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Das Fernglas der Zeugin Veronika A. – das Medienlog vom 1. Oktober 2013

 

Die Zeugin Veronika A., die Beate Zschäpe im Frühjahr 2006 in Dortmund gesehen haben will, steht im Mittelpunkt der Berichte über den 40. Verhandlungstag. Viele Autoren zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Zeugin.

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Für Karin Truschreit von der Frankfurter Allgemeine Zeitung gibt es viele Ungereimtheiten in der Zeugenaussage. Unter anderem sei unklar, warum sie neben einem mit Stoff verhängtem Dachboden-Fenster ein Fernglas liegen habe. Mit dem Fernglas will A. Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, sowie einen Skinhead auf ihrem Nachbargrundstück beobachtet haben. Unklar sei ebenfalls, warum die Zeugin nicht früher zur Polizei gegangen ist: „Offenbar ging es der Zeugin vor allem um eins: aufzuzeigen, dass Dortmund durchaus ein Neonazi-Problem habe“, vermutet Truscheidt. Als die 63-jährige Zeugin die Angeklagte Zschäpe während der Verhandlung direkt ansprach, beschreibt Truscheidt deren Reaktion folgendermaßen: „Die Angeklagte hält den Blick ein paar Sekunden aus, doch wendet sich dann verlegen lächelnd zu ihrem Verteidiger, der ebenso lächelnd auf seinen Bildschirm schaut.“

Ein wenig anders beobachtet Hannelore Crolly von der Welt die Reaktion Zschäpes: „Wenn Sie nicht ein perfektes Double haben, Frau Zschäpe, dann bin ich mir ganz sicher, dass Sie das waren“, sagte die 63-Jährige zur Angeklagten. Zschäpe, offensichtlich überrumpelt, schüttelte kurz leicht den Kopf, als könne sie diese direkte Ansprache nicht fassen, und flüsterte dann lächelnd ihrem Anwalt Wolfgang Heer etwas zu.“

Ob die Zeugin Zschäpe verwechselt haben könnte oder nicht, war zuvor in den Medien diskutiert worden. Die Zeugin selbst scheint keinen Zweifel daran zu haben, dass es sich um Zschäpe handelte, wie auch Tanjev Schult in der Süddeutschen Zeitung beschreibt: „Es gibt viele Zeugen, die im Nachhinein, wenn sie Fahndungsfotos sehen, glauben, der gesuchten Person irgendwo schon begegnet zu sein. Veronika von A. trägt ihre Erinnerung allerdings in einem Ton großer Sicherheit vor. Sie sagt, es seien Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gewesen, kein Wort des Zweifels in ihrer Darstellung vor Gericht.“

Als „bizarrste Zeugenvernehmung im NSU-Prozess“, beschreibt Tom Sundermann auf ZEIT ONLINE den Verhandlungstag („Viele Zweifel an der Zeugin“). Es sei erstaunlich, dass die Zeugin glaubte, mit ihrer Aussage nichts zur Aufklärung der Morde beitragen zu können, obwohl sie ihre Beobachtungen selbst als „ernstes Wissen einschätzte“.

„Wenn Zeugen plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen, um in einem schwierigen Verfahren den entscheidenden Dreh, die Wendung, den unwiderlegbaren Beweis zu liefern, ist aller Erfahrung nach Vorsicht geboten“, schreibt Gisela Friedrichsen auf Spiegel Online („Ein Skin mit Szenemerkmalen“).

Für Philipp Vetter vom Münchner Merkur ist die Stelle mit dem Fernglas ein Schwachpunkt in der Aussage: „Warum steht bei ihr ein Fernglas neben dem Fenster? A. will nicht zugeben, dass sie gern nachschaut, was ihre Nachbarn so treiben, stattdessen spricht sie von ‚Naturbeobachtungen‘. Das glauben nur wenige im Gerichtssaal.“ Das späte und plötzliche Auftauchen der Zeugin wirke seltsam, doch A. sei vor Gericht souverän geblieben und habe sich nicht in Wiedersprüche verwickelt.

Lena Kampf von stern.de macht auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: „Die Beobachtungen der Zeugin A. sind wohl nicht belastbar, aber unglaubwürdig ist die Sozialistin nicht. Ihrer politischen Haltung ist es zu verdanken, dass an Verhandlungstag 40 über Faschismus diskutiert wird“, kommentiert die Autorin. Sie beschreibt die Zeugin als eine Person, die aufmerksam ihre Umwelt beobachtet. Insofern hält Kampf auch die Begründung der Zeugin für schlüssig, warum sie nicht früher zur Polizei ging. Ebenso, warum sie das Fernglas am Fenster stehen hatte (Naturbeobachtungen).

Für Frank Jansen vom Tagesspiegel bleibt unklar, ob die Zeugin Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos tatsächlich gesehen hat. Er betrachtet in seinem Text den gesamten Prozess und lobt den Richter. „Götzl holt Vertrauen in die deutschen Behörden zurück. Andere Beamte verspielen es“ schreibt er. „Vor allem Polizisten haben im Prozess mit unsensiblen Äußerungen, zum Beispiel über unaufgeräumte Wohnräume eines türkischen Mordopfers, den Verdacht verstärkt, in manchen Behörden schwelten Ressentiments auf ewig. Aber so wie Götzl lernt, können auch die Polizei und die Bundesrepublik aus diesem Prozess viel lernen – vor allem über sich selbst.“

Die türkischsprachige Zeitung Zaman beschreibt ebenfalls genau die Beobachtungen der Zeugin A., ohne diese zu werten. Eine kurze Meldung zum 40. Verhandlungstag steht auch auf dem Nachrichtenportal Dünya Bülenti. Die türkischsprachige Tageszeitung Sabah erwähnt zudem, dass der Vater von Uwe Mundlos bei der Verhandlung zuschauen wollte. Dies wurde ihm allerdings nicht gestattet, da er noch als Zeuge geladen ist.

Keine Berichte in englischsprachigen Onlinemedien.

Das nächste Medienlog erscheint am Dienstag, 2. Oktober 2013.