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„Die Leute denken, Deutschland will diesen Fall nicht lösen“

 

"Die Leute denken, Deutschland will diesen Fall nicht lösen"
Demonstration zur Erinnerung an die NSU-Opfer (2012)

Mehr als 200 Tage, schätzt Rahmi Turan, hat er im Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts verbracht. Als Korrespondent für die regierungsnahen türkischen Medien Sabah und A Haber berichtet der freie Journalist seit dem ersten Verhandlungstag über den NSU-Prozess.

Auch in der Schlussphase des Verfahrens will Turan das Geschehen in München so oft wie möglich mitverfolgen – obwohl das anfänglich große Interesse in der Türkei stark nachgelassen hat. Schlagzeilen macht der Prozess dort schon lange nicht mehr; Turan ist einer der zwei Journalisten, die noch regelmäßig für türkische Medien aus dem Gerichtssaal berichten.

Die Berichterstattung türkischer Zeitungen über den NSU-Prozess beschränkt sich mittlerweile auf kurze Agenturnachrichten, übersetzte Artikel deutscher Medien und die ein oder andere Meinungskolumne. Rahmi Turan sagt, keiner seiner Kollegen in Istanbul und Ankara habe noch Interesse an Reportagen und Hintergrundberichten aus München. Für Sabah schreibe er deshalb nicht mehr.

Dabei machte Turan gerade mit Sabah Schlagzeilen, als der Prozess im Mai 2013 begann. Wenige Türken außerhalb Deutschlands hatten dem NSU-Fall große Aufmerksamkeit geschenkt, bevor die kontroverse Verteilung der Presseplätze für Aufruhr sorgte. Obwohl acht der zehn Mordopfer Wurzeln in der Türkei hatten, bekam zunächst kein türkisches Medium einen festen Sitzplatz im Gerichtsaal.

Schnell sorgte das Akkreditierungsverfahren auch in türkischen Regierungskreisen für Unmut. Der damalige Vizepremierminister Bekir Bozdağ zweifelte öffentlich an der Neutralität des Münchner Gerichts. Sabah klagte schließlich mit Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht und bewirkte eine Neuvergabe der Plätze; so wurden neben Sabah die Nachrichtenagentur İHA und die Tageszeitungen Hürriyet und Evrensel akkreditiert.

Insbesondere Sabah berichtete intensiv über die ersten Prozesstage. Vor allem das selbstbewusste Auftreten der Hauptangeklagten Beate Zschäpe löste Empörung aus: „Geföhnte Arroganz!“ titelte das Boulevardblatt Takvim, eine Anspielung auf Zschäpes sorgsam frisiertes Haar. Sabah bediente sich einer Schlagzeile der Bild-Zeitung: „Der Teufel hat sich schick gemacht.“

„Die Türken in der Türkei haben andere Probleme“

Das Medieninteresse hielt nur nicht lange an. Einerseits, glaubt Rahmi Turan, sei das Interesse in der Türkei von Anfang an wesentlich geringer gewesen als unter Deutschtürken. Andererseits konzentrierten sich die türkischen Medien eher auf die turbulenten Ereignisse in ihrem eigenen Land – und das aus gutem Grund.

Schon zwischen dem ersten und dem zweiten Prozesstag kam es zu einem der schwersten Anschläge der türkischen Geschichte. Attentäter zündeten zwei Bomben in der Grenzstadt Reyhanlı. Mehr als 50 Menschen starben. Kurz darauf begannen in Istanbul die Gezi-Park-Proteste, die die Schlagzeilen über Monate beherrschten; wenig später gelangten Korruptionsvorwürfe gegen den inneren Kreis Recep Tayyip Erdoğans an die Öffentlichkeit. Der Berlin-Chef der Hürriyet, Celal Özcan, fasst es so zusammen: Der Prozess habe seine Landsleute schon interessiert, „aber die Türken in der Türkei haben andere Probleme“.

Dennoch war es für die türkischstämmigen Reporter nicht immer einfach, im Münchner Gerichtssaal Ruhe zu bewahren. „Am ersten Tag wollte ich schreien: ‚Ihr seid Mörder.‘ Nicht als Journalist, sondern als normaler Mensch. Aber natürlich konnte ich das nicht machen“, sagt Yücel Özdemir. Für die linksliberale Tageszeitung Evrensel berichtet er aus Köln; schon lange vor der Aufdeckung des NSU in 2011 schrieb Özdemir über die Morde und Attentate, die später der Terrorgruppe zugeschrieben wurden.

Rahmi Turan sagt, bei der Zeugenaussage von Ismail Yozgat habe er geweint. Wie Yozgat den Tod seines 21-jährigen Sohnes Halit schilderte, wird auch Özdemir nicht vergessen. Im Zuschauerbereich war es damals vollkommen still. „Niemand sprach“, sagt Özdemir.

Gerüchte, Verschwörungen und Skepsis

Häufig stellten türkische Journalisten dieselben Fragen wie ihre deutschen Kollegen: Welche Rolle spielte der Staat, wie groß war der Nationalsozialistische Untergrund und sein Unterstützernetzwerk wirklich? Während Evrensel und Hürriyet meist sachlich über die Ungereimtheiten und offenen Fragen im Prozess schrieben, spielten regierungsnahe Medien in ihren Berichten oft auf eine tief gehende Verschwörung an.

So hieß es 2013 etwa in einer Schlagzeile der Nachrichtenagentur Anadolu: „Deutschlands ‚tiefer‘ Prozess beginnt“ – eine Anspielung auf den Begriff „tiefer Staat“, worunter in der Türkei die Verflechtung zwischen staatlichen Institutionen und kriminellen Organisationen verstanden wird. Die rechtskonservative Zeitung Yeni Şafak verglich den NSU-Fall mit dem türkischen Prozess gegen Ergenekon – eine angebliche Verschwörergruppe und Teil des tiefen Staats in der Türkei, deren Mitglieder 2013 verurteilt aber in den vergangen Jahren aufgrund mangelnder oder fabrizierter Beweise wieder freigesprochen wurden.

Verschwörungstheorien sind ein fester Bestandteil der öffentlichen Diskussion in der Türkei. Deshalb scheint es wenig verwunderlich, dass einige Meldungen über den Prozess skeptisch aufgenommen wurden. Ismail Erel, ehemaliger Deutschland-Korrespondent der Sabah und heute Mitarbeiter für die deutsch-türkischen Medien Ren Postası und diehaber.com, sagt: „Die Leute denken, Deutschland will diesen Fall nicht lösen.“ Wenn Akten geschreddert würden und niemand glaubwürdig erklären könne warum, „dann ist es schwierig, das in der Türkei zu erklären“, so Erel.

Sie glauben an eine gerechte Strafe

Weil noch immer viele Fragen offen sind, glauben die Journalisten, dass sich die türkische Regierung nach dem Urteil zu Wort melden wird. Evrensel-Korrespondent Özdemir befürchtet, dass Erdoğan versuchen könnte, das Urteil für politische Zwecke zu nutzen: Wenn Zschäpe „keine gerechte Strafe bekommt und nicht alle Fragen geklärt sind, dann wird Erdoğan diesen Prozess instrumentalisieren“.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend verschlechtert. Erel glaubt deshalb auch, dass die einst umstrittene Sitzplatzvergabe heute andere Reaktionen auslösen würde. Bekam die regierungstreue Sabah 2013 damals zwar einige Drohungen — für eine kurze Zeit stand die Deutschland-Redaktion unter Polizeischutz – gab es vor allem aber auch Zuspruch für ihre Verfassungsklage – und das sowohl aus der Türkei als auch aus Deutschland. Heute, denkt Erel, „wären die Reaktionen auf türkischer Seite härter und die Reaktion der deutschen Politik weniger verständnisvoll“.

Dem Urteil gegen Zschäpe und ihre mutmaßlichen Mittäter blickt Erel erwartungsvoll entgegen. Wie auch seine Kollegen von Hürriyet und Evrensel glaubt er fest an eine gerechte Strafe. Die Enttäuschung über die vielen unbeantworteten Fragen wird wohl aber bleiben.