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Was les ich zur EM?

Da kommt man zurück nach Deutschland, hat seine Urlaubstasche noch gar nicht richtig ausgepackt – schon begegnet einem der Fußballwahnsinn! Menschen laufen bei knapp dreißig Grad in Polyesterhemdchen rum, Fähnchen wehen an Autos, Kneipen bauen Leinwände auf, und die Freunde haben keine Zeit mehr und reden von Mannschaftsaufstellungen, Torwartproblemchen, Bierkaltstellen und der Frisur von Bastian Schweinsteiger. Ja, es ist EM, ja, darüber muss man reden. Etwa so: Plötzlich erzählt mir ein Bekannter, er begeistere sich nun für Rumänien, allein, weil er den Stürmer Adrian Mutu so toll findet. Jetzt wolle er da auch mal hin, Bukarest sehen, das kleine Paris. So einfach geht das? Und: Geht das auch mit Büchern? Daher empfehle ich jetzt mal was. Für jedes EM-Team ein Buch aus ihrem Land, das Sie dann lesen können, wenn spielfrei ist. Und los geht’s:

Gruppe A:
Peter Stamm, Blitzeis (Schweiz)
Karel Čapek, Der Krieg mit den Molchen (Tschechien)
José Saramago, Das Todesjahr des Ricardo Reis (Portugal)
Orhan Pamuk, Rot ist mein Name (Türkei)

Gruppe B:
Dorota Maslowska, Schneeweiß und Russenrot (Polen)
Clemens Meyer, Als wir träumten (Deutschland)
Franz Grillparzer, Der arme Spielmann (Österreich)
Roman Simić, In was wir uns verlieben (Kroatien)

Gruppe C:
Mircea Cartarescu, Die Wissenden (Rumänien)
Cees Nooteboom, Allerseelen (Niederlande)
Louis-Ferdinand Celine, Reise ans Ende der Nacht (Frankreich)
Und weil Italien es leicht haben wird, ins Finale zu kommen, gibt’s etwas schweres zu lesen: Dante, Die göttliche Komödie – naja, vielleicht doch besser Italo Calvinos Der Ritter, den es nicht gab

Gruppe D:
Vladimir Sorokin, Die Schlange (Russland)
Stig Larsson, Die Autisten (Schweden)
Berta Marsé, Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte (Spanien)
Aischylos, Orestie (Griechenland)

Viel Spaß und frohes Fußballgucken.

 

Nicht schon wieder, Eva!

Sie ist wieder da. Ein halbes Jahr nach ihrem Arche Noah-Prinzip hat Eva Herman mal wieder etwas in die Tastatur gegossen. Und weil es ihr ständig ums Prinzip geht, heißt das neue Buch Das Überlebensprinzip. Oha. Wandelt sie jetzt auf den Spuren von Rüdiger Nehberg? Erzählt Sie uns, wie wir überleben in dem Dschungel aus NS-Autobahnen und NS-Familienpolitik, in den sie sich ehedem begab? Und vielleicht wie wir dort den besten Apfelkuchen backen?

So ähnlich. Sie beantwortet die Fragen, die uns schon lange unter den Nägeln brennen: „Was würde Eva Herman heute anders machen?“, heißt es im Pressetext. Eine Anregung hätt‘ ich da: Keine Bücher mehr schreiben?
Weiterhin verspricht sie Folgendes zu beantworten: „Warum mag sie keine Kinderkrippen? Welche Werte sind ihr wichtig?“ Oh, Eva! Bzw.: Herr Gott! Denn um den geht’s auch wieder: „Warum wir die Schöpfung nicht täuschen können“, lautet der Untertitel des Buchs. Da saust uns allen jetzt schon mächtig der Frack. Jedoch: „Das Buch ist kein ‚wir rechnen mit der Welt ab‘, sondern Eva Herman nimmt Bezug auf Reaktionen, geht darauf ein“, sagt Pressesprecherin Annegret Rüdiger vom Hänssler-Verlag. Da hat Kerner noch mal Glück gehabt.

 

Literatur für Partys

Neulich sagte eine sehr gute Freundin, ich hätte ihr gegenüber einen sozialen Vorteil, da ich Literaturwissenschaft studiert habe und sie Biochemie. Denn über Literatur könne man überall reden. Auch und besonders auf Partys. Ihr Studium helfe ihr da bloß, falls jemand wissen wolle, wie er den Kater am nächsten Tag wegbekomme. Somit sei allen Biochemikern, Maschinenbauern, Physikern und Juristen diese kurze Party-Literatur-Smalltalk-Anleitung gegeben. (Die Bücher sollten Sie gelesen haben, ist aber auch nicht schlimm, wenn nicht)

Zunächst: Reden Sie nie über Handke! Daran gingen schon Freundschaften zu Bruch. Sagen Sie höchstens: „Sein Frühwerk gefällt mir ganz gut, schade nur, dass er da noch so viel von Kafka geklaut hat.“ Wenn Sie auf Krawall aus sind, schieben Sie nach: „Ich finde es ganz bemerkenswert, dass er seinen Milosevic-Fimmel aus seiner Literatur heraushält.“

Aber besser nicht Handke. Reden Sie lieber über Süßkind! Sagen Sie, wie mittelmäßig Ihnen Das Parfüm gefallen hat im Vergleich zu Die Taube, die ja viel weniger kennen. Da können Sie auch wieder den Kafka-Satz anbringen, denn auf die Taube trifft das auch zu. Beklagen Sie danach den Zustand der deutschen Literatur. Sagen Sie, dieses ganze brave realistische Erzählen sei mutlos und langweilig. Loben Sie Clemens Meyer als eine Ausnahme. Sagen Sie, er sei sehr amerikanisch, mehr wie Hemingway. Das ermöglicht den Schlenker zu amerikanischen Kurzgeschichten. Zeigen Sie sich begeistert von T.C. Boyles ersten Sätzen (Wenn möglich zitieren. Notfalls gehen Sie vorher in die Buchhandlung und schreiben einen ab.). Bejubeln Sie dann Raymond Carvers Kurzatmigkeit. Wenn Ihnen immer noch zu wenige Leute staunen, sagen Sie, dass Carver heute hierzulande durchaus seine Epigonen hat: Peter Stamm oder Judith Hermann etwa. Aber bei WEIIIIITEM nicht so gut. Trinkpause.

Gerne können Sie auch Namen osteuropäischer Autoren einstreuen. Milena Oda, Jagoda Marinic, Alek Popov. In deren Prosa stecke eine Energie… Schnalzen Sie mit der Zunge, breiten Sie die Hände aus und nehmen noch einen Schluck.

Seufzen Sie dann und erinnern sich an Brecht! Der hatte noch was zu sagen, sagen Sie. Außerdem finden sich da immer genügend Zuhörer, den hat ja jeder in der Schule gelesen. Fangen Sie seicht an und bemerken Sie, dass der Gute Mensch von Szechaun aus der neunten Klasse immer noch wie eingebrannt sei. Falls Ihnen jemand widerspricht und Sie schon angeheitert sind, lassen Sie den Peter Gauweiler raus: Brechts „Kleines Organon vermittelt darüber hinaus die Diktion, welche man braucht, um im Deutschland von heute als kritischer Mensch zu gelten.“ Kommt bestimmt super an.

Wenn man dann von Schule und Brecht fast unvermeidlich zu Hesse kommt, bügeln Sie jeden Beitrag sofort ab: „Hesse? Pah! Viel zu barock!“ Sagen Sie, nur den Steppenwolf hätten Sie mit Gewinn gelesen. Ansonsten nerve Sie das Kalenderspruchartige seiner Lyrik, seine Romane seien viel zu blumig, und seine Aquarelle könnte man in jedes Sparkassen-Foyer hängen. In neun von zehn Fällen kommt jetzt ein anderer deutschsprachiger Nobelpreisträger. Zu Grass passt zwischen Bier und nächstem Bier ein Satz: „Die Blechtrommel gut, die restlichen Romane aber zu betulich, seine Lyrik hingegen, hach ja, völlig unterschätzt!“

Kommen Sie dann rasch zu Arno Schmidt, bevor dieser ganze Flakhelferkram Ihnen die Feier versaut. Schmidt ja, der hätte den Nobelpreis bekommen sollen, und dann sagen Sie wörtlich: „Der ist wirklich so genial versponnen.“ Hören Sie auf zu schwärmen! Bemerken Sie beiläufig, wie Schmidts Montagetechnik die postmoderne deutsche Literatur beeinflusste. Die Partyküche wird sich leeren.

Diejenigen, die noch da sind, können Sie mit Ihrem Wissen zu Jörg Fauser beglücken. Sagen Sie: „Schon tragisch, dass jemand einfach so an seinem Geburtstag von einem Laster überrollt wurde.“ Wenn Sie schon bei Tragik sind, schieben Sie Kleists Kampf mit Goethe hinterher. „Kleist wollte doch immer nur Goethes Anerkennung. Deswegen hat er sich erschossen damals am Wannsee.“ Aber bleiben Sie nicht so lange in der Klassik, da ist das Eis dünn, da gibt es zuviele Profis. Trinken Sie nach diesem Satz lieber noch ein Bier und gehen tanzen. Wenn noch jemand reden möchte, verweisen Sie auf John Dryden und sagen: „Tanzen ist die Poesie des Fußes.“

 

Bordsteinkantengeschichten

Zuerst werden Bäume gefällt, zersägt und zerkleinert. Die Holzstücke kommen in einen Sulfatkocher, damit aus ihnen Zellstoff wird. Der kommt in eine Presse, wird geschnitten, getrocknet und wozu? Damit sowas gedruckt werden kann:

„Aber egal wie viel sozialkritischen Revoluzzer-Rap wir hörten: Kleine Niggaz wie wir drehten trotzdem frei – ganz besonders ich und mein Bruder Bing. Pflastersteine flogen durch Autoscheiben, Kaugummis verklebten Schlüssellöcher und in dem kleinen Eckladen verschwanden die Süßigkeiten wie von Geisterhand.“

Die Geisterhand gehört dem Helden aus Snoop Doggs Roman Love Don’t Live Here No More, den der Gangsterrapper mit Hilfe von Geisterschreiber David E. Talbert zu Papier brachte. Das Buch erzählt die Geschichte von Ulysses Jeffries, der James Joyce nicht kennt, aber sonst weiß, wo es langgeht:

„Auf den Straßen hingen wir mit den Baby-Bitches aus der Hood ab, die für uns die T-Shirts lüfteten und uns ihre Mini-Titties zeigten.“

Na, hallo!

„Zugegeben – besonders groß waren sie nicht, aber für uns war’s trotzdem Bombe.“

Muss man sagen. Der Roman sei „spannend, authentisch und voller Insiderwissen“, heißt es im Klappentext. Und so begegnet man der mürrischen Oma, den schießwütigen Dealern, Sex, Drogen, Hip Hop und Leuten, die sich „Nigga“ nennen. Snoop Dogg hat davon schon unzählige Lieder gesungen, darüber Videos gedreht, nun hat er 173 Seiten vollgeschrieben. Doch halt! David E. Talbert erklärt:

„Es geht um die Dinge, die gut oder auch weniger gut sind, wenn man in der Hood aufwächst. Dieses Buch reflektiert wirkliche Erfahrungen aus der Sicht einiger der interessantesten Charaktere, die ich je kreiert habe.“

Und: „Ich danke dem Schöpfer für die Gabe des geschriebenen Wortes.“ Aber der Schöpfer sagt: Dank es dem Wort, so will’s dein Genetiv.

Doch gucken wir uns doch mal einen der „interessantesten Charaktere an“, die Talbert je erschaffen hat:

„Zum Beispiel mein Homie Buddha, sozusagen der Drogenbeauftragte der Hood. Er hatte nicht nur Kohle und Weiber, sondern auch einen Benz.“ Ui.

„Buddha war riesig, schwarz wie..“, na? ,“…die Nacht, extrem slick und hatte die coolsten Begrüßungen drauf. Auch bei seinem Style ließ er nichts anbrennen – er hatte immer die neuesten und teuersten Jogginganzüge und die passenden brandneuen Sneakers.“

Andere Schriftsteller brauchen ein paar Hundert Seiten, ehe sie solch tiefe Charaktere erschaffen. Snoop (so nennt man ihn in der Hood) und Talbert benötigen nur 33. Ein Klischee jagt das nächste, es wird geschossen, gekifft und, na, Sie wissen schon. Geredet wird auch. Und zwar so:

„Du kannst ruhig ’ne Runde um den Block drehen,… aber wenn du meinen Wagen abfuckst, bist du dran.“
„Kommst du nun mit oder nicht?“
„Nein, Digga, auf keinsten.“
„Du wirst alle Bitches haben können, die du willst.“

Da möchte man Gott doch auch glatt für die Sprache und das Papier danken. Bob Dylan hat für sein schriftstellerisches Werk unlängst den Pulitzer-Preis bekommen. Snoop Dogg denkt offenbar auch schon ans Gesamtwerk. Unter dem Titel des Buchs steht „Doggy Tales Vol. 1“.

Ich nehme das mal als Drohung.

 

Literarischer Stimmungsaufheller

Wann immer die Welt schlecht ist, wann immer Regen fällt, die Liebste absagt, Werder Bremen verliert und der FC Bayern gewinnt – denken Sie an diesen Satz, den die RTL-Moderatorin Birgit Schrowange in ihrer Biografie einst der Welt schenkte:

„Thomas ist eine historische Größe in meinem erotischen Lebenslauf.“

Schon geht’s besser. Oder?

 

Altersfragen

Was tun im Alter? Der schöne Reading Room der FAZ nimmt sich der Frage an und macht Honneurs:

„Wer so viel geleistet hat wie die Herren Goethe und Walser, der hat nicht mehr viel zu verlieren, aber manches zu gewinnen, wenn er sich traut – oder?“

Das letzte Mal, da sich Herr Walser in der FAZ was traute, gab’s einen offenen Brief des Herausgebers, und Suhrkamp musste ein ganzes Buch umschreiben. Nun soll er wieder, schnellschnell, sonst kommt der Pöbel:

„Schon viele unwürdige Greise und Greisinnen haben noch viel zustande gebracht, weil sie sich um nichts mehr geschert haben.“

Die sind aber unwürdig. Die zählen also nicht. Während die würdigen, wer immer die sind, zu Hause sitzen, Däumchen drehen, das Zweite gucken und mit den Dritten klappern, oder wie oder was?

„Warum sich also nicht im hohen Alter noch in eine 20jährige verlieben..“

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„… oder Bücher über die Liebe im Alter schreiben, die viele für peinlich halten?“

Rolf Eden, wo sind Sie?

 

Max Goldt bekommt Kleist-Preis

Der Schriftsteller und Musiker Max Goldt erhält den Kleist-Preis 2008. Der Autor Daniel Kehlmann habe als Vertrauensperson der Jury Goldt für die Auszeichnung ernannt, teilte die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft am Montag in Berlin mit. Der 1958 in Göttingen geborene Goldt habe als Kolumnist der Zeitschrift Titanic, Essayist und Prosakünstler den deutschen Alltag bis «zur Kenntlichkeit entstellt», hieß es zur Begründung. Mit seinem Witz, Scharfsinn und ästhetischen Urteilsvermögen sei er dem Sprachkritiker Karl Kraus (1874-1936) vergleichbar.

Der mit 20 000 Euro dotierte Preis soll Goldt am 23. November in Berlin verliehen werden. In den 20er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts wurden unter anderem Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht und Robert Musil mit dem Kleist-Preis geehrt. Nach Wiederbegründung des Preises 1985 waren Preisträger unter anderem Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Martin Mosebach und zuletzt Wilhelm Genazino.

Goldt lebt seit 1977 in Berlin. 1981 gründete er zusammen mit Gerd Pasemann das Duo Foyer des Arts und galt mit Songs wie Wissenswertes über Erlangen oder Hubschraubereinsatz als einer der Stars der Neuen Deutschen Welle. Als Schriftsteller wurde er mit mit Titeln bekannt wie Mein äußerst schwer erziehbarer schwuler Schwager aus der Schweiz (1984) oder Schließ einfach die Augen und stell dir vor, ich wäre Heinz Kluncker (1994). Zuletzt erschienen Vom Zauber des seitlich dran vorbeigehens und QQ.

Das Preisgeld stiften die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Länder Berlin und Brandenburg. Der Preis wurde erstmals 1912 anlässlich des 101. Todestages von Heinrich von Kleist auf Anregung von Fritz Engel (1867-1935), Redakteur des Berliner Tageblatts, durch die Kleist-Stiftung vergeben. (mit dpa)