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Eine Aussage, drei Interpretationen – Das Medienlog vom Donnerstag, 21. Juli 2016

 

Am 300. Verhandlungstag war wieder der Zeuge Marcel D. geladen. Dieser hatte in einer früheren Vernehmung verneint, Zuträger des Verfassungsschutzes gewesen zu sein. Der Geheimdienst jedoch hatte angegeben, er sei eine Quelle gewesen. Im Gerichtssaal nahm D. seine frühere Aussage zurück und verweigerte dann weitere Auskünfte. Der Widerspruch betreffs seiner möglichen Mitarbeit wurde also auch diesmal nicht gelöst.

Turbulent sei der Verhandlungstag gewesen, heißt es in der Thüringer Allgemeinen. Erst durch intensives Nachhaken der Anklage sei klar geworden, dass der frühere Kassenwart des Neonazinetzwerkes Blood & Honour seine Aussage nicht inhaltlich revidieren wollte, schreibt Kai Mudra. Eine Korrektur seiner Aussage hätte bedeutet, dass Marcel D. einräumt, für den Thüringer Verfassungsschutz nachrichtendienstlich tätig gewesen zu sein, erläutert der Berichterstatter.

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Doch nicht alle Prozessbeobachter haben die Einlassungen D.s so wahrgenommen: Die Beichte sei Marcel D. extrem schwergefallen, heißt es in der Sächsischen Zeitung. „Aber schließlich outet er sich an diesem 300. Verhandlungstag im NSU-Prozess doch noch als ehemaliger V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes“, schreibt Wiebke Ramm. Nach seiner Aussage sei „die Verwirrung komplett“, ergänzt sie. Marcel D. habe „ein Talent, seine Fragesteller ratlos zurückzulassen“. Das Gericht wolle nun entscheiden, ob D. mit seinem Anwalt wirklich gut beraten ist. Marcel D. müsse also ein fünftes Mal vor Gericht erscheinen, dann eventuell mit anderem Beistand.

Der Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa interpretiert die Situation im Gerichtssaal so: „Auch auf mehrfache Nachfrage ließ der Zeuge offen, ob er seine Aussage tatsächlich in der Sache ‚revidiere‘ und eine V-Mann-Tätigkeit einräume oder ob er die Aussage verweigere.“ Ein Vorfall – drei Sichtweisen.

Hintergrund der Irritation ist auch, dass die Staatsanwaltschaft München I nach einer Anzeige der Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen D. wegen des Verdachts der Falschaussage eingeleitet hat, erläutert der Korrespondent. Aber hier verhaken sich die Juristen: Die Bundesanwaltschaft gehe davon aus, dass der Zeuge D. schon formell entlassen sei, also seine fragliche Aussage nicht mehr korrigieren könne. Das Münchner Gericht ist der Auffassung, dass die Vernehmung D.s nur unterbrochen war, er sich also sehr wohl noch revidieren kann – der Vorwurf der Falschaussage wäre damit haltlos.

Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, den Juli 2016