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Al-Kaida prahlt mit Gefangenbefreiung in Abu Ghraib

Die irakische Al-Kaida-Filiale hat sich zu dem Angriff auf das Gefängnis von Abu Ghraib bekannt, bei dem Hunderte Kämpfer fliehen konnten.

Wie zu erwarten, hat sich am Dienstag die irakische Filiale des Terrornetzwerks Al-Kaida zu der gewaltsamen Befreiung Hunderter Häftlinge in dem irakischen Gefängnis von Abu Ghraib bekannt. Das Bekennerschreiben wurde auf einschlägig bekannten und seit Jahren von Al-Kaida genutzten arabischsprachigen Websites verbreitet. Fundort, Sprache, Form und Inhalt sprechen für seine Authentizität; die dort gemachten Angaben stimmen in weiten Teilen mit dem überein, was die irakischen Behörden bisher bekannt gegeben haben. Ob die in dem Kommuniqué erwähnten Details stimmen, lässt sich freilich nicht ohne Weiteres überprüfen. Es liegt ZEIT ONLINE vor.

In dem Bekennerschreiben prahlt Al-Kaida mit der Größe der „Operation“. So seien zwölf mit Sprengstoff gefüllte Fahrzeuge zum Einsatz gekommen; überdies hätten die Kämpfer zwei Zugangsstraßen komplett abgeriegelt und mit russischen Grad-Raketen Checkpoints der Armee attackiert. Über 500 „Mudschahedin“ seien befreit worden, die nun „nach dem Kampf auf dem Wege Gottes“ dürsteten.

Diese Zahl scheint zu stimmen. Die Washington Post berichtet, die Schätzungen von US-Beobachtern lägen in derselben Größenordnung. Darunter befände sich eine „bedeutende Anzahl Al-Kaida-Kämpfer“.

Dieser Umstand ist in der Tat alarmierend. Denn es steht zu erwarten, dass etliche der Befreiten sich auf den Weg nach Syrien machen werden, wo die irakische Al-Kaida-Filiale mit der dort den Ton angebenden Dschihadisten-Gruppe Jabhat al-Nusra eng verflochten ist.

Aber auch wenn die meisten im Irak bleiben sollten: Der Gefängnisausbruch bedeutet auf jeden Fall einen signifikanten Rückschritt in der Bekämpfung der irakischen Al-Kaida. Seit Monaten steigt die Zahl der dort verübten Anschläge wieder an. Die Massenbefreiung wird diesen Trend vermutlich verstärken.

 

Nummer 372 ist tot

Said al-Shihri, die Nummer Zwei der Al-Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel, ist durch eine US-Drohne getötet worden. Für die Terrorgruppe ist das ein schwerer Schlag.

Said al-Shihri, dessen Tod Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel nunmehr und nach monatelangen Spekulationen offiziell bestätigt hat, war der prominenteste Vertreter einer ganz speziellen Untergruppe von Al-Kaida-Terroristen: Er war schon vor dem 11. September 2001 ein Dschihadist gewesen, war danach festgenommen worden und hatte mehrere Jahre im US-Gefangenenlager Guantánamo verbracht; als er 2007 von den USA in sein Heimatland Saudi-Arabien überstellt wurde, bestand die Hoffnung, dass er entweder dem bewaffneten Kampf abschwören würde, oder dass zumindest die saudischen Sicherheitsbehörden ihn im Blick behalten würden.

Beide Hoffnungen trogen: Als Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel (sprich: in Saudi-Arabien und im Jemen) aus den Trümmern der dezimierten Dependence in Saudi-Arabien wiedererrichtet wurde, erlangte al-Shihri sehr bald eine Schlüsselstellung.

Dass sein Aufenthalt in GITMO, wie Guantánamo im Militärsprech heißt, dabei eine Rolle spielte, erklärte er selbst in einer Art Aufsatz in einem Online-Magazin Al-Kaidas im Jahr 2010: „Vor meiner Gefängniszeit dachte ich, es müsste auch in den Amerikanern wenigstens einen Bodensatz an Menschlichkeit geben… Aber nachdem ich direkt mir ihnen zu tun hatte, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass die Menschheit sich schützen muss, indem sie die Amerikaner bekämpft, denn sie sind Feinde der Menschheit.“

Shihri, der in GITMO einst die Nummer 372 trug, gehörte ohne Zweifel zur Führungsspitze der Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (AQAP). Er tauchte in Reden und Videos auf, er war mit Gewissheit an strategischen Entscheidungen beteiligt.

Sein Tod (der irrtümlich bereits mehrfach verkündet worden war) ist folglich ein Schlag für die Terroristen. Shihri war schon vor 9/11 ein Verbündeter Osama Bin Ladens; es gibt nicht mehr so viele aktive Kaida-Kader mit derartiger Vorgeschichte, die sich ja letztlich in soziale Währungen wie Einfluss, Erfahrung und Rekrutierungspotenzial übersetzen lässt.

Andererseits, und das ist der Hauptaspekt dieses Blog-Posts, halte ich wenig davon, nach einem solchen Ereignis einfach einen Namen von einer Liste zu streichen und dann zu sagen: Wieder einen Big Shot erwischt, Al-Kaida stirbt aus, keine Frage! Ich glaube, dass das deshalb wenig Sinn ergibt, weil wir zu wenig Einblick darin haben, welche möglicherweise mittlerweile entscheidenden Figuren in der Zwischenzeit wichtige Posten erklommen haben. Tatsächlich geht die Gleichung ganz anders: Jedes Mal, wenn einer derjenigen Terroristen ums Leben kommt, die „wir“ (Terrorexperten, Fachleute, informierte Öffentlichkeit, Nachrichtendienste) „kennen“ (in dem Sinn, dass wir etwas über sie wissen: ihre Vorgeschichte, Veröffentlichungen, etc.), ergibt sich in Wahrheit ein anderes Problem, nämlich dass der „devil that we know“ ziemlich sicher durch einen „devil that we do not know“ ersetzt wird.

Mit anderen Worten: Einer Sicherheit (Shihri = AQAP‘s Nummer Zwei) folgt eine Unsicherheit (AQAP hat eine neue Nummer Zwei, die wir nicht kennen, ODER AQAP hat keine neue Nummer Zwei), die uns jede Art der Einschätzung schwerer macht.

Dasselbe Phänomen gilt für die Zentrale Al-Kaidas. Fast alle entscheidenden Führer sind in denen vergangen vier bis fünf Jahren festgenommen oder getötet worden; einige Analysten schließen daraus, Al-Kaida sei so gut wie besiegt. Ich neige zu einer anderen Ansicht. Ich glaube: Wir wissen gar nicht mehr, was das bedeutet. Wir können nicht einschätzen, ob Al-Kaida in der Lage ist, diese Löcher zu schließen oder nicht. Wir wissen, wenn wir ehrlich sind, heute weniger über Al-Kaida als vor fünf Jahren.

Das klingt paradox. Aber ich habe das in den letzten Jahren ein paar Mal auf Terrorkonferenzen getestet. Indem ich zum Beispiel gefragt habe: Gibt es hier irgendjemanden, der in der Lage ist, mir Kurzporträts der zehn wichtigsten Al-Kaida-Führer von auch nur je zwanzig Zeilen Länge zu schreiben? Niemand kann das; und wer etwas anderes behauptet, macht sich wichtig. Genau das war vor sechs Jahren anders. Da waren Leute am Ruder, die „wir“ kannten.

Dieser Punkt ist mir wichtig. Sich mit einer Sache auszukennen, bedeutet nicht, alles zu wissen, sondern auch benennen zu können, wo die blinden Punkte liegen.

In diesem Sinne gilt: Der Tod von al-Shihri ist mit Gewissheit ein Verlust für AQAP, schon weil enorm viel Erfahrung und „institutional memory“ verloren gegangen ist. Aber wie schwer der Verlust wirklich ist, und ob AQAP ihn ausgleichen kann: Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich jedem misstraue, der darüber eine schnelle und angeblich eindeutige Antwort parat hat.

 

Terror auf Twitter

Was haben Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel, die Kaida-nahe Terrorgruppe Jabhat al-Nusra in Syrien, die afghanischen Taliban und die somalischen Al-Shabaab-Miliz gemeinsam – abgesehen von ihrer grundlegenden Ideologie natürlich? Genau: Sie sind mittlerweile allesamt auf Twitter aktiv, zum Teil sogar mehrsprachig, etwa auf Arabisch und Englisch.

Das ist an sich keine Überraschung, denn Dschihadisten – und insbesondere Al-Kaida – sind schon immer sehr technologie-affin und propaganda-bewusst gewesen. Es gibt ein berühmtes Zitat von Osama Bin Laden aus den Neunzigern, als er erklärte, eine Atombombe sei weniger wichtig für die Organisation als eine Radiostation. Das Internet hat Al-Kaida bereits Ende der Neunziger entdeckt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch auf Twitter entsprechende Accounts auftauchen würden. Seit Jahren haben Experten genau das denn auch vorhergesagt, und ich würde sagen: Seit etwa einem halben Jahr ist es tatsächlich umfassend Realität.

Die Al-Shabaab etwa twittern gelegentlich Anschläge in Echtzeit. (Wobei der Wahrheitsgehalt stets etwas unklar ist; es ist ja auch Propaganda.)

© Ravensburger Buchverlag
© twitter

Neben den Terrorgruppen twittert freilich auch eine große Zahl Privatpersonen mit dschihadistischen Überzeugungen – zum Beispiel Kämpfer live aus Syrien; aber natürlich auch sogenannte „Sofa-Dschihadis“ aus ihren Wohnzimmern.

Das Interessante daran finde ich nicht nur das Echtzeit-Element (siehe Beispiel oben), sondern auch die Risikobereitschaft der Twitterer. Denn sie dürften erheblich einfacher für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden zu ermitteln sein als sie es zum Beispiel wären, wenn sie sich auch weiterhin vor allem in passwortgeschützten Diskussionsforen austauschten. Andererseits gibt es bisher nur sehr wenig Hinweise auf Menschen, die wegen dschihadistischer Propaganda auf Twitter Probleme bekamen, insofern mag meine Einschätzung falsch sein.

Zwei Terrorforscher, Nico Prucha und Ali Fisher, haben nun im Fachorgan CTC Sentinel eine kleine empirische Studie veröffentlicht. Die ist verdienstvoll, weil sie einige Zahlen liefert. So haben die beiden 76.000 Tweets analysiert und kommen zu dem Ergebnis, dass es ein Netzwerk von „Content-Sharern“ gibt, das aus mehr als 20.000 Twitter-Accounts besteht. Diese Zahl muss natürlich als vorläufig betrachtet werden, auch als naturgemäß ungenau – ein Account kann von mehreren Personen bespielt werden, genau wie umgekehrt eine Person mehrere Accounts befüllen mag. Die absolute Zahl von Dschihadisten auf Twitter ist vermutlich deutlich höher.

Aber es ist immerhin eine Größenordnung, die uns anzeigt, wie groß das Propaganda-Karussell auf Twitter derzeit in etwa ist.

Viele der Links führen übrigens zu YouTube-Konten, auf denen Videomaterial hinterlegt ist. Etliche zeigen Bilder, zum Beispiel vom Schlachtfeld, oder zur Verherrlichung gefallener Kämpfer.

Auch für die Verbreitung von dem, was für Dschihadisten relevante Neuigkeiten sind, hat Twitter eine gewisse Bedeutung erlangt. Der Goldstandard, wenn man die neueste Rede oder das aktuellste Videos einer Kaida-Größe finden wollte, waren bisher ein rundes halbes Dutzend Internetseiten, die Freiwillige in Kooperation mit Al-Kaida & Co betreiben, und wo das meiste authentische Material dieser Gruppen bereitgestellt wird. Jetzt tweeten Aktivisten neue Links zu neuen Videos, sobald diese erscheinen – der Nachrichtenzyklus wird beschleunigt.

Interessant ist überdies, dass Twitter einen weiteren Nebeneffekt hat: Terrorforscher und Journalisten zum Beispiel können sich an diese Twitterer recht einfach direkt wenden – und erhalten mitunter Antwort. Ganze Interviews, etwa mit Al-Shabaab-Aktivisten, sind auf dieses Weise bereits entstanden. Das ersetzt echte Recherche nicht, und es ist natürlich fast unmöglich, in einem Tweet Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten. Aber relevante Fitzelchen finden mitunter auf diese Weise durchaus ihren Weg an die Öffentlichkeit. (Andersherum können dschihadistische Twitterer etwa unliebsame Presseberichte von unliebsamen Journalisten ebenso öffentlich attackieren – und tun dies auch.)

Prucha und Fisher beschreiben das aktuelle Maß der Twitter-Nutzung durch Dschihadisten als einen Durchbruch. Das ist angemessen. Noch aber hat Twitter die Websites und Diskussionsforen nicht ersetzt, und ich glaube auch nicht, dass das so schnell passieren wird.

Aber im Auge behalten muss man diese Entwicklung.

 

Dieser Putsch wird al-Kaida stärken

Noch ist kein ganzer Tag seit dem De-facto-Putsch der ägyptischen Armee vergangen. Schon laufen erste Meldungen ein, laut denen Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern gewaltsame Demonstrationen starten. Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel sollen derweil mutmaßlich Al-Kaida-nahe Dschihadisten einen Anschlag auf ägyptische Sicherheitskräfte verübt haben.

Mit beidem musste gerechnet werden – als mehr oder weniger unmittelbare Reaktion auf Mursis erzwungenen Abgang. Aber es geht um mehr. Es geht nämlich auch um die Frage, was die aktuellen Entwicklungen für die Ideologie, Motivation und Propaganda von Al-Kaida bedeuten.

Al-Kaida und die Muslimbrüder teilen ideologische Wurzeln, aber sie sind keine Verbündeten. Im Gegenteil, sie stehen quasi sinnbildlich für die Spaltung der islamistischen Bewegung in einen (vornehmlich) politisch-aktivistischen Zweig auf der einen und einen militant-dschihadistischen auf der anderen Seite. Aber sie sind trotzdem kommunizierende Gefäße und beeinflussen einander.

Als der Arabische Frühling losbrach und Tunesier wie Ägypter ihre säkularen Despoten verjagten, bedeutet das für Al-Kaida einen ideologischen Rückschlag: Das Terrornetzwerk hatte stets behauptet, seine Anhänger würden es dereinst sein, denen die Massen auf die Straßen folgen würden, um die gottlosen Herrscher zu stürzen. Stattdessen gelang dies den liberalen, säkularen Kräften im Verbund mit dem Bürgertum.

In der zweiten Phase gewann Al-Kaida wieder an Boden – weil sich aufgrund der chaotischen Lage in den Revolte-Staaten neue Operationsmöglichkeiten ergaben. In Libyen bildeten sich Dschihadisten-Verbände, in Syrien mit Jabhat al-Nusra gar eine inoffizielle Al-Kaida-Filiale von erheblicher Schlagkraft; die Folgen wird der Nahe Osten auf Jahre hinaus in Form von Anschlägen zu spüren bekommen. Das glich den ideologischen Rückschlag zwar nicht ganz, aber zum Teil aus.

Der Coup in Ägypten aber verändert nun erneut die Gleichung. Denn die Muslimbrüder fühlen sich – und das ist nachvollziehbar – um die Macht gebracht: Schließlich war Mursi vor einem Jahr demokratisch gewählt worden. Das wird die Anhänger der Bewegung frustrieren, und nicht wenige radikalisieren.

Davon wird Al-Kaida nun profitieren, das ist so gut wie sicher. Für den Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri ist das ein regelrechter Elfmeter. Denn er kann nun behaupten, dass sich die angebliche Demokratie, die die Ägypter sich erkämpft haben, nicht lohnt; dass „wahre Gläubige“ (sprich: Islamisten) immer unterdrückt werden, selbst wenn sie durch Wahlen an die Macht kamen; dass Al-Kaida genau das immer schon gesagt hat; und dass am Ende sowieso die USA hinter dem Putsch gestanden haben müssen.

Noch wichtiger aber dürfte für Al-Kaida sein, dass die neue Konstellation wieder der gewohnten, alten entspricht: Säkulare „unterdrücken“ die Gläubigen. Das Narrativ von früher, es stimmt wieder.

Der Al-Kaida-Führer al-Sawahiri hat sich zuletzt schon länger nicht mehr zu Wort gemeldet. Wenn er dazu technisch und logistisch in der Lage ist, wird er gewiss bald die neue Lage in Ägypten, seinem Heimatland, thematisieren. Dort kennt er sich aus; als Extremist saß er dort im Gefängnis. Er mag die Muslimbrüder vielleicht nicht besonders – aber die Armee und die Polizei und das säkular-nationalistische Establishment hasst er. Gepaart mit der nach wie vor bestehenden neuen operativen Freiheit, insbesondere auf dem Sinai, könnte das zu Anschlagsversuchen in Ägypten führen.

Es ist nie schön, ein Schreckensszenario an die Wand zu malen, aber dieses ist plausibel. Der US-amerikanische Terrorexperte William McCants schrieb gestern auf Twitter nicht ohne Grund: „Irgendwo in Pakistan lächelt gerade Sawahiri. Der Al-Kaida-Spin wird so gehen: Die Muslimbrüder sind diskreditiert, weil sie sich an die Regeln hielten. Sawahiri hat seit zwei Jahren argumentiert, dass der Westen und die lokalen Eliten die Islamisten nicht regieren lassen werden. Dieses Argument hat jetzt unter Islamisten mehr Gewicht.“ (Übersetzung und Glättung von mir.)

Diese Konstellation macht klar, warum es jetzt eine denkbar schlechte Idee ist, die Muslimbrüder noch weiter zu demütigen. Dass gestern die neuen Herrscher offenbar bereits mehrere islamistische TV-Sender abschalten ließen, ist kein gutes Zeichen.

Immerhin gibt es aber auch Anzeichen dafür, dass viele Ägypter Vertrauen haben, dass das Land sich rasch stabilisiert. Der Kollege Mohamed Amjahid, derzeit für die ZEIT in Kairo, berichtet gerade, dass die Börse geschlossen werden musste, weil der Index durch die Decke gehe – anscheinend gibt es einen Ansturm auf ägyptische Aktien.

So oder so: Je schneller das Land einen politisch breiten Kompromiss findet, desto schwieriger wird es für Al-Kaida, die Entwicklungen auszubeuten. Im Moment haben es die Dschihadisten aber erst einmal einfacher als zuvor.

 

Innenminister Friedrichs Nebelkerze

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich will vorgeblich die Ausweisung islamistischer Aufwiegler vereinfachen. Tatsächlich verwischt der CSU-Politiker aber, was seine eigenen Sicherheitsbehörden zu differenzieren versuchen.

Die taz berichtet über einen ihr vorliegenden Referentenentwurf des Ministeriums zur „Modernisierung des Ausweisungsrechts“. Vermutlich ganz richtig ordnet Autor Christian Rath das Vorhaben als Versuch ein, die Bekämpfung islamistischer Aufwiegler zum Wahlkampfthema zu machen. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen: Warum soll sich ein Innenminister nach den Anschlägen in Boston und zuletzt in London nicht Gedanken zu diesem Thema machen?

Doch daran, wie es Friedrich vorhat, gibt es allerdings Grund für Kritik. Denn das Ministerium plant nicht etwa, ein umfangreiches Forschungsprogramm über Ursachen und Verläufe islamistischer Radikalisierung aufzusetzen. Oder die vollkommen disparaten Programme zur Radikalisierungsprävention auf kommunaler und Länderebene zusammenzuführen (und da einzuführen, wo es sie nicht einmal gibt).

Nein, der Innenminister will wohl stattdessen zunächst das Ausländerrecht verschärfen. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Laut taz soll ein Ausländer künftig schon ausgewiesen werden, wenn er eine Freiheitsstrafe von einem Jahr ohne Bewährung erhielt – statt wie bisher mindestens drei Jahre. Diese erste Verschärfung des Rechts hat in der Tat Auswirkungen.

Die zweite geplante Verschärfung ist dagegen praktisch gesehen irrelevant – dafür aber ideologisch bedeutsam und sicherheitspolitisch problematisch. Denn sie sieht laut taz vor, dass Ausländer „zwingend“ auszuweisen sind, wenn sie sich „bei der Verfolgung religiöser Ziele“ an Gewaltakten beteiligen, öffentlich zur Gewalt aufrufen oder mit Gewaltanwendung drohen. Bisher galt diese Regel „nur“ bei der Verfolgung „politischer Ziele“.

Friedrichs Spitzfindigkeit

Indem Friedrich dies auf „religiöse Ziele“ ausweitet, suggeriert er zum einen, dass hier zuvor eine Lücke klaffte. Zum zweiten, dass er sie erkannt hat und nun schließen will. Doch beides ist ein Irrtum.

Denn islamistische Extremisten verfolgen, wenn sie Gewalt anwenden, dazu aufrufen oder damit drohen, immer „politische Ziele“. Das ist keine Spitzfindigkeit, das sieht sogar das Bundesinnenministerium selbst so: „In Abgrenzung zur Religion ‚Islam‘ bezeichnet der Begriff ‚Islamismus‘ eine religiös verbrämte Form des politischen Extremismus“, heißt es da.

Der Bundesverfassungsschutz, dem Innenministerium untergeordnet, arbeitet mit einer ähnliche Definition: „Der Islamismus in Deutschland ist kein einheitliches Phänomen. Allen Ausprägungen gemeinsam ist der Missbrauch der Religion des Islam für die politischen Ziele und Zwecke der Islamisten.“

Hebelt eigene Unterscheidung aus

Die vorgeblich religiösen Ziele von Islamisten sind nach Ansicht der deutschen Sicherheitsbehörden also in Wahrheit politische Ziele. Friedrichs Referentenentwurf vermengt nun jedoch, was die eigenen Sicherheitsbehörden zu differenzieren versuchen: Indem das Ministerium einen Unterschied zwischen extremistisch-politisch motivierten Taten und religiös motivierten Taten konstruiert, hebelt es letztlich sogar die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus aus. Deren Bedeutung haben – auch und gerade – die Sicherheitsbehörden seit Jahren immer wieder betont.

Ist es das wirklich, was Innenminister Friedrich will? Man kann nur hoffen, dass diese Formulierung im Referentenentwurf ein schlecht durchdachtes Wahlkampfmanöver ist – und kein gezielter Versuch, den Extremismusbegriff durch die Hintertür umzudefinieren.

 

Mehr als 50 Deutsche kämpfen in Syrien

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat seine Schätzungen über die Zahl deutscher Teilnehmer am syrischen Bürgerkrieg aktualisiert: „Es liegen derzeit Erkenntnisse zu mehr als fünfzig deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die in Richtung Syrien ausgereist sind, um dort beispielsweise an Kampfhandlungen teilzunehmen oder den Widerstand gegen das Assad-Regime in sonstiger Weise zu unterstützen“, heißt es in einem aktuellen Statement des Amtes, das ZEIT ONLINE vorliegt. „Aufgrund der dynamischen Lageentwicklung vor Ort unterliegt diese Zahl tagesaktuellen Veränderungen mit derzeit eher steigender Tendenz.“ Das Bundeskriminalamt (BKA) und das BfV tauschten sich hinsichtlich der Erkenntnisse zu solchen Ausreisen laufend aus, heißt es darin weiter.

Diese Schätzungen sind nicht vollkommen überraschend, wohl aber präziser und höher als bisherige Angaben. Ende April hatte BKA-Chef Jörg Ziercke laut Bild.de von 40 bis 60 islamistischen Kämpfern aus dem europäischen Raum gesprochen, unter denen auch etliche Deutsche seien.

Ebenfalls Ende April hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Spiegel Online gesagt: „Wir wissen, dass auch Dschihadisten aus Deutschland, die wir hierzulande bereits im Visier hatten, sich in Syrien aufhalten und dort an der Seite der Rebellen kämpfen.“

Bereits Anfang April hatte ZEIT ONLINE über europäische Kämpfer in Syrien berichtet: Laut einer Studie des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) in London sind in den vergangenen 15 Monaten zwischen 140 und 600 Kämpfer aus europäischen Staaten in das Land gereist. Die meisten von ihnen stammen aus den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Belgien.

Der oberste Terrorismusexperte der Europäischen Union, Gilles de Kerchove, ging im vergangenen Monat davon aus, dass sich bis zu 500 radikale Islamisten aus Europa den Kämpfern gegen Assad angeschlossen hätten.

Was die deutschen beziehungsweise aus Deutschland stammenden Kämpfer angeht, zu denen sich das BfV nun äußerte, muss ergänzt werden, dass keinesfalls immer klar ist, welchen Fraktionen der bewaffneten Rebellen sie sich jeweils angeschlossen haben. Diese umfassen ein breites Spektrum, das von der Freien Syrischen Armee bis zur Al-Kaida-nahen „Jabhat al-Nusra“ reicht. Ebenso ist nicht immer erkenntlich, ob diese Kämpfer dauerhaft in Syrien sind oder jeweils für wenige Wochen oder Monate einreisen und dann wieder in ihr gewohntes Leben in Deutschland zurückkehren.

 

Mich interessieren die Attentäter!

Ich mag es, wenn ich gezwungen werde, meine Gedanken zu schärfen – und mit seinem aktuellen Text auf seinem Blog tut mein Kollege Jörg Lau genau das. Es geht um den Anschlag von Boston und die mutmaßlichen Attentäter, die Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew. Aber eigentlich geht es um alle Anschläge und alle Attentäter, denn Jörg Lau schreibt: „Ich (habe) es… satt, mich mit solchen Typen weiter zu beschäftigen.“ Und: „Mir reicht’s. Ich weiß genug – mehr als ich je wissen wollte – über die Attas, die Merahs, die Al-Awlakis, und jetzt eben über die Zarnajews. Ich muss sagen, es kommt nichts menschlich Interessantes dabei heraus.“

Hat Jörg Lau Recht? Beschäftigen wir uns zu intensiv und ohne echte Erkenntnisse mit diesen Lebensläufen? Suchen wir nach Erklärungen, wo es nur Anekdoten gibt – dazu noch stets dieselben oder jedenfalls vergleichbare? „Immer wieder beugen wir uns über ihre Familiengeschichten, ihre Identitätsprobleme, ihre Zerrissenheit, ihre verbrecherischen Mentoren und ihren kaputten Glauben, um zu verstehen, ach zu verstehen, warum, warum nur, sie tun was sie tun“, klagt der Kollege.

In Wahrheit geht es hier natürlich nicht ums Rechthaben. Jede und Jeder darf das alles satt haben. Niemanden muss es interessieren, dass Dschochar als Bademeister gejobbt und Tamerlan einmal seine Freundin geschlagen hat.

Aber mich interessiert es. Ich will alles wissen, was ich über die beiden in Erfahrung bringen kann. Und zwar nicht aus Voyeurismus – ich hege keinerlei Faszination für Attentäter an und für sich; sondern weil ich, anders als offenbar Jörg Lau, manchmal Entwicklungen erkenne, wenn ich diese Lebensläufe studiere.

Selbstverständlich haben islamistisch motivierte Attentäter viel gemeinsam. Geschenkt. Aber genau deshalb sind die Unterschiede ja umso bedeutsamer.

Ein Beispiel: Der deutsche Konvertit und spätere Terrorist Eric Breininger, der im April 2010 von pakistanischen Soldaten erschossen wurde, hinterließ eine Art Autobiografie. Der größte Teil war reine Propaganda. Aber da gab es auch diese Passage: „Ich war erst vier Monate im Islam. Dennoch kannte ich meine Pflicht, ich wollte in den Dschihad…“ Der Fall Breininger machte mit voller Wucht auf ein damals neues Phänomen aufmerksam, dem wir seither immer häufiger begegnet sind: Die mitunter rasend schnelle Radikalisierung späterer Terroristen.

Wie wenn nicht durch die Beschäftigung mit Breininger hätte ich das erkennen können? Dass neben das Altbekannte etwas Neues getreten ist? Breininger war eben gerade nicht wie Mohammed Atta – der sich über Jahre radikalisierte, allmählich und zielstrebig zum Terroristen aufgebaut wurde. (Breininger, das nur am Rande, ist übrigens eines von etlichen Beispielen dafür, dass die Terroristen, über die wir hier reden, keineswegs allesamt „mörderischen Loser von den Rändern der islamischen Welt“ sind, wie Jörg Lau schreibt. Loser? Ja. Aber Breininger kam aus dem Saarland.)

Es gibt andere Beispiele, die jeweils zu ihrer Zeit gezeigt haben: Achtung – der mäandernde Fluss des globalen Dschihadismus entwickelt gerade einen neuen Nebenlauf. Der erste aus Guantanamo entlassene Gefangene, der nach dem Durchlaufen des saudischen Rehabilitationsprogramms im Irak einen Selbstmordanschlag ausübte. Der erste aus Deutschland stammende Dschihadist, der sich einer Terrorgruppe in Waziristan anschloss und dort aufstieg. Der erste Attentäter im Westen, der durch das Al-Kaida-Magazin Inspire inspiriert wurde.

Die Terrorkarriere der Gebrüder Zarnajew könnte in ähnlicher Weise etwas Neues andeuten. Denn der Anschlag von Boston wirft die Frage auf, ob es so etwas wie einen dschihadistischen Amoklauf gibt. Das familiäre Drama hat nach allem, was man bisher vermuten kann, in einem ungewöhnlich hohen Maße zur Motivation beigetragen. Was, wenn hier eine Mischform entsteht?

„Na und?“, könnte man nun entgegnen. „Interessiert mich nicht. Andere Leute haben auch Probleme. Attentäter werden immer irgendwelche Pseudo-Rechtfertigungen finden.“ Das stimmt. Und auch hier antworte ich: Niemanden muss das interessieren.

Nur: Wer mitreden möchte, wenn aus Terror Politik gemacht wird, wenn Innenminister sich äußern und der Verfassungsschutz Konzepte vorstellt, wenn „Islamkritiker“ oder dubiose Imame sich aufpumpen, Bezirksbürgermeister Vorschläge machen und die Polizeigewerkschaft mehr Polizisten fordert, der sollte wissen dass Atta nicht Breininger ist und Breiniger nicht Dschochar Zarnajew. Methoden, die zum rechtzeitigen Aufspüren Mohammed Attas hätten führen können, hätten bei Dschochar Zarnajew vermutlich nicht geholfen. Dafür wäre Dschochar Zarnajew möglicherweise für ein kluges Präventionsprogramm ansprechbar gewesen, Mohammed Atta sicher nicht. Es sind also mitunter relevante Schlussfolgerungen, die man aus scheinbar sehr ähnlichen Attentäter-Profilen destillieren kann.

Ich verstehe trotzdem den Unmut des Kollegen Lau. Ich teile ihn oft sogar – es ist ermüdend, in diese Biografien einzutauchen, traurig, anstrengend, frustrierend. Trotzdem glaube ich, dass es notwendig ist. Nicht um Attentäter verstehen zu lernen. Das halte ich ohnehin für fast unmöglich. Sondern um zu erkennen, wenn neue Typen von Attentätern auftauchen.

„Der Terrorismus der radikalen Verlierer wird weitergehen“, schreibt Jörg Lau. Ich fürchte, dass er Recht hat. „Ich habe das dumpfe Gefühl, die nächsten radikalen Verlierer schon zu kennen, die Tamerlan und Dschochar nacheifern werden“, schließt er seinen Text. Da bin ich mir nicht so sicher.

 

Im Twitterversum

Helden und Hetzer, Experten und Verschwörungstheoretiker, Opfer – am Ende gar vermeintliche Täter: Der Anschlag von Boston und die Suche nach den beiden mutmaßlichen Terroristen hat auf Twitter das Beste und das Schlimmste zugleich hervorgebracht. Ein Erfahrungsbericht aus vier Tagen „Twitter-Gewitter“.

Ich bin müde, denn ich habe seit Montag nur wenig geschlafen. Ich war dafür sehr ausgiebig auf  Twitter unterwegs. „Du twitterst so intensiv und spätnachts, da dachte ich, Du bist auf der Boylston Street (in Boston) unterwegs“, schreibt mir gerade ein ZEIT-Kollege aus den USA. Ich war die ganze Zeit in Berlin, nicht in Boston – und ich hoffe, dass ich nicht ernsthaft das Gefühl erweckt habe, ich sei vor Ort; das wäre anmaßend und schräg.

Aber Twitter ist auf seine ganz eigene Art durchaus ein Dabeisein-Medium. Wobei das „Dabei“ weniger einen tatsächlichen Ort beschreibt als vielmehr eine öffentliche Diskussion über einen realen Ort und ein echtes Geschehnis. Ich suche aus, wessen Mitteilungen über dieses Ereignis ich wahrnehmen will.  Ich setze mich absichtsvoll einem ungefilterten Strom an wahren und falschen und halbwahren Informationen aus. Wenn man sich dieser Einschränkungen bewusst ist, kann Twitter ein grandioses Medium sein.

Freilich auch ein irritierendes. Ein skurriler Höhepunkt in den vier Tagen „Twitter-Gewitter“, in das ich mich wegen der Bostoner Anschläge begeben habe, fand am Freitagnachmittag statt, als plötzlich Nachrichten aus dem abgehörten Funkverkehr der Bostoner Polizei über Twitter liefen. Wenig später bat die Polizei, natürlich auf  Twitter, das zu unterlassen. Denn es bestand die Sorge, dass der Flüchtige via Twitter Wissen über Polizeipläne erhalten könnte.

Mehr Echtzeit geht nicht. In Twitter steckt echtes Potenzial, im Schlechten wie auch im Guten. Bostoner Bürger haben Betroffenen nach den Explosionen am Montag nicht zuletzt über Twitter Hilfe und Unterkunft angeboten.

Twitter ist kein Journalismus-Ersatz. Die meisten Twitterer plappern einfach vor sich hin, so wie es Menschen in der analogen Welt auch tun: „Hast du schon gehört?“ – Was dann folgt, ist oft genug ein Gerücht, unvollständig, halbfalsch. Aber es kann in Sekundenfrist tausendfach verbreitet werden und mit jeder Verbreitung echter wirken. Auch das geschah im Fall Boston, in übelster Weise. So galten in Teilen des Twitterversums über Stunden hinweg erst ein Saudi-Araber und dann ein indischer Student als Täter. Sie waren nicht einmal verdächtig. Kaum jemand entschuldigte sich für diese Falschmeldungen, und manche störten sich auch nicht daran, dass sie gefährlichen Blödsinn um die Welt geschickt hatten. Im Gegenteil. Sie wollten nur, dass andere es glaubten. Twitter ist wie jedes Medium auch ein Werkzeug von Hetzern, Rassisten, Terroristen.

Andererseits ist Twitter großartig, um auf dem Stand zu bleiben, wenn es um echten Journalismus geht. Es ist unmöglich, durch Googeln so schnell an so viele Links zu aktuellen Artikeln aus aller Welt zu kommen. Wer jedoch die Leute, denen er auf Twitter folgt, geschickt aussucht, hat seinen eigenen digitalen Schnipseldienst schnell zusammen. Lesen und bewerten muss jeder selber – aber es hilft zum Beispiel, wenn ein Experte, den man kennt und dem man traut, einen Link zu einem Text herumschickt und erkennen lässt, dass er ihn schon gelesen hat und für wichtig hält.

Wer stattdessen nur CNN geschaut hat (was ich stundenweise parallel getan habe) war oft schlechter und langsamer informiert. Und warum soll ich warten, bis ein Journalist anderswo eine Meldung aufbereitet und produziert und online gestellt hat, wenn ich der Bostoner Polizei, dem Polizeipräsidenten, dem zuständigen Staatsanwalt und dem FBI auf Twitter folgen kann, wo ich ihre Kommuniqués als Erster bekomme?

Und dann gibt es noch die hyperreale Seite an Twitter, die manchmal fast wieder irreal wirkt: Wenn ich auf Twitter lesen kann, wie Bostoner Einwohner beschreiben, was sie in dieser Sekunde sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen. Wenn sie sogar noch die Fotos dazu schicken, aus einer Zone, zu der Journalisten keinen Zugang haben, weil sie abgeriegelt ist. Oder wenn, ein weiterer Höhepunkt und besonders gespenstisch, plötzlich der Twitter-Account des Flüchtigen entdeckt wird und seine eigenen Worte von vor einigen Tagen oder Wochen nachzulesen sind. Die dann wieder von Menschen kommentiert werden – unter ihnen solche, die ihn kannten. (Oder es behaupten – wie gesagt: Das Prüfen muss man schon selbst übernehmen!)

Twitter ist sehr unmittelbar und schnell. Doch das bedeutet nicht, dass man nicht auch an kluge Gedanken geraten kann. (Für Journalisten können natürlich auch die nicht klugen Gedanken interessant sein, weil sie trotzdem etwas aussagen.) Ich beschäftige mich seit Jahren mit Terrorismus und folge darum vielen Terrorexperten, die ich zu einem guten Teil auch aus der realen Welt kenne, von Konferenzen, aus Interviews und so weiter. Ich weiß, dass sie sich auch für den Anschlag interessieren und ich lege Wert auf das, was sie zu sagen haben (die Klügsten unter ihnen unterlassen freilich das freihändige Spekulieren, sie weisen stattdessen auf hilfreiche Ressourcen hin, die den Kontext erweitern). Auf Twitter habe ich eine Dauer-Konversation mit ihnen, ohne dass ich sie anrufen muss, einen nach dem anderen. Einer dieser Experten twitterte am dritten Tag die auf den ersten Blick erstaunliche Theorie, dass Twitter sogar helfen könne, den Nachrichtenzyklus zu entschleunigen.

Das wirkt verrückt. Andererseits: Einzelne TV-Sender berichteten zwischenzeitlich deutlich weniger besonnen als Twitterer. Eine interessante Frage: Fühlten sie sich von Twitter getrieben? Oder hätte Twitter ihnen helfen können, besser zu berichten? (Aber das ist eine andere Diskussion.)

Twitter hilft jedenfalls eher beim Informieren als beim Nachdenken. Es ist nicht logisch, nicht geordnet, nicht strukturiert. Twitter allein ist auch sicher keine gute Grundlage für die Beschreibung oder Deutung der realen Welt, und so nutze ich es auch nicht. Aber es ist nah, direkt, laut. Und interaktiv: Mini-Debatten inmitten eines großen, globalen Palavers. Ernsthaftes und Wichtiges und Nachdenkliches versteckt in einem unablässigen, oft auch redundanten Strom – das ich aber anders vielleicht gar nicht entdeckt hätte.

Twitter ist anstrengend. Ich mache jetzt eine Pause.

 

Zu wenig Fakten, zu viel Propaganda

"Der Terror ist zurück": Die Anschläge in Boston dominieren die Schlagzeilen. © Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images
„Der Terror ist zurück“: Die Anschläge in Boston dominieren die Schlagzeilen. © Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Von der kürzlich verstorbenen Margaret Thatcher stammt die Erkenntnis, dass Öffentlichkeit der Sauerstoff ist, den der Terrorismus zum Atmen braucht. Dem ist wenig hinzuzufügen – aber im Lichte einiger erster Reaktionen auf die Bombenanschläge beim Bostoner Marathon am Montag drängt sich eine Verfeinerung auf: Für radikale Propagandisten haben Terrorakte offensichtlich eine ähnlich vitalisierende Wirkung wie Sauerstoff.

Nur Minuten, nachdem der Anschlag in Boston bekannt wurde, wussten zwei Sorten Radikaler jedenfalls, wer dahinter stecken musste. Über Twitter, Facebook und diverse Internetforen ließen sie die Welt an ihren Erkenntnissen teilhaben, die sie freilich so einbetteten, wie es ihren Zielen nutzte. Die Rede ist hier von Cyber-Dschihadisten einerseits – und extremen Islamhassern andererseits.

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Was ist Anders Bering Breivik – und wenn ja, wie viele?

Am vergangenen Wochenende war ich nach Rostock-Warnemünde eingeladen, zu einem Symposium der Berliner Humboldt-Universität zum Thema Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Ich saß dort auf einem Panel, das sich eigentlich mit der Rolle der Medien beschäftigen sollte; tatsächlich ging es dann vor allem um die Frage: Welcher Ideologie kann man den norwegischen Terroristen Anders Bering Breivik zuordnen? Das war aber nicht schlimm, sondern ausgesprochen interessant – zumal die Hälfte der Redner aus Norwegen stammte und zum Teil im Breivik-Prozess als Gutachter fungiert hatte.

Den Anfang machte Terje Emberland vom Holocaust-Zentrum in Oslo: „Ist Breivik ein konservativer Christ? Ein Nationalist? Ein extremer Anti-Jihadist? Da gibt es eine Menge Konfusion. Man könnte sogar fragen: Hatte er überhaupt eine Weltanschauung?“

Die Konfusion ist nachvollziehbar: Allein in dem Traktat von über 1000 Seiten, das Breivik verfasst hat, finden sich Belege für jede einzelne dieser Annahmen, aber eben auch etliche Widersprüche. Emberlands Methode, hinter diese Inkohärenzen zu kommen, besteht darin, den Inhalt der ausufernden Aussagen Breiviks auf einige, wenige „manifestierende Gedanken“ einzukochen. Emberlands Meinung nach sind es diese: Europa sei Opfer einer islamistischen und/oder „kultur-marxistischen“ Verschwörung; ein apokalyptischer Krieg stehe bevor; am Ende müsse eine autoritäres Regime errichtet werden.

Diese Kernpunkte, so Emberland weiter, bedeuteten, dass Breivik „in seinen grundlegenden Ideen“ ein Faschist sei. Aber es handle sich um eine „neue Variante“ des Faschismus, einen „mutierten“ oder „hybriden Faschismus“, so Emberland. Und dann ergänzte er, betont ruhig und aufgeregt, einen weiteren Punkt: „Breiviks Taten waren extrem. Aber seine Ideen sind weitaus verbreiteter. Es gibt eine Menge Leute auf diesem ideologischen Pfad.“ Breivik sei also, was seine Ideologie angeht, kein Einzelgänger, kein Solitär.

Der Philosoph Lars Gule von der Hochschule Oslo sieht das ähnlich. Gule treibt sich seit Jahren auf radikalen Webseiten herum und versucht, die Akteure dort in Diskussionen zu verstricken. Eine dieser Seiten besuchte vor seinem Anschlag auch Breivik regelmäßig. „Und auf dieser Website“, sagt Gule, „war Breivik mainstream.“ Gule spricht, und hier ging es dann doch um Medien, dem Internet eine Bedeutung in diesem Zusammenhang zu: Es habe einen „offensichtlichen Treibhauseffekt“, was die Verbreitung von Verschwörungstheorien angehe – und die ja, wie zuvor Emberland ausgeführt hatte, für Breiviks Weltbild konstitutiv sind. Gule regt an, dass es ein neues Studienfach namens „Internet-Psychologie“ geben müsse. „Dieser Effekt ist nämlich nicht gering!“ Ich finde den Gedanken interessant. Solche Forschung könnte auch helfen, Radikalisierungsprozesse zum Beispiel bei Dschihadisten noch besser zu verstehen. (Einige Untersuchungen gehen bereits in diese Richtung.)

Der Hamburger Historiker Volker Weiß versuchte dann, Querbezüge zwischen Breiviks Ideologie und der „Neuen Rechten“ in Deutschland herauszuarbeiten. Die interessanteste Parallele ist diese: Beide versuchten, die Diskreditierung des historischen Nationalsozialismus dadurch zu umgehen, dass sie sich auf dessen Wurzeln vor der Machtergreifung des Nazis und vor dem Holocaust bezögen – also auf ideologische Schriften aus den Zwanziger Jahren und zum Beispiel das Konzept der „konservativen Revolution“. In diesem ideologischen Zusammenhang steht für Weiß übrigens auch Breiviks Entscheidung, nicht etwa eine Moschee anzugreifen, sondern ein sozialistisches Jugendlager: „Der ideologisch gestählte Terrorist geht auf den ‚inneren Feind‘.“

Leider habe ich von dem zweitägigen Symposium nur dieses eine Panel mitbekommen. Aber schon das hat sich gelohnt. Meine Haupterkenntnis ist diese: Breivik lässt sich vermutlich am besten als Faschist und Terrorist beschreiben. Und was seine Ideologie angeht, sollte man sich nicht von seinen scheinbar wirren Symbolen und Exkursen (Freimaurer-Uniform, Tempelritter-Kult, erlogene Geschichten, etc.) ablenken lassen: Es gibt, quer durch Europa, noch andere, die denken, wie er denkt.

In eigener Sache: Das hier ist der erste Post in diesem neuen Blog. Ich freue mich über alle Leserinnen und Leser, über interessante Diskussionen und ebenso über Anregungen für Themen!