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Richter kassieren Freibrief für Neonazipropaganda

 

Immer wieder standen Verkäufer von Neonazimusik wegen Volksverhetzung vor Gericht – und kamen dank zweifelhafter Gutachten frei. Ein neues Urteil macht Schluss damit.

Von Sebastian Lipp

Das Ende des langjährigen Gerichtsverfahrens gegen die Nazi-Propagandaschmiede Oldschool Records markiert das Ende einer juristischen Waffe der Neonazis: Eine Enttäuschung für den Plattenproduzenten Benjamin Einsiedler, seinen Rechtsanwalt Alexander Heinig - und ein Schlag für die gesamte Rechtsrockszene.
Plattenproduzent Benjamin Einsiedler mit seinem Rechtsanwalt Alexander Heinig vor Gericht © Sebastian Lipp

Mit einem juristischen Trick konnten sich findige Unternehmer aus der Neonaziszene bislang davor schützen, für Straftaten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nahezu ungestört verkauften sie Rechtsrock-Platten, Klamotten, Devotionalien. Fanden sie sich doch einmal vor Gericht wieder, wegen Vergehen wie Holocaustleugnung oder Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, zogen sie ihre Waffe: die Gutachten einer Szeneanwältin. Darin wurde ihr Treiben als unbedenklich eingestuft.

Erst nach jahrelangem Gezerre in Verhandlungssälen dürfte nun endgültig Schluss mit dem Schlupfloch sein: Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Verurteilung eines Allgäuer Neonazis bestätigt und das Gutachten zur Makulatur erklärt. Das Urteil fiel bereits im Dezember vergangenen Jahres, nun ist es öffentlich.

Ließen sich Richter zu leicht beeindrucken?

Der Fall zeigt, wie leicht sich Richter offenbar von Neonazis mit juristischer Beratung beeindrucken ließen. Die Unternehmer griffen zu Schriftstücken, die die Hamburger Anwältin Gisa Pahl verfasst hatte. „Gutachten der Rechtsanwältin Pahl liegt vor“, war dann etwa auf internen Bestandslisten zu brisanten Titeln vermerkt. Einer, der den Trick anwandte: der Chef des Allgäuer Vertriebs Oldschool Records, Benjamin Einsiedler.

Das Landgericht Memmingen sprach Einsiedler im Mai 2018 in zweiter Instanz unter anderem vom Vorwurf der Volksverhetzung durch die Verbreitung rechtsradikaler Musik frei. Das Gericht kaufte dem Angeklagten ab, er habe auf die Musik-Gutachten der Anwältin vertraut. Damit sei er schlicht einem Irrtum unterlegen, den er als juristischer Laie nicht habe vermeiden können, und ihn träfe keine Schuld.

Kurios dabei: Das Gutachten selbst schauten die Richter zunächst überhaupt nicht an. Darin setzte sich Anwältin Pahl etwa mit dem Lied Geschwür am After der Band Gigi und die braunen Stadtmusikanten auseinander. Demnach werde in dem Stück zwar von Lügen bei der Geschichtsschreibung, Schienen und Eingangstoren gesprochen. „Es bleibt aber offen, welche Lügen, Schienen und Tore. Mangels irgendwelcher Hinweise ergibt sich nicht, dass mit diesen Äußerungen die KZs gemeint sein müssen.“ Daher seien die Äußerungen mehrdeutig und eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung liege nicht vor.

Das Urteil dürfte den Neonaziplattenproduzenten kaum beeindrucken: Während das Verfahren von über 900 Straftaten auf nur wenige Tonträger zusammenschrumpfte, setzte er über eine halbe Million Euro um. Dafür könnten nun eine Strategie der Neonazis erledigt sein.
Asservierte CDs aus dem Plattenvertrieb liegen im Prozess auf dem Pult der Staatsanwaltschaft. © Sebastian Lipp

Auch in den Zeilen „Ich war immer schon ein Fan von seinen Thesen (…) Wir bleiben Joseph Goebbels treu“ eines anderen Liedes wollte Pahl keine nationalsozialistische Propaganda erkennen können. Die CD enthält zudem das berühmt-berüchtigte Lied Döner-Killer – ein Bezug auf die Morde der Terrorgruppe NSU. „Denn neun sind nicht genug“, heißt es am Ende des Stücks, das vor der Selbstenttarnung des NSU veröffentlicht wurde. Das von Gisa Pahl als Koordinierungsstelle für neonazistischen Rechtsbeistand geschaffene Deutsche Rechtsbüro soll einen Spendenbrief vom NSU erhalten haben.

Dem Musikverkäufer und Kameradschaftsführer Einsiedler muss klar gewesen sein, dass er mit solch eigenwilligen Interpretationen auf dünnem Eis steht. Er gab sich größte Mühe, den Inhalt des Gutachtens geheim zu halten. Einen Kameraden instruierte er am Telefon mit den Worten: „Ganz wichtig zu den Gutachten: Nicht aus der Hand geben. Nur das Deckblatt zeigen. Nicht das, was die Pahl geschrieben hat“. Die Polizei schnitt das Gespräch mit.

Erst als die Staatsanwaltschaft Memmingen den Freispruch für den Betreiber von Oldschool Records durch das Oberlandesgericht München prüfen ließ, begann die Auseinandersetzung um die Inhalte. Im April 2019 hoben die Richter den Freispruch auf – und stellten erstmals die Rechtsgutachten selbst infrage. Sie ordneten an, dass am Landgericht München ein anderer Richter erneut verhandeln und dabei auch die Gutachten untersuchen müsse. In der Neuverhandlung Ende 2019 wurde so erstmals der Inhalt offengelegt.

Gericht kassiert die Thesen

Das Landgericht fand schließlich zu klaren Worten: „Die sogenannten Rechtsgutachten“ der Anwältin seien „nicht nachvollziehbar“. Das Lied Goebbels für alle verherrliche durch den Treueschwur an Propagandaminister Joseph Goebbels die Herrschaft der Nationalsozialisten. Mit Geschwür am After werde der industrialisierte Massenmord an den europäischen Juden geleugnet. Und auch mit der Rede von Schienen und einem Tor könne nur die Außenansicht eines Konzentrationslagers gemeint sein. Einsiedler wurde wegen eines Teils seines Sortiments zu einer Geldstrafe von 4.000 Euro verurteilt.

Nach Angaben des Unternehmers ist das zwar nur ein Bruchteil seines Monatsumsatzes. Dennoch legte sein Verteidiger Alexander Heinig Anfang 2020 erneut Revision ein – ein riskanter Schritt, der sich nun ein Jahr später als fataler strategischer Fehler für die Rechtsrockszene erwies. Das Oberste Bayerische Landesgericht verwarf die Revision als unbegründet und bestätigte die Verurteilung letztgültig.

Damit ruinierte Heinigs Rettungsversuch in letzter Instanz nicht nur die Wirksamkeit der Gutachten als Freibrief für Nazipropaganda, sondern zudem noch die juristische Reputation seiner Kollegin. Die Münchner Richter sprechen der Gutachtenverfasserin ausdrücklich die Kompetenz ab. Pahls Gutachten als juristische Waffe der Neonazis sind damit Geschichte.