Die Polizei überwältigen, Auflagen ignorieren, Mythen verbreiten: Nach diesem Rezept laufen Demonstrationen von Querdenkern ab. Am Samstag in Kassel ging ihr Plan erneut auf.
Von Henrik Merker
Der Samstag in Kassel endete, wie er begonnen hatte: im Chaos. Demonstranten und Polizisten gingen aufeinander los, die Beamten setzten Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke ein. Mehrere Zehntausend Teilnehmende zogen bei einer Querdenker-Demonstration durch die hessische Stadt. Die Szene deutscher Corona-Leugner hatte bereits seit Januar zu dem Großevent aufgerufen.
Die Kasseler Querdenken-Sektion und eine Gruppe namens Freie Bürger Kassel verfolgten ein offensichtliches Ziel: Eskalation. In Videoaufrufen wurden Auseinandersetzungen von Demonstranten mit Polizisten aus anderen Ländern gezeigt. Wie bereits zuvor in Leipzig und Dresden setzt sich Querdenken über rechtsstaatliche Normen hinweg. Mit Erfolg hat die Bewegung ihre Demonstrationsstrategie aus dem Osten der Republik exportiert. Die Grundidee besteht darin, Versammlungsauflagen und Gerichtsentscheidungen zu ignorieren, Polizisten durch schiere Masse zu überwältigen und die eigene Macht zu demonstrieren.
Ursprünglich wollte die Stadt Kassel den Aufmarsch komplett untersagen. Am Freitag hatte der hessische Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass die Querdenker eine Kundgebung auf der östlichen Flussseite abhalten dürfen – und keine Demonstration, bei der die Teilnehmenden in die Innenstadt ziehen. Zudem erklärte das Gericht Masken und Abstand zur Pflicht.
Überforderte Polizei
Keine der Auflagen hielten die Demonstrantinnen und Demonstranten ein. Und die Polizei scheiterte an der Durchsetzung. Die Teilnehmenden zogen auf verschiedenen Routen und im großen Pulk durch die Stadt. Sie durchbrachen Polizeiketten und johlten, wenn Polizisten Radfahrer von der Straße zerrten und zuschlugen. Die Radfahrer hatten versucht, den untersagten Aufmarsch zu stoppen. An den Prügelszenen lässt sich die Überforderung der Beamten ablesen. Sie sollten einen illegalen Aufmarsch absichern, den Verkehr auf einer nicht geplanten Route regeln und dazu noch mit Protestaktionen umgehen können. Das scheiterte.
Genau darauf hatten es die Organisatoren angelegt. Bundesweit bekannte Kader der Verschwörungsszene sprachen nicht bei der legalen Kundgebung im Ostteil der Stadt, sondern auf der verbotenen in der Kasseler Innenstadt. Nach innen stärken diese Events die Bewegung im Glauben daran, die vermeintliche Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren. Denn die Querdenken-Bewegung sieht sich in einem Kampf gegen den Staat an sich, den sie als Corona-Diktatur bezeichnet. Auf T-Shirts und Plakaten war der Slogan „Art. 20 Abs. 4 GG“ zu lesen. Dieser Grundgesetzartikel räumt jedermann das Recht zum Widerstand gegen Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Seit Jahren beruft sich die rechtsextreme Szene auf den Artikel – und zunehmend auch Verschwörungstheoretiker und Querdenker.
Angeblich Teil von etwas ganz Großem
Dass Polizisten in Kassel Papierherzchen von den Demonstranten annahmen, mit ihnen posierten und Teilnehmende des linken Protests von der Straße drängten, sehen die Querdenker nun als Bestätigung. Sie sind der Ansicht, Behörden, die per Gesetz zur Neutralität verpflichtet sind, würden sie insgeheim unterstützen.
Im Vorfeld wurde den Teilnehmenden von den Organisatoren sogar weisgemacht, sie seien Teil einer globalen Bewegung und in Dutzenden Ländern würde man parallel auf die Straße gehen. Belege dafür gibt es keine. In Deutschland fanden parallel auch Demonstrationen in Berlin und im sächsischen Aue statt. In der Hauptstadt gingen nur wenige Hundert Corona-Leugner auf die Straße, in Aue folgten dem NPD-Politiker Stefan Hartung und der rechten Partei Pro Chemnitz um die Tausend Teilnehmende. Auch dort kam es zu Tumulten.
Die verschiedenen Versammlungen zeigen, dass die Bewegung mittlerweile an mehreren Orten gleichzeitig Demonstrationen mit vierstelliger Teilnehmendenzahl organisieren kann, teils unterstützt von der Neonaziszene. Die Polizei Kassel behauptet in ihrer Abschlussmeldung, die Querdenker kämen „augenscheinlich überwiegend aus dem bürgerlichen Lager“. Doch die Behauptung orientiert sich nur am äußeren Erscheinungsbild der betont bunt gekleideten Teilnehmenden.
Antisemitismus und Kontakte zu Holocaustleugnern
Dabei ist längst gesichert: Das Aussehen taugt nicht als Unterscheidungsmerkmal zwischen Neonazis und angeblich Bürgerlichen, die die Ideologie genauso im Kopf tragen können. Zumal umfangreiche Kontakte zwischen den Lagern belegt sind. Seit Beginn der Querdenken-Demonstrationen häufen sich Berichte über Treffen von Führungspersonen mit Holocaustleugnern wie dem YouTuber Nikolai Nerling, im sächsischen Erzgebirge arbeitet mit Thomas Kaden ein bekannter Querdenker mittlerweile offen mit NPD-Kadern und anderen Neonazis zusammen.
In Kassel zeigte sich, dass auch Antisemitismus unter den Corona-Leugnern weit verbreitet ist. Demonstranten beklebten ein Schild, das an die zerstörte Kasseler Synagoge erinnert, mit einem Querdenken-Sticker. Viele Teilnehmende traten mit gelbem Davidstern auf und relativierten damit den Holocaust. Andere verglichen sich auf ihren Schildern mit Anne Frank. Die anderen Teilnehmenden nahmen daran keinen Anstoß.
Durch das betont bürgerliche Auftreten und ein Versprechen von umfassendem Frieden und Freiheit sind die Querdenker gesellschaftlich anschlussfähig. Inhalte, die vor Jahrzehnten noch der Neonazi- und Reichsbürgerszene vorbehalten waren, werden nunmehr von einer lauten Minderheit auf Großdemonstrationen verbreitet: Behauptungen über eine weltweite Planung der Corona-Pandemie, Lügen über eine bevorstehende Impfpflicht und unzählige weitere Mythen. Immer wieder wird deutlich, dass Querdenker nicht nur mit der Obrigkeit auf Kriegsfuß stehen, sondern auch mit der Wahrheit.