Die Wurzeln von rassistischem Terror liegen mitten in der Gesellschaft, meint Historiker Wolfgang Benz. Ein Aufruf an uns alle, die Ursachen eben dort zu bekämpfen.
Von Sebastian Lipp
Charleston 2015, München 2016, Pittsburgh 2018, Christchurch, Kassel und Halle 2019, Hanau 2020: Hinter den Schlagworten verbergen sich Terroranschläge aus rassistischen und antisemitischen Motiven. Die Zahl der Taten nimmt zu, weltweit und auch in Deutschland steigt die Zahl ihrer Todesopfer.
Auch das Profil der Täter verändert sich: Den 80er-Jahren entstammen Rechtsterroristen aus Wehrsportgruppen, in den 90ern politisierten sich die Neonazi-Skinheads des NSU in der Rechtsrockszene. Ein relativ neuer Typus sind äußerlich unscheinbare, in den Resonanzkammern des Internets scharf gemachte Täter. Das zeigt eine Studie des Historikers Wolfgang Benz: Vom Vorurteil zur Gewalt. Benz, langjähriger Professor an der Technischen Universität Berlin, hat die schwersten Hassverbrechen der vergangenen Jahrzehnte und ihre Urheber analysiert. Er will eine Antwort finden, wie die Gesellschaft den Taten begegnen kann.
Egoismus statt Solidarität
Die Hassverbrechen haben demnach viele Gemeinsamkeiten: die vermeintliche Einzeltäterschaft, einen Vernichtungswunsch, der auf Ressentiments beruht, eine Öffentlichkeit heischende Botschaft. Diesem Schema folgte der Anschlag des Norwegers Anders Breivik von 2011 mit 77 Toten, auf den sich Nachfolger beriefen.
Benz plädiert gegen Reflexe, die Ursache für das Unglück bei den Opfern zu suchen, etwa, weil diese vermeintlich nicht mit der Lebensweise der Mehrheit konform gehen. Tatsächlich müsse die Ursachenforschung in der Mehrheitsgesellschaft beginnen. Trägerschichten ausgrenzender, menschenfeindlicher Einstellungen sind demnach nämlich „die besseren Stände, die mittleren und höheren Schichten, die Tugenden des Bürgers wie Toleranz und Solidarität zugunsten des eigenen Fortkommens oder im Interesse des Statuserhalts frohgemut den Abschied gegeben haben“.
Sie plage ein Gemenge von Unsicherheit und Angst, von Ratlosigkeit und Unverständnis gegenüber rasanten und komplexen Veränderungen der Welt. Diese Gemengelage bilde den Nährboden für Demagogie und Hetze. „Anlass, nicht Ursache, bilden die Opfer, die als ‚Fremde‘ stigmatisiert“ zum Feindbild würden, analysiert Benz.
Täter aus dem Bürgertum
Als ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin beschäftigt sich der 79-Jährige seit Jahrzehnten mit der Frage, wie aus Ressentiments Feindbilder werden, die in Hass umschlagen, der sich wiederum zu Massengewalt, zum Krieg und zum Völkermord steigert. Benz richtet sich mit seinem Band ausdrücklich nicht nur an ein Fachpublikum – im Gegenteil.
Schließlich wurden bei den großen Ausschreitungen der 90-er Jahre wie in Hoyerswerda und Rostock normale Bürger zu Erfüllungsgehilfen der Demagogen: „Als seien sie persönlich bedrängt, als würden sie individuell zur Kasse gebeten, als gäbe es eine fundamentale Bedrohung der Wohlstandsgesellschaft, randalierten Bürger nächtelang vor Flüchtlingsunterkünften, grölten ausländerfeindliche Parolen, stießen Morddrohungen aus, übten Gewalt.“ Und im Jahr 2015, als etwa 700 Wohnheime für Asylsuchende angezündet wurden, sei Brandstiftung zum „Volkssport“ ausgeartet. Die Täter kämen überwiegend aus der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Politik indes habe versagt, weil sie das Gewaltpotential unterschätzte – und „glaubte, bedrückten Bürgern Verständnis entgegenbringen zu müssen“. Die Angst vor einer vermeintlichen Überfremdung sieht Benz heute weiter verbreitet denn je – befeuert auch durch eine stetig wachsende Bereitschaft, Legenden und Gerüchten Glauben zu schenken. Das gelte auch für den rechtsterroristischen Tätertypus, der in den vergangenen Jahren aufkam. Diese Angreifer radikalisierten sich „im hermetischen Raum individuellen Konsums sozialer Medien“. Darin saugten sie die Hassbotschaften der Ideologen auf – und kaum davon zu trennen auch den Auftrag zur Gewalt.
Hassbotschaften, ideologisch aufgeladen
Ohne diese dort verbreitete „Mordhetze“ wären die jüngsten Terroranschläge gegen Kirchen, Synagogen oder Moscheen für Benz kaum vorstellbar. Insofern gebe es keine „Einzeltäter, die isoliert von aller Welt wüten“. Damit trügen die Ideologen und Scharfmacher einen erheblichen Teil der Verantwortung für diese Verbrechen. Das gelte auch und gerade für die AfD.
Was bedeutet das für eine Gesellschaft? Die Ursprünge der terroristischen Angriffe reichen laut Benz „vom stillen Vorbehalt bis zum flammenden Hass“. Werden sie ideologisch aufgeladen, entladen sie sich zunehmend durch Gewalt. Und dagegen helfe weder mehr Geschichtsunterricht noch verordneter Gedenkstättenbesuch. Die Forderungen, das Übel dergestalt zu bekämpfen, sind für Benz „lediglich Chiffren der Hilflosigkeit.“
Vom Vorurteil zur Gewalt ist eine fundierte Analyse der dumpf-wahnhaften Reflexe auf Geraune aus dem Internet, die wieder und wieder in Morde münden. Die einzig dauerhaft wirksame Gegenwehr sieht der Historiker in „Aufklärung, Bildung, Erziehung zur Demokratie und Bestärkung in der so gewonnenen Haltung. Das ist ein mühsamer Weg, ein dauernder Auftrag, der langen Atem und Stetigkeit von allen Beteiligten verlangt“ – sowie unbedingte Solidarität und Empathie mit den Betroffenen, möchte man ergänzen. Die Studie ist ein flammender Appell, sich diesem Auftrag zu verpflichten.
Wolfgang Benz: „Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart“. Herder, Freiburg 2020; 480 S., 26.- €, als E-Book 20.- €