Beim Guardian beginnt das Virtual-Reality-Zeitalter in einer Gefängniszelle. Genauer: in einer virtuellen Einzelhaftzelle. Klingt … spannend?
Ist es auch.
Das erste VR-Experiment der Zeitung heißt 6×9 und lässt Nutzer nachempfinden, wie es ist, in Isolationshaft zu sitzen. In einer sechs mal neun Fuß kleinen Zelle mit nichts als einem schmalen Fenster, einer Pritsche, einem Schreibtisch, einem Hocker ohne Rückenlehne und einer Wasch- und WC-Ecke. Bis zu 100.000 Menschen sitzen allein in den USA in solchen Zellen, zwischen 22 und 24 Stunden am Tag, manchmal für Jahre.
Der Guardian will veranschaulichen, welche psychischen Schäden die Isolationshaft anrichten kann. Dazu hat er eine App für Android und iOS entwickelt, die den Nutzer mithilfe von Googles Cardboard* in eine solche Zelle versetzt.
Man sieht, wie beengt die Zelle ist, wie trostlos. Das Licht verändert sich immer wieder, man hört den Wasserhahn tropfen, Geräusche vom Gang, Schreie aus anderen Zellen. Verschiedene Stimmen erzählen von ihren Erfahrungen, von Halluzinationen, von Träumen, die sich verändern und Strategien, um nicht den Verstand zu verlieren. Manches davon wird illustriert, zum Beispiel durch plötzlich auftauchende Risse in der Wand.
Für eine VR-Erfahrung ist das Setting sehr gut geeignet: Der Bewegungsradius ist klein, nichts verändert sich grundlegend. Genau darum geht es schließlich: Was macht man in so einem Raum, was kann man überhaupt machen? Und was macht der Raum mit einem?
Erweiterung des journalistischen Spektrums
Der am Computer erstellte Raum ist einer US-Zelle nachempfunden. Auch die Geräusche in der App sind echt, sie wurden in einem Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstaat Maine aufgenommen. Die Stimmen sind die von ehemaligen Gefangenen.
„Bevor Sie beginnen, sollten Sie wissen, dass dieses Stück verstörendes Material beinhaltet und eine emotionale Reaktion auslösen kann“, heißt es in einer Warnung zu Beginn. Das erscheint angesichts der Kürze des Experiments übertrieben, nach wenigen Minuten ist schließlich alles vorbei. Und Googles Cardboard erlaubt nicht gerade die allerimmersivsten Erlebnisse, die Kombination aus Papphalterung mit bikonvexen Linsen und dem Display des Smartphones ist eben keine Highend-VR-Brille wie die HTC Vive. Trotzdem zeigt der Guardian mit 6×9, wie VR das journalistischen Spektrum erweitern kann – so wie es übrigens auch die New York Times und andere Medien tun.
Zudem gibt es auf der Website zum Projekt tiefergehende Informationen zu den ehemaligen Isolationshäftlingen, zur Einzelhaft an sich sowie zum VR-Journalismus und wie er gemacht wird.
* Die Smartphone-Apps sind kostenlos, Googles VR-Betrachter aus Pappe gibt es im Internet für ein paar Euro. Man kann sich die App aber auch ohne Cardboard auf dem Smartphone ansehen – oder sogar ohne Smartphone, und zwar im 360-Grad-Video im Browser.
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