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Nur Fliegen ist schöner

Den Beginn meiner Liebe zum Fliegen verdanke ich der Deutschen Bahn. Als ich nach dem Abitur von Hessen nach Hamburg zog, um zur Uni zu gehen, fuhr ich öfter mit der Bahn und fand es furchtbar. Wer, wie ich, Rollstuhlfahrerin ist und in den ICE oder in andere Züge einsteigen will, die Stufen haben, muss sich 24 Stunden vorher bei der Bahn anmelden, wenn er Assistenz haben möchte. Mitarbeiter der Bahn kommen dann mit einem Hublift, der vor die Zugeingangstür geschoben wird. So kommt man dann barrierefrei in den Zug.

Nach der x-ten schlechten Erfahrung mit diesem Service – von unfreundlichen Mitarbeitern bis Mitarbeitern, die gar nicht erschienen – entschloss ich mir von meinem Studentenbudget irgendwann einmal ein Flugticket von Frankfurt nach Hamburg zu kaufen, anstatt die Bahn zu nutzen und war begeistert. Zwar nicht vom Vorgang für Rollstuhlfahrer, um ins Flugzeug zu kommen, aber von der Freundlichkeit des Personals. Außerdem liebe ich das Fliegen überhaupt. Ich kann an Bord super entspannen und ich habe die besten Ideen über den Wolken. Ich würde am liebsten jeden meiner Texte im Flieger schreiben.

Fairerweise muss man aber sagen, dass sich der Service der Bahn unterdessen gebessert hat, von ein paar Ausnahmen abgesehen.

EU-Richtlinie

Auch das Fliegen ist nicht perfekt, aber es hat sich in den vergangenen Jahren ebenfalls massiv verbessert. Für behinderte Fluggäste begann 2008 eine neue Ära. Denn dann trat die EU-Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 für Fluggäste mit eingeschränkter Mobilität in Kraft. Diese gewährleistet behinderten Fluggästen umfassende Rechte gegenüber den Fluggesellschaften und den Flughäfen. Die EU-Verordnung schreibt vor, dass niemand aufgrund von Behinderung oder eingeschränkter Mobilität bei Flugreisen diskriminiert werden darf. Luftfahrtunternehmen können behinderten Menschen und Personen mit eingeschränkter Mobilität die Beförderung nur aufgrund klar definierter Sicherheitsgründe verweigern. Behinderte Menschen haben Anspruch darauf, zu den selben Bedingungen reisen zu können wie nicht in ihrer Mobilität eingeschränkte Passagiere. Dazu zählt zum Beispiel das Recht auf unentgeltliche Hilfeleistungen am Flughafen und an Bord sowie die unentgeltliche Beförderung von bis zu zwei Hilfsmitteln. Und das alles gilt für alle Flüge, die an einem EU-Flughafen starten oder enden.

Mit der EU-Richtlinie wurde auch endlich die Finanzierung der Assistenz an den Flughäfen klar geregelt. Viele Flughäfen schrieben die Assistenzleistungen neu aus, Personal wurde an vielen Flughäfen aufgestockt, neu organisiert und geschult. Behinderte Menschen wurden endlich zu Reisenden mit Rechten gegenüber der Fluggesellschaft und den Flughäfen statt zu Bittstellern, die jedes Mal bangen mussten, ob man sie mitnimmt.

Es gibt auch ein klar geregeltes Beschwerdeverfahren. In Frankreich beispielsweise wurde die Fluggesellschaft easyJet mehrfach zur einer Strafzahlung wegen Diskriminierung verurteilt, weil sie behinderten Passagieren die Beförderung verweigert hatte.

Problem ist das Einsteigen

Ich weiß, dass ich meine Liebe zum Fliegen nicht mit vielen anderen Rollstuhlfahrern teile. Haupthindernis beim Einsteigen ist, dass man seinen Rollstuhl abgeben muss. Dafür setzt man sich auf einen kleinen, schmalen Bordrollstuhl um und wird dann vom Assistenzdienst des Flughafens ins Flugzeug gebracht.

Der Rollstuhl kommt in den Bauch des Flugzeugs und ich hoffe jedes Mal inständig, dass der Rollstuhl heil am Zielort ankommt. Zwei Mal war das bislang nicht der Fall. Der Rollstuhl hatte in beiden Fällen einen ordentlichen Schlag auf die Hinterräder bekommen. Vermutlich war ein Container verrutscht oder ein schweres Gepäckstück darauf gefallen. Einmal hatte ich einen Achter im Rad selbst, ein anderes Mal war die Steckachse des Rades total verbogen. In beiden Fällen war ich zum Glück in Städten, in denen ich den Rollstuhl schnell reparieren lassen konnte. Ein Alptraum wäre, wenn der Rollstuhl gar nicht ankommen würde.

Aber auch das häufige Umsetzen vom Rollstuhl auf den Bordrollstuhl und von dort auf den Flugzeugsitz ist für viele behinderte Reisende ein Problem. Es wird wohl in absehbarer Zeit nicht möglich sein, in seinem eigenen Rollstuhl zu fliegen, was die Ideallösung wäre, aber dennoch wird an Alternativen zum jetzigen System gearbeitet. Das hier ist eine Idee:

Fliegen für behinderte Passagiere barrierefreier zu machen, ist definitiv eine Herausforderung, der sich vor allem die Fluggesellschaften stellen müssen. Dazu gehört natürlich nicht zuletzt, die EU-Verordnung einzuhalten. Aber am Ende werden auch Ingenieure gefragt sein, um intelligentere Lösungen zu schaffen als die derzeit vorhandenen.

 

Aus dem Kino geworfen

Richard Bridger ist aus einem Kino geworfen geworden. Der 31-Jährige hat Duchenne-Muskeldystrophie, eine Muskelerkrankung, die ausschließlich Männer betrifft. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen mit Duchenne beträgt 25 Jahre. Bei vielen lässt irgendwann auch die Lungenfunktion nach. Sie brauchen ein Beatmungsgerät. Und genau an diesem Gerät störten sich Kinogäste eines Kinos im englischen Epsom. Sie beschwerten sich über den jungen Mann, der den Actionfilm Taken 3 sehen wollte. Sie mochten das Geräusch des Beatmungsgerätes nicht. Statt die anderen Gäste umzusetzen oder sie darauf hinzuweisen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, ein Kino zu besuchen, forderten Kinomitarbeiter Richard Bridgers Assistenten auf, zu gehen. Mit ihm selber sprach man erst gar nicht. Erst nach einer Diskussion mit dem Manager des Kinos bekam Richard Bridger sein Eintrittsgeld zurück, nachdem er das Kino verlassen hatte.

Nicht lauter als Popcorn

Bis vor ein paar Jahren sah man Menschen mit einem Beatmungsgerät nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Viele Geräte waren nicht transportabel. Das bedeutete, die Menschen konnten das Haus deshalb gar nicht verlassen. Das ist heute anders. Auch Menschen, die beatmet werden, können unter Umständen heute am normalen Leben teilnehmen, ins Kino gehen zum Beispiel. Ich kenne viele Menschen mit Beatmungsgerät, ich sitze oft in Meetings, in denen jemand mit Beatmungsgerät neben mir sitzt.

Ich habe mir sogar mal mit dem Hollywoodschauspieler Christopher Reeve einen Rollstuhlplatz geteilt in einem Theater, in dem es nur einen Rollstuhlplatz gab – er sollte einen Preis bekommen, ich sollte darüber berichten. Der Superman-Darsteller war seit einem Reitunfall hoch querschnittgelähmt und wurde mit einem Beatmungsgerät beatmet. Und dann kam es zu der etwas bizarren Situation, dass es für uns beide eigentlich nicht genug Platz in dem Theater gab. Aber natürlich wollte man keinen von uns wieder wegschicken und so saßen wir notgedrungen recht eng nebeneinander. Ich weiß also, wie sich Beatmungsgeräte anhören. Sie machen keine Geräusche, die bei einem Actionthriller wirklich störend wären. Nicht einmal bei einem Stummfilm, schätze ich. Man kann gut darüber hinweghören, wenn man das Gerät bei den Umgebungsgeräuschen überhaupt hört. Das sieht auch der Vater des Rollstuhlfahrers in Epsom so: „Das Gerät macht nicht mehr Lärm als wenn neben einem jemand Popcorn isst“, sagte er dem britischen Fernsehsender ITV. Daran stört sich im Kino sonst auch niemand.

Es geht nicht nur um Rampen

Der Fall zeigt ganz deutlich: Inklusion bedeutet nicht nur Rampen und Fahrstühle zu bauen. Es geht auch bis zu einem gewissen Maße darum, behinderungsbedingte Dinge, die man nicht ändern kann, hinzunehmen. Dazu gehört meines Erachtens auch, das Beatmungsgerät eines Gastes im Kino zu ertragen oder sich im Zweifelsfall umzusetzen. Die Lösung ist sicher nicht, einen Kinogast mit Beatmungsgerät des Kinos zu verweisen und zu sagen, er darf nur zu Vorstellungen kommen, die schlecht besucht sind, so wie es das Kino getan hat.

Die Kinokette, zu der das Kino gehört, hat sich unterdessen für das Verhalten ihrer Mitarbeiter entschuldigt. Richard Bridger sei jederzeit willkommen und könne den Film jetzt als Wiedergutmachung kostenlos sehen. Damit kommt das Kino übrigens recht preiswert davon. In ähnlichen Fällen werden in Großbritannien auch schon mal hohe vierstellige Schadenersatzzahlungen fällig, wenn dem Unternehmen Diskriminierung eines Kunden wegen seiner Behinderung nachgewiesen werden kann.

 

Die Sache mit der Fragerei

Es gibt wohl kaum eine Frage in meinem Leben, die ich so häufig beantwortet habe, wie die Frage „Warum sitzen Sie denn im Rollstuhl?“. Diese Frage kommt auch manchmal in Form von „Hatten Sie einen Unfall?“, „Sitzen Sie schon immer im Rollstuhl?“ oder auch „Was ist denn mit Ihnen?“ daher. Ich werde das in allen möglichen und unmöglichen Lebenssituationen gefragt: In der Fußgängerzone, beim Bäcker, im Wartezimmer, im Bewerbungsgespräch, beim Essen in der Kantine, vor Flughafentoiletten.

Die Antwort auf die Frage ist eigentlich schnell erklärt und geht laienhaft so (die Mediziner mögen mir das verzeihen): „Ich bin querschnittgelähmt. Ich habe eine Spritze bekommen, die ich nicht gebraucht hätte und der Arzt hat Arterie und Vene verwechselt. Das Medikament hat deshalb die Nerven im Rückenmark zersetzt.“ In der Mehrheit der Fälle beantworte ich die Frage ohne mit der Wimper zu zucken. Aber es gibt Ausnahmen.

Auf das „Wie“ kommt es an

Es war der erste kulturelle Unterschied, der mir auffiel, als ich nach Großbritannien zog. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, fragen die Briten diese Frage so gut wie nie. Nicht einmal Freunde. Die warten ab, bis ich von mir aus erzähle, warum ich Rollstuhlfahrerin bin. Ich will nicht sagen, dass ich die Fragerei vermisse, aber spätestens wenn in der U-Bahn wieder jemand fragt, weiß ich, ich bin wieder in Deutschland. Die Briten empfinden die Frage als distanz- und respektlos.

Ich habe keine Probleme damit, die Frage zu beantworten. Für mich ist die Antwort darauf weit weniger spektakulär als für die Menschen, die sie mir stellen. Aber manchmal beantworte ich sie dennoch nicht. Dann nämlich, wenn ich das Gefühl habe, jemand fragt respektlos. Mit respektlos meine ich zum Beispiel das Hinterherplärren in Fußgängerzonen oder das Rufen durch den ganzen Linienbus.

Gerne ist der Frage in diesen Fällen dann die Silbe „Ey“ vorangestellt und man duzt mich. Alles schon erlebt. Und auch beantworte ich die Frage nur noch ungerne, wenn sich die fragende Person nicht wenigstens zwei Minuten lang mit mir über das Wetter unterhalten oder sonst irgendeinen Bezug zu mir hergestellt hat.

Ich finde, das hat einfach mit Respekt zu tun. Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch. Das ist einer der Gründe, warum ich Journalistin geworden bin. Aber selbst ich kann meine Neugierde zügeln, wenn ich auf der Straße jemanden sehe, dessen körperliches Merkmal ich mir nicht erklären kann. Ich muss nicht unbedingt wissen, wie alt der Mann ist, der so viele Falten im Gesicht hat und ich muss auch nicht jede Hauterkrankung kennen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Gefahr besteht, dass ich dem Menschen zu nahe trete, wenn ich ihn darauf anspreche, und das möchte ich nicht.

Man muss die Wahrheit schon vertragen können

Manchmal verläuft die Konversation über die Ursache meiner Querschnittlähmung aber auch völlig schräg. Dann nämlich, wenn ich an Leute gerate, die sich erhoffen, ich erzähle ihnen eine Geschichte, nach der sie anschließend nach Hause gehen können mit dem guten Gefühl, dass ihnen das ja nicht passieren könne. Dafür eignet sich meine Antwort ja nun gar nicht. Schon wenn sie die Worte „Querschnittlähmung, Arzt und Spritze“ gehört haben, sagen sie mir, ich solle aufhören. Das wollten sie dann doch nicht hören. Das sind dann wohl die Leute, die hoffen, ich erzähle ihnen, ich hätte mich mit 3 Promille Alkohol im Blut mit dem Auto um einen Baum gewickelt oder ich hätte beim Bungeespringen mein Seil vergessen.

Erst zu fragen, dann aber die Antwort nicht auszuhalten, finde ich allerdings auch nicht gerade respektvoll, passt aber zu der nicht wenig verbreiteten Annahme, dass man von Behinderung in jedem Fall ein Leben lang verschont bleibt. In dem Moment realisieren die Menschen dann, dass ich unbewusst an diesem Weltbild rüttele. Wer also neugierig genug ist zu fragen, muss am Ende die Wahrheit schon vertragen können.

Im Geschäftsleben

Ja, vielleicht bin ich da eigen, aber ich möchte nicht gerne an der Hotelrezeption oder beim Check-In am Flughafen die Ursache meiner Behinderung diskutieren. Andere Kunden werden auch nicht nach ihrem Privatleben oder ihrem Gesundheitszustand befragt. Etwas anderes ist es, wenn ich nach meinem Hilfebedarf gefragt werde. Kein Problem. Das empfinde ich sogar als zuvorkommend, wenn jemand fragt, wie er mir am besten helfen kann. Dafür muss er aber nicht wissen, warum ich im Rollstuhl sitze. Servicemitarbeiter, die solche privaten Fragen stellen, empfinde ich zumindest als nicht sehr professionell.

Kinder dürfen alles

Ganz anders sieht die Sache bei Kindern aus. Die fragen oft sehr direkt und das finde ich gut. Denn sie fragen nie respektlos, sondern wirklich aus Interesse. Die halten auch die Wahrheit aus. Und wenn die Fragen nach der Ursache und warum meine Beine nicht so wie ihre funktionieren abgehakt sind, interessieren sie sich sowieso mehr für die technischen Möglichkeiten des Rollstuhls. Man braucht Kindern deshalb auch nicht den Mund zu verbieten, wie das manche Eltern immer noch tun. Denn vielleicht werden sie so zu den respektlosen Erwachsenen, die dann völlig übergriffig fragen, was sie als Kinder nie fragen durften.

 

Auf dem Weg zur Inklusion – die wichtigsten Themen 2015

Das Jahr hat gerade erst angefangen, aber dennoch ist abzusehen, dass es gerade was Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen angeht, ein wichtiges Jahr werden könnte. Das sind die Themen, die für 2015 auf der Agenda stehen:

Schulische Inklusion

Es war schon 2014 ein Dauerbrenner und wird auch 2015 weiter für Diskussion sorgen: Die schulische Inklusion. Zwar gibt es mit der UN-Behindertenrechtskonvention einen Rechtsanspruch auch für behinderte Kinder eine Regelschule zu besuchen, aber wie dieser Anspruch in die Praxis umgesetzt werden soll, darüber gibt es sehr viel Diskussionsbedarf.

Es fehlt an Konzepten, barrierefreien Schulen, Rückzugsmöglichkeiten, geschulten Lehrkräften, Assistenz und vor alle am Geld. Inklusion ist sicher keine Sparmaßnahme, sondern eine Investition in die Zukunft der Kinder. Wer glaubt, mit schulischer Inklusion sparen zu können, hat nicht verstanden was Inklusion bedeutet: Individuelle Förderung und die kostet Geld.

Staatenprüfung

Die Bundesrepublik Deutschland hat als einer der ersten Staaten die UN-Behindertenrechtskonvention 2007 unterzeichnet und 2009 ratifiziert. Damit ist sie in Deutschland verbindlich und ihre Einhaltung wird regelmäßig von der UNO kontrolliert.

Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht eine regelmäßige Überprüfung der Vertragsstaaten vor. Bei dieser Kontrolle wird überprüft, ob ein Land die garantierten Rechte für behinderte Menschen auch einhält. Die Staatenprüfung Deutschlands wird in der 13. Sitzung des UN-Fachausschusses in Genf erfolgen, die vom 25. März bis zum 17. April 2015 anberaumt ist. Im Vorfeld musste die Bundesregierung bereits einen Fragenkatalog beantworten. Er enthält 25 Fragen. Es geht bei den Fragen beispielsweise um den Schutz vor Diskriminierung behinderter Menschen oder auch um die Verpflichtung zur Barrierefreiheit von privaten Trägern. Natürlich steht auch das Thema schulische Inklusion auf der Fragenliste.

Nach Abschluss der Staatenprüfung wird der Fachausschuss seine „Abschließenden Bemerkungen“ („Concluding Observations“) veröffentlichen. Das sind konkrete Handlungsempfehlungen, um die Teilhabe behinderter Menschen in Deutschland zu verbessern.

Bundesteilhabegesetz

Dass das Gesetz kommt, steht wohl fest. Die Frage ist, was wird im neuen Teilhabegesetz stehen? Bis Mitte 2015 soll das Bundesteilhabegesetz entwickelt und bis Mitte 2016 im Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Eine der wichtigsten Forderungen ist, Menschen, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, nicht länger arm zu halten, sondern die Finanzierung der Assistenz einkommensunabhängig zu regeln, damit auch Menschen wie Raul Krauthausen mehr als 700 Euro mit nach Hause nehmen können, wenn sie arbeiten.

Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen hat einen Gesetzentwurf und ein Eckpunktepapier erarbeitet.

Antidiskriminierungsrichtlinie der EU

Vielleicht wird 2015 das Jahr, in dem Deutschland endlich seine Blockade gegen eine weitere Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union aufgibt, durch die der diskriminierungsfreie Zugang für alle Menschen zu Dienstleistungen und Gütern verankert werden soll.

Was in Großbritannien bereits seit 20 Jahren für behinderte Menschen zum Alltag gehört, könnte bald in der ganzen EU Wirklichkeit werden, wenn Deutschland sich nicht querstellt.

Seit 1995 gibt es im Königreich ein Gesetz, das es Unternehmen und Dienstleistern verbietet, behinderte Menschen zu diskriminieren, ihnen beispielsweise einen schlechteren Service als nichtbehinderten Kunden anzubieten. Außerdem verpflichtet das Gesetz Geschäftsinhaber angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Angebote barrierefrei zu machen.

Ein ähnliches Gesetz europaweit einzuführen, wäre ein Meilenstein auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe behinderter EU-Bürger und anderer Gruppen. Deutsche Behindertenverbände hatten die zuständige Ministerin Manuela Schwesig (SPD) bereits Ende 2014 aufgefordert, ihre Blockadehaltung bei der EU aufzugeben.

Spannendes Jahr

2015 könnte also was diese und andere Themen angeht eine wirklich spannendes Jahr werden. Ich hoffe, ich schaue in 12 Monaten nicht enttäuscht zurück.

 

Mit Punk­ten zu mehr Chancengleichheit

„Mit Punk­ten zu mehr Chan­cen­gleich­heit“ überschrieb die Christoffel-Blindenmission (CBM) ihre Pressemitteilung zum Welt-Braille-Tags am 4. Januar, der auf die Bedeutung der Punktschrift Braille für blinde Menschen aufmerksam macht. Und in der Tat hat wohl kaum eine andere Entwicklung die Chancen und vor allem Bildungsmöglichkeiten blinder Menschen so nachhaltig verbessert wie die Erfindung der Blindenschrift Braille.

Louis Braille

Erfunden wurde sie 1825 von einem jungen blinden Franzosen namens Louis Braille. Die Punktschrift ermöglicht es bis heute blinden Menschen auf der ganzen Welt mit tastbaren Punkten zu lesen und zu schreiben, vor allem in Ländern, in denen nicht jeder einen Computer hat, auf dem man eine Sprachausgabe installieren kann, die den Bildschirminhalt vorliest.

Louis Braille war seit seinem dritten Lebensjahr erblindet. Er hatte sich mit einer Ahle, einem Gerät, mit dem man Löcher stechen kann, am Auge verletzt. Beide Augen entzündeten sich, worauf Louis Braille erblindete. Dennoch wollte der Junge später unbedingt lesen lernen.

Er wurde 1809 in der Nähe von Paris geboren. Er ging erst auf eine Regelschule, aber hörte irgendwann von einer Blindenschule in Paris und hoffte, dort lesen lernen zu können. Aber auch diese Schule hatte nur sehr wenige, mit tastbaren Buchstaben ausgestattete Bücher. Die Buchstaben nahmen viel Platz weg und die Bücher waren teuer in der Anschaffung. Außerdem dauerte es sehr lange, die Bücher zu lesen, weil man jeden Buchstaben abtasten musste.

Louis Braille wollte, dass blinde Menschen so schnell lesen konnten wie Sehende. Irgendwann hörte er von einem Punkt-Strich-Codesystem, das in der französischen Armee verwendet wurde, um nachts Botschaften zu übermitteln. Die Soldaten konnten die Botschaften ertasten. Louis Braille besorgte sich diesen Code, aber dieser war immer noch sehr mühsam zu lesen. Auf jede Seite passten nur ein oder zwei Sätze.

Louis Braille entwickelte auf Grundlage des Armee-Systems ein System mit erhabenen Punkten und verzichtete auf die Striche. Für das Erstellen der erhabenen Punkte nutzte er das gleiche Werkzeug, die Ahle, mit der er sich als Kleinkind am Auge verletzt hatte. Er entwickelte ein ganzes Alphabet, bestehend aus maximal sechs Punkten pro Buchstabe.

Pädagogen waren gegen die Punktschrift

Obwohl das Punktschriftalphabet einfach zu lernen und zu verstehen war, setzte es sich lange nicht durch. Selbst als Louis Braille mit einem öffentlichen Vortrag beweisen wollte, wie schnell man Braille lesen kann, glaubten die Zuhörer, er habe den Vortrag auswendig gelernt und lese gar nicht vom Punktschriftdokument ab.

Auch von den Lehrern der Blindenschule in Paris bekam er keine Unterstützung. Der Direktor lehnte die Punktschrift sogar ab und verbot sie an der Schule, denn er war der Auffassung, dass eine Schrift, die Sehende nicht nutzen, die blinden Schüler isolieren würde. Dabei war das Gegenteil der Fall. Die Schrift verhalf und verhilft blinden Menschen bis heute sich selbstständig zu bilden und zu informieren.

Die Anerkennung der Schrift erfolgte erst 1850 als sie an französischen Blindenschulen eingeführt wurde. Deutschland brauchte weitere 30 Jahre, um die Punktschrift einzuführen bis es 1879 endlich soweit war.

Nichts über uns ohne uns

Weltweit gibt es 39 Millionen blinde Menschen, rund 90 Prozent leben laut CBM davon leben in Entwicklungsländern. Dort fehlt es häufig an Hilfsmitteln wie Computer und Vorlesegeräte, die für die meisten blinden Menschen in Deutschland mittlerweile Standard sind. Aber auch in Deutschland nutzen blinde Menschen immer noch Braille, um beispielsweise Vorträge zu halten oder einfach weil sie gerne Punktschrift lesen. Außerdem bleibt Punktschrift wichtig, um blinden Menschen Informationen zu geben, in Fahrstühlen, auf Hinweisschildern etc.

Louis Braille ist bis heute ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, nicht etwas „für“ behinderte Menschen zu tun, sondern „mit“ ihnen. Wäre es nach den Sonderpädagogen der Blindenschule gegangen, könnten blinde Menschen bis heute nicht selbstständig lesen.

 

Was 2014 für behinderte Menschen gebracht hat

Kaum ein anderer Begriff war 2014 so in aller Munde wie das Wort „Inklusion“. Aber wie weit sind wir 2014 mit der Inklusion vorangekommen?

Bildung

Noch immer wird der Begriff „Inklusion“ in erster Linie dann benutzt, wenn es um den Bildungsbereich geht. Auch 2014 wurde mehr über schulische Inklusion diskutiert als über die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen.

Keine Frage, der schulische Bereich ist wichtig, denn er legt den Grundstein für die Bildung behinderter Kinder, die bislang stellenweise sehr zu Wünschen übrig ließ.

Wissenschaftler zweier seriöser Studien kamen zu dem Schluss, dass Kinder mit Förderbedarf mehr und besser lernen, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam unterrichtet werden. Eine Erkenntnis, die 2014 für viel Aufmerksamkeit sorgte. Zudem gibt es mit der UN-Behindertenrechtskonvention einen Anspruch auf inklusive Beschulung.

Politik

Politisch gab es schon zu Beginn des Jahres eine Überraschung. Die Bundesregierung ernannte Verena Bentele zu ihrer Behindertenbeauftragten. Hubert Hüppe musste den Hut nehmen. Bentele ist blind und ehemalige Paralympics-Sportlerin. Mit ihrer Ernennung kam die Bundesregierung der Jahrzehnte alten Forderung behinderter Menschen und deren Verbände nach, endlich eine Person mit Behinderung selbst in dieses Amt zu hieven. Insofern war es ein lange erwarteter Meilenstein in der deutschen Behindertenpolitik.

Dennoch waren die meisten überrascht, denn Verena Bentele ist weder in der politischen Behindertenbewegung sonderlich verwurzelt noch brachte sie ein großes politisches Profil mit. Bentele kam, setzte sich in viele Talkshows, erzählte viel vom Sport und über ihr Buch, nur über ihr Amt und wie sie es ausfüllen möchte erzählte sie 2014 viel zu wenig. Aber immerhin unterstützt sie die Forderung nach einem Teilhabegesetz, das behinderten Menschen ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen soll.

Recht

Inklusion und die Teilhabe von behinderten Menschen hängt nicht zuletzt von rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Am 30. Juni 1994 beschloss der Deutsche Bundestag den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Für viele, die damals am politischen Prozess beteiligt waren, war 2014 ein Grund, das Jubiläum zu feiern. Es war aber auch ein guter Anlass, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, dass endlich jetzt ein gutes Bundesteilhabegesetz folgen muss.

Dass rechtliche Rahmenbedingungen sogar das nächste Lebensumfeld betreffen können, machte in diesem Jahr ein Urteil eines Gerichts in Bonn deutlich. Die Mutter einer behinderten Tochter wurde im März verurteilt, ihre Tochter ruhig zu stellen. Nachbarn hatten sich über die Schreie und Klopfen beschwert und sind vor Gericht gezogen. Wenn die Mutter ihre Tochter nicht zur Ruhe bringt, drohen ihr Ordnungsgeld oder Ordnungshaft. Wie genau sie das machen soll, ließ das Gericht offen.

Und sonst so?

Wer erinnert sich nicht an den Ice Bucket Challenge? Er sollte für die Krankheit ALS Aufmerksamkeit sorgen und Spendengelder eintreiben. Das Geld sammeln hat wohl gut geklappt. Bei Ersterem habe ich so meine Zweifel. Nicht repräsentative Stichproben in meinem persönlichen Umfeld zum Jahresende haben ergeben, kaum einer kann sich erinnern, um was es eigentlich noch einmal genau ging.

Und erst heute morgen las ich auf Twitter von einer Frau, die sich bei ihrer Bank beschwerte, weil diese sich weigerte mit der Frau zu telefonieren, da sie aufgrund von ALS einen Sprachcomputer nutzt.

Ich bleibe dabei, Wasser über den Kopf kippen ist lustig, spenden ist gut, aber am Ende kommt es darauf an, wie man mit den Menschen im Alltag umgeht. Da habe ich weiterhin so meine Zweifel, ob der Ice Bucket Challenge ein großer Erfolg war.

In diesem Sinne wünsche ich mir, dass 2015, was die Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen angeht, etwas größere Schritte folgen als 2014.

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Rutsch ins neue Jahr und alles Gute für 2015!

 

Prothese als Kunst

Ihre Prothese ist mal ein Metallstachel, mal ist sie mit vielen Glitzersteinen verziert, mal leuchtet sie und Motten schwirren um das künstliche Bein herum. Dann sitzt Viktoria Modesta ganz ohne Prothese nackt auf dem Bett und man sieht ihr amputiertes Bein. Fast könnte man meinen, ein Video von Lady Gaga zu sehen. Der Stil von Viktoria Modesta ist ähnlich und doch unterscheidet sie vor allem eines: Sie hat eine Prothese und feiert diese als Kunstobjekt in ihrem Video.

Viktoria Modesta macht gerade als Sängerin und Modell eine steile Karriere. Sie war bei der Abschlusszeremonie der Paralympics in London zu sehen und jetzt ist ist sie mit ihrem neuen Musik-Video für den Song Prototype in den Medien, das auch in der Pause zur britischen Castingshow X-Factor zu sehen war. Die Zugriffszahlen auf das Video liegen im zweistelligen Millionenbereich beim Fernsehsender Channel4, der das Video produziert hat. Auch bei YouTube haben unterdessen fast vier Millionen Menschen das Video gesehen.

Amputation als Befreiungsschlag

Vor sechs Jahren ließ sich die Künstlerin ihr Bein abnehmen, nachdem sie durch einen Geburtsfehler immer wieder Probleme mit dem Bein hatte und viele Operationen über sich ergehen lassen musste sowie große Teile ihrer Kindheit in Krankenhäusern verbrachte. Es hat lange gedauert, bis sie einen Arzt fand, der bereit war, ihr das Bein abzunehmen, aber seitdem hat sich ihr Leben schlagartig verändert.

Der Fernsehsender Channel4 startet jetzt mit ihr die Kampagne „Born Risky“, eine Kampagne, die körperliche Unterschiede als etwas Positives feiert. Seit den Paralympics 2012 ist der britische Sender Channel4 zu einem der innovativsten Sender weltweit geworden, wenn es um das Thema Behinderung geht.

Die Sendung The Last Leg ist beispielsweise seit den Paralympics eine der beliebtesten Sendungen des Senders. Gesendet zur besten Sendezeit am Freitagabend und moderiert von Adam Hills, einem australischen Comedian, der eine Beinprothese trägt. Auch einer seiner beiden Co-Moderatoren, Alex Brooker, hat eine Behinderung und trägt eine Prothese.

Das Bild von Behinderung verändern

Viktoria Modesta will mit ihren Auftritten und ihrem Video vor allem das Bild behinderter Menschen in den Medien und im Alltag verändern.

Forget what you know about disability (Vergiss, was Du über Behinderung weißt) steht am Anfang ihres Videos und das ist wohl auch ihr Anliegen. Sie will, den Blick auf das Thema verändern und Vorurteile aufbrechen.

Deutsche Fernsehmacher schauen sich viel bei britischen Sendern ab. Es wäre zu wünschen, dass das auch bei solchen Projekten der Fall wäre. Channel4 will das Bild behinderter Menschen in den Medien aktiv verändern. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich das andere Sender weltweit abschauen würden. Es wird gerade sehr in, Behinderung nicht mehr defizitbetont zu betrachten und das ist wirklich begrüßenswert, denn das verändert langfristig auch die Art, wie Fernsehmacher mit dem Thema umgehen. Wer modernes Fernsehen machen will, muss weg von defizitorientierten Tränendrüsensendungen und hin zu Modesta und anderen Stars, die ein positives Bild behinderter Menschen vermitteln.

 

Barrierefreie Weihnachten

Es ist Weihnachten. Für viele behinderte Menschen kann es durchaus eine Herausforderung sein, Weihnachten möglichst barrierefrei zu verbringen. Das geht schon bei den Örtlichkeiten los und hört bei Kommunikationsbarrieren nicht auf. Aber natürlich ist es möglich, auch mit behinderten Angehörigen und Freunden ein schönes Weihnachtsfest zu feiern, an dem jeder Spaß hat, wenn man ein paar Punkte beachtet.

Auf den Ort kommt es an

Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft mir jemand sagte, Weihnachten sei nicht so toll gewesen, denn man habe an einem nicht sehr barrierefreien Ort gefeiert, er oder sie habe sich dadurch kaum alleine bewegen können, kam nicht oder nur sehr schwer zur Toilette, musste getragen werden oder was auch immer. Ja, die deutsche Durchschnittswohnung ist vielleicht nicht gerade das Musterbeispiel an Barrierefreiheit, aber oft gibt es ja Optionen. Man muss sie nur nutzen.

Feiert man bei Onkel Paul, der keine Stufen vor der Tür hat oder bei Tante Elfriede, die im 4. Stock ohne Fahrstuhl wohnt? „Aber wir haben doch schon immer bei Tante Elfriede gefeiert“ ist dann vielleicht nicht so das beste Argument, wenn man weiß, dass Neffe Thomas nicht mehr laufen kann oder die Oma die Treppen nicht mehr so gut hinaufkommt. Schließlich sollen sich an Weihnachten ja alle wohlfühlen und dazu trägt eben meist schon die Wahl des Ortes bei, an dem Weihnachten gefeiert werden soll.

Inklusiv feiern

Es sollte vor allem an Weihnachten eigentlich selbstverständlich sein, aber ich erwähne es aus gutem Grund dennoch: Weihnachten ist ein Fest für alle. Wenn die Mehrheit der Familie irgendwas zusammen macht und einer sitzt in der Ecke und starrt die Wand an, ist irgendwas schief gelaufen. Wenn das daran liegt, dass die Person sich aufgrund einer Behinderung ausgeschlossen fühlt, ist das nicht schön.

Um das zu verhindern, sollte man sich unter Umständen vorher gut überlegen, was man an dem Tag macht. Wenn nicht alle teilnehmen können, welche Alternativen gibt es? Wie haben dennoch alle einen schönen Tag?

Untertitel / Audiodeskription einschalten

Ein gemeinsamer Fernsehabend ist etwas feines, aber nur, wenn alle daran teilhaben können. Ist jemand schwerhörig oder gehörlos, sind Untertitel im Fernsehen hilfreich und mehr als eine nette Geste, diese einzuschalten ohne dass die Person darum bitten muss, wenn er oder sie sonst auch immer Fernsehen mit Untertitel schaut. Der britische Blogger Charlie Swinbourne hat weitere Tipps für ein barrierefreies Weihnachten für gehörlose Menschen zusammen gestellt.

Was für gehörlose und schwerhörige Menschen die Untertitel sind, ist für blinde und sehbehinderte Menschen die Audiodeskription (AD). Läuft der Film mit AD sollte man diese einschalten, wenn jemand, der blind ist, mitschaut.

Mit Bedacht schenken

Es gibt kaum eine bessere Kneipenunterhaltung als die über unnütze Geschenke, die man als behinderter Mensch bekommen hat. Vor kurzem erzählte mir jemand, ihr Opa habe, wie jedes Jahr, von einer Verwandten schwarze Socken geschenkt bekommen. Ein Klassiker also. Dagegen ist ja nicht zu sagen, wenn man nicht weiß, dass der Opa im vergangenen Jahr aufgrund von Diabetes beide Füße abgenommen bekommen hat und nein, nicht mit Prothesen versorgt ist.

Wer also nicht im Fettnapf baden möchte, denkt vielleicht lieber einmal mehr darüber nach, ob ein Geschenk sinnvoll ist für jemanden, der behindert ist, oder nicht.

Das Gleiche gilt für das Schenken von Hilfsmitteln. Was Angehörige für jemanden als total hilfreich erachten, muss es nicht wirklich sein. Im Zweifelsfall sucht sich die Person das Hilfsmittel am besten selber aus. Dann ist zwar unter Umständen die Überraschung dahin, aber man investiert nicht Unsummen von Geld in ein Hilfsmittel, das dann doch nur in der Ecke steht. Am Ende ist es immer die Entscheidung des behinderten Menschen selber, was er nutzt und was nicht.

Deshalb ist grundsätzlich beim Schenken von Hilfsmitteln Vorsicht geboten. Nicht alle werden es mögen, wenn sie ohne Absprache Hilfsmittel zu Weihnachten bekommen. Manche könnten das als etwas bevormundend auffassen, andere empfinden Hilfsmittel gar nicht als Geschenk. Also, es ist Fingerspitzengefühl gefragt.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs schöne und barrierefreie Weihnachten!

 

Kein Wahlrecht

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

So lautet Artikel 38 des Grundgesetzes.

Weiter heißt es:

„Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“

Und trotzdem gibt es in Deutschland Menschen, die über 18 sind und denen der Staat dennoch kein Wahlrecht gegeben hat.

Bundesverfassungsgericht soll es richten

Acht behinderte Menschen haben deshalb jetzt Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, weil sie bei der Bundestagswahl 2013 nicht wählen durften. Zuvor war ihr Einspruch gegen die Wahl durch den Bundestag abgelehnt worden.

Die Beschwerdeführer wollen, dass die Verfassungshüter die Gründe, warum sie nicht wählen dürfen, für nichtig erklären. Unterstützt werden sie dabei von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).

Wählen darf nach einer Regelung des Bundeswahlgesetzes nicht, für wen eine Betreuung in allen Angelegenheiten besteht. Außerdem ist von der Wahl ausgeschlossen, wer sich im psychiatrischen Maßregelvollzug befindet, weil er oder sie aufgrund einer Krankheit oder Behinderung schuldunfähig ist und krankheitsbedingt weitere Taten drohen.

Die acht von der Wahl Ausgeschlossenen sind damit nicht alleine. Die Lebenshilfe schätzt, dass deutschlandweit rund 10.000 Menschen von diesen Regelungen betroffen sind und man ihnen kein Recht einräumt, zur Wahl zu gehen.

Leichte Sprache gibt Zugang zu Information

Lebenshilfe und Caritas halten das für verfassungswidrig. „Natürlich können auch Menschen, die eine Betreuung in allen Angelegenheiten haben, eine überlegte Wahlentscheidung treffen“, so die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Ulla Schmidt. Wichtig sei, dass Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Informationen zur Wahl in leichter Sprache erhalten und so bei der Ausübung ihres Wahlrechts unterstützt werden.

Diese Angebote in leichter Sprache gibt es immer mehr. So bietet beispielsweise die Zeitung Das Parlament, öffentlich-rechtliche Sender, aber auch politische Parteien und der Bundestag selbst politische Informationen in leichter Sprache an.

Was bei der Problematik deutlich wird: Den Gründen für den Ausschluss zur Wahl liegt ein veraltetes Bild von dieser Gruppe behinderter Menschen zugrunde. Das sieht man auch bei der Caritas so: „Sie stammen aus einer Zeit, als Gesellschaft und Recht Menschen mit Behinderung nicht zutrauten, in allen gesellschaftlichen Bereichen teilhaben zu können“, sagte Johannes Magin, Vorsitzender des CBP.

Willkür

Das Wahlrecht wird obendrein willkürlich entzogen: Dass jemand betreut wird oder in einer psychiatrischen Klinik untergebracht wird, heißt nicht automatisch, dass er oder sie nicht wählen und sich vor der Wahl informieren kann.

In Artikel 3 Satz 2 verbietet das Grundgesetz zudem, dass Menschen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Auch Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention garantiert behinderten Menschen das Wahlrecht. Deutschland hat sich verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Das bedeutet auch, behinderten Menschen das gleiche Wahlrecht einzuräumen wie nicht behinderten Menschen.

Das alles ist leider ein unschönes Beispiel dafür, dass Inklusion oft nicht am Geld scheitert, sondern an Vorurteilen. Bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht das auch so sieht.

 

Zum Fremdschämen

Am Samstagabend war ich auf einer Geburtstagsparty. In der Kneipe, in der wir feierten, hatte ich keinen Handyempfang und so war ich, was bei mir selten genug vorkommt, fast vier Stunden offline. Als ich draußen wieder Empfang hatte, hatte ich über unterschiedliche Messenger viele neue Nachrichten: Diverse Leute wollen mit mir reden, aus Deutschland, Österreich und Großbritannien. Erst dachte ich, es sei irgendetwas Weltbewegendes passiert. Dann aber ging es doch nur um den Untergang eines Flaggschiffs der deutschen Fernsehunterhaltung.

Körpersprache und Gesichtsausdruck

Alle wollten wissen, ob ich Wetten, dass…? schaue und es auch so furchtbar finde, wie dort Markus Lanz mit Samuel Koch umgeht. Ich schaute mir auf der Heimfahrt Reaktionen auf Twitter an und es war schnell klar, dass das Interview mit Samuel Koch mehr als fragwürdig war.

Samuel Koch hat sich vor einem Millionenpublikum eine Querschnittlähmung zugezogen – in der gleichen Sendung, in der er nun wieder zu Gast war. Dass das keine einfache Situation werden würde, hätten sich Moderator und Redaktion denken können. Aber sie haben das Interview wie einen zweiten Unfall inszeniert. Die Fragen von Markus Lanz waren peinlich, zum Fremdschämen. Sie waren übergriffig und eines Moderators einer Samstagabendsendung unwürdig. Selbst wenn man den Ton ausschaltet und nur die Körpersprache des Moderators und den Gesichtsausdruck von Samuel Koch ansieht, sieht man: da läuft irgendwas gehörig schief.

Samuel Koch wollte über seine Schauspielprojekte reden. Markus Lanz fragte ihn lieber mehrmals, wie es ihm geht, um am Ende nach der Sinnhaftigkeit des Unfalls zu fragen. Solche Fragen bin ich auch gewohnt, normalerweise von irgendwelchen sektenartigen Predigern auf der Straße, die meinen, mich zu irgendetwas bekehren zu wollen, weil ich im Rollstuhl sitze. Die fragen auch immer, welchen Sinn es habe, dass ich nicht laufen kann. Manchmal sage ich solche Leuten auch, wie sehr sie mich nerven. Samuel Koch hatte da mehr Geduld als ich, aber sein Gesicht und die zögerliche Antworten sprachen Bände.

Das schlechte Gewissen der Nation

Man tut Samuel Koch keinen Gefallen damit, ihn zum personalisierten schlechten Gewissen der Nation zu machen. Von einem Moderator wie Markus Lanz kann man erwarten, Samuel Koch und alle behinderten Menschen in seinen Sendungen auf Augenhöhe zu begegnen. Dazu gehört, jemanden wie Samuel Koch nicht ungefragt ständig anzufassen, zu tätscheln und zu umarmen. Es war Samuel Koch sichtlich unangenehm.

Diese von Mitleid getriebene Behandlung von oben herab ist ungefähr das Gegenteil von dem, was jemand wie Samuel Koch verdient hätte: Respekt, so wie jeder andere Schauspieler, der bei Wetten, dass…? seinen Film bewirbt. Mitleid ist so gut wie immer das Gegenteil von Respekt, Mitleid findet nie auf Augenhöhe statt. Es ist zutiefst demütigend, wenn man merkt, der andere bemitleidet einen – vor allem in einer Situation, in der man voller stolz ein Projekt präsentieren möchte.

Erfolge statt Mitleid

Samuel Koch hat sein Studium erfolgreich beendet, spielt Theater, hat mit Til Schweiger gedreht und hat, wenn man der Klatschpresse glauben darf, gerade eine neue Freundin. Es hätte der Sendung gut zu Gesicht gestanden, über solche Dinge und Erfolge zu reden, anstatt eine Mitleidsshow abzuziehen. Das passt in die 1980er Jahre, als die Aktion Mensch noch Aktion Sorgenkind hieß. Markus Lanz hat versucht, aus Samuel Koch ein Sorgenkind zu machen. Es ist ihm nicht gelungen.