welche Opfer nach akribischer Planung der NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ausgesucht wurden und welche spontan, gehört zu den Kernfragen der Aufarbeitung. In den meisten Fällen liegt der Hintergrund im Dunkeln. Antworten könnte möglicherweise Beate Zschäpe geben. Die jedoch sagt, sie wisse nichts.

Anwalt spricht vom „Gedächtnis-Schredder“

Und so bleibt, was Şimşek genauso wie die anderen neun Opferfamilien quält. „Es muss Tausend weitere Mitwisser und Helfer geben“, sagt er. Die Zahl könnte maßlos übertrieben sein. Könnte. Enttäuscht sei er, sagt der Sohn, habe Angst, der Tod seines Vaters und die öffentliche Aufregung könnten folgenlos bleiben. „Ich kann nicht abschließen.“ Das Mikrofon hat eine Rückkopplung, aus den Lautsprechern beginnt ein dunkles Rauschen zu dröhnen, es verschluckt Şimşeks Worte.

Die Nebenkläger des NSU-Prozesses strahlen eine bleierne Hoffnungslosigkeit aus. Als der Prozess begann, hatten sich viele der 60 Nebenklageanwälte fest vorgenommen, das Verfahren zu nutzen, um so viele Wissenslücken zu füllen wie es ging. Nur: Da ging nicht viel. Die Hauptangeklagte schwieg. Zeugen aus der rechten Szene wollten nichts sagen oder sich nicht mehr erinnern. Mitarbeiter des Verfassungsschutzes mauerten genauso.

„Das war der Gedächtnis-Schredder“, kommentiert der Opferanwalt Sebastian Scharmer – eine Anspielung auf die Akten, die kurz nach dem Auffliegen des NSU 2011 beim Bundesamt für Verfassungsschutz geschreddert wurden.

Werden die Helfer des NSU gefasst?

Scharmer vertritt die Nebenklägerin Gamze Kubaşık, Tochter des 2006 in Dortmund erschossenen Mehmet Kubaşık. Auch sie nimmt an der Pressekonferenz teil. Scharmer erinnert daran, wie er und seine Kollegen sich vor Verfahrensbeginn 2013 vorgenommen hatten, alle Fragen zu stellen, die in einem Strafprozess zulässig sind. „Die Fragen konnten wir stellen, Antworten haben wir nicht bekommen“, bilanziert er bitter.

Waren die Erwartungen von Anfang an überzogen? Hatten sich Opfer und Anwälte in ihrem Enthusiasmus blenden lassen und die Möglichkeiten des Prozesses gnadenlos überschätzt? „Ich hätte mir hundertprozentige Aufklärung gewünscht“, sagt Gamze Kubaşık. Sie wurde enttäuscht.
Was den Angehörigen bleibt, ist die Hoffnung, das vermutete Netz aus Helfern der Terrorgruppe werde eines Tages dennoch ausgeleuchtet. Nach der Arbeit der Ermittler in den Mordfällen muss man sagen: eine Hoffnung, die durch nichts genährt wird. Kubaşık sagt über ihren Vater: „Die Ermittler haben seine Ehre kaputtgemacht. Sie haben ihn damit zum zweiten Mal ermordet.“

„Die Höchststrafe“

Die Ernüchterung speist sich aus etlichen Erfahrungen des Prozesses. Seit Anbeginn beklagten die Opfervertreter, dass die Bundesanwaltschaft, die in München die Anklage führt, den NSU als Trio betrachtete: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt. Niemand sonst. Die Helfer des Terrors, auch die, die in München angeklagt wurden, spielten demnach allenfalls Nebenrollen. Das halten die Nebenkläger für gefährlich verharmlosend. Sie sehen den NSU als Gemeinschaft mit wesentlich mehr Mitgliedern.

Die Annahme vom NSU als Trio „hat es dem Gericht einfach gemacht, Fragen zurückzuweisen“, sagt der Anwalt Alexander Hoffmann, der einen Mann vertritt, der beim NSU-Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße 2004 verletzt wurde. Wollten die Anwälte mit Anträgen auf weitere Zeugenvernehmungen das Umfeld der Terroristen erhellen, scheiterten sie regelmäßig an der ablehnenden Haltung des Gerichts.

Auch deshalb, sagen die Angehörigen, hätten sie keine große Hoffnung auf den Tag, an dem das Urteil fällt. Abdulkerim Şimşek fordert lebenslange Haft für Beate Zschäpe. Auch Gamze Kubaşık sagt, sie erwarte „die Höchststrafe“. Und doch wissen sie schon jetzt: Sie werden enttäuscht nach Hause fahren.