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Eiszeit im Gerichtssaal – Das NSU-Medienlog vom Mittwoch, 17. Juni 2015

 

Wenn der Fortschritt im Prozess mager ausfällt, konzentrieren sich die Reporter auf Atmosphärisches. So auch am Prozesstag nach der Misstrauenserklärung von Beate Zschäpe gegen ihre Anwältin Anja Sturm. Beobachter schildern den Auftritt der Hauptangeklagten als äußerst kalt und ignorant.

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„Kein Blick und keine Begrüßung, als sie den Saal betritt, schon gar kein Handschlag für die Verteidiger. Mit zusammengekniffenen Mund, die Haare, die sonst so sorgfältig frisiert sind, zu einem losen Zopf geflochten, steht sie regungslos an ihrem Platz“, beschreibt Karin Truscheit von der FAZ die Szene. Auch die Sitzordnung ist verändert: Zschäpe nahm zwischen ihren beiden Anwälten Platz, Anja Sturm saß am Rand.

Die beiden Männer hatten die Vorwürfe Zschäpes gegen Sturm zurückgewiesen, auch Sturm selbst bezeichnete sie als unbegründet. Bis Mittwoch hat Zschäpe Zeit, ihren Antrag auf Trennung von der Anwältin ausführlich zu untermauern. Sollte Zschäpe versucht haben, mit ihrem Angriff auf Sturm Zwietracht zwischen den drei Anwälten zu säen, war davon am Dienstag nichts zu spüren, schreibt Truscheit.

Lehnt Zschäpe alle drei Anwälte ab?

Per Hinrichs von der Welt sind die Verteidiger aufgefallen, die gelangweilt auf ihre Laptops schauten wie Gymnasiasten, die im Physikunterricht auf das erlösende Pausenklingeln warten. „So sieht es also aus, wenn das Verhältnis zwischen Verteidigern und Mandant zerrüttet ist“, schreibt er. Das winterliche Klima auf der Anklagebank habe weitgehend angehalten, die Anwälte hätten keine einzige Frage gestellt und den Tag an sich vorbeirauschen lassen. Selbst die Gummibärchen von Wolfgang Heer habe Zschäpe nach Kräften ignoriert, „als hätte er ihr Innereien hingestellt“.

Was sich hier vor Gericht abspielt, sei nichts anderes als ein Machtkampf, analysiert Annette Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung. Und es gehe nur vordergründig darum, ob Zschäpe ihre Verteidigerin Sturm loswird oder nicht. „In Wirklichkeit geht es um den Kampf der Beate Zschäpe gegen das Gericht. Sie will – so sieht es aus – den Kopf von Sturm gegen den weiteren, möglichst ungestörten Fortgang des Prozesses.“ Das nächste Szenario sei vermutlich, dass Zschäpe jetzt – wie schon vor einem Jahr – alle drei Anwälte ablehnt. Richter Götzl, der letztlich über den Antrag Zschäpes entscheiden muss, sei in der Zwickmühle, schreibt Ramelsberger: Er wird einerseits verhindern wollen, dass sich die von ihren Anwälten genervte Zschäpe öfter krankschreiben lässt. Andererseits will er erreichen, dass der Prozess nicht nach 210 Verhandlungstagen platzt. Frühestens nächste Woche ist eine Entscheidung zu erwarten.

Ähnlich sieht das Geschehen Gisela Friedrichsen von Spiegel Online. Indem Zschäpe ihre drei Anwälte gegeneinander ausspiele und zum wiederholten Mal mit substanzlosen Vorwürfen überziehe, erwecke sie den Eindruck, eine hilflose Frau zu sein – ohne Beistand auf der Anklagebank, ängstlich besorgt, den Anstrengungen des Prozesses bald nicht mehr gewachsen zu sein. „Tatsächlich aber hat sie die Anwälte – augenscheinlich grundlos – öffentlich bloßgestellt und deren Ruf beschädigt“, schreibt sie. Dem Senat beschere Zschäpe eine auf längere Sicht unerfreuliche Situation: Nach mehr als 200 Verhandlungstagen könne Richter Götzl das Verfahren nicht mehr platzen lassen. Gleichzeitig müsse er jeden Fehler vermeiden, der eines Tages zu einer Revision des Urteils führen könnte.

Von einer Eiszeit im Gerichtssal schreibt auch Tagesspiegel-Reporter Frank Jansen. Er berichtet über eine ominöse Wette Zschäpes mit ihrem mutmaßlichen Mittäter Böhnhardt: Zschäpe hatte sich verpflichtet, 200 Mal Videoclips zu schneiden, sollte sie ihr Körpergewicht nicht unter einen bestimmten Wert sinken. „So banal die Wette klingt, sehen  BKA und Bundesanwaltschaft doch einen deutlichen Hinweis auf die Beteiligung Zschäpes an der Produktion des Bekennervideos der Terrorzelle NSU“, schreibt Jansen.

Hier der Bericht der BR-Reporterin Mira Bertelsmann über den außergewöhnlichen Prozesstag.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Das nächste Medienlog erscheint am Donnerstag, 18. Juni 2015