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Schreiadler

Horst: Check. Ei: Check. Küken: In Progress

 

Schreiadlerküken im Nest © Deutsche Wildtier Stiftung

Das Schreiadler-Weibchen muss wachsam sein. Unter ihm ruht sein noch nicht geschlüpfter Nachwuchs. Über ihm lauern die Räuber. Eichelhäher, die im steilen Flug am Nest vorbeipreschen, um den Adler aufzuscheuchen. Die Rabenvögel haben es auf das Ei abgesehen.

Einen weiteren ständigen Beobachter scheint der Schreiadler dagegen gar nicht zu bemerken: Eine Kamera neben seinem Horst fängt jede Bewegung ein, in und um das Nest, Tag und Nacht. Forscher haben sie dort aufgehängt, im lettischen Naturreservat Teiči. Seit ein paar Jahren wollen sie auf diese Weise mehr darüber erfahren, wie der Greifvogel seinen Nachwuchs füttert. Jeder kann per Livestream mitverfolgen, wann das Küken schlüpft und flügge wird. Eine seltene Chance: Der Bestand der Vögel ist in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre um 25 Prozent zurückgegangen. In Mecklenburg-Vorpommern brüten laut Deutscher Wildtier Stiftung noch 85 Schreiadler-Paare, in Brandenburg noch 25. Gründe sind Waldrodung, die Umwandlung von Wiesen in Äcker, Neubau von Windkraftanlagen und Wilderei auf den Flugrouten.

Männchen und Weibchen brüten abwechselnd

Das Schreiadler-Paar in seinem Horst. Mit einem Klick auf das Foto geht’s zum Live-Stream.
© Live-Stream, Deutsche Wildtier Stiftung

Wer von Deutschland aus das Vogelpaar beobachten möchte, kann über ein Feature der Deutschen Wildtier Stiftung auf den Stream zugreifen. Dort finden Nutzer zusätzliche Informationen über die Vögel. Sie jagen zum Beispiel auf eine für ihre Ordnung untypische Weise: Häufig gehen sie zu Fuß über kurzrasige Flächen, doch auch aus dem Flug packen sie sich Amphibien, Kleinsäuger und Reptilien.

Schreiadler überwintern in Südafrika und kehren im April zur Paarung nach Europa zurück. Wenn sie einen Horst gefunden haben, der noch nicht von anderen Greifvögeln besetzt ist, legt das Weibchen üblicherweise zwei Eier und brütet sie zusammen mit dem Männchen aus. Wer zuerst schlüpft, gewinnt. Der Erstgeborene hackt mit dem Schnabel so lange auf sein Geschwisterchen ein, bis es stirbt. Analog zur biblischen Geschichte von Kain und Abel wird dieser Prozess als “obligatorischer Kainismus” bezeichnet und ist vermutlich genetisch bedingt. Nur in besonders nahrungsreichen Zeiten ist es wahrscheinlich, dass beide Küken überleben.

Stichtag: 10. Juni

Zu diesem brutalen Schauspiel wird es vor der Kamera in Teiči nicht kommen. Das Weibchen hat nur ein Ei gelegt. Schon in den nächsten Tagen könnte daraus ein junger Schreiadler schlüpfen. “In der Vergangenheit fand der Schlupf immer um den 10. Juni statt”, sagt Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier Stiftung. Bis dahin muss das Vogelpaar weiter seinen Horst verteidigen.

Für den Moment ist die Gefahr erst einmal vorüber. Die Eichelhäher haben eingesehen, dass das Weibchen seinen Horst nicht verlassen wird. Vorsichtig schubst es sein kostbares Ei in eine neue Position. Dann streckt es die Flügel und stößt ein paar seiner klassischen Rufe aus. Es kann sich etwas entspannen.


Weitere Netzfundstücke von ZEIT ONLINE gibt’s im Teilchen-Blog.