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Züge rumpeln durchs Zimmer

Über die Jahre (14): „Tago Mago“ zeigt die Krautrockband Can 1971 auf ihrem Höhepunkt. Der Weitblick dieser Platte ist fünfunddreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung erstaunlich

Cover Can

Wenige große Erfinder im Jazz und im Rock’n’Roll kamen in den Siebziger Jahren aus Deutschland. Sonst kulturell gerne vorneweg, entwickelte sich hierzulande wenig an Jugendkultur, Typen wie Peter Kraus waren Klone amerikanischer und britischer Vorbilder. Das mag an der Verstörung und kulturellen Orientierungslosigkeit liegen, die dem Zweiten Weltkrieg folgte.

Eine Ausnahme war der Krautrock. Mit ihm entstand eine dem Jazz und Rock’n’Roll zwar verwandte, aber doch unabhängige Ästhetik. Bands aus Deutschland fanden im Krautrock eine eigene Sprache. Die Improvisationslust des Jazz und die Durchschlagskraft des Rock verbanden sie mit elektronischen Klangexperimenten, die Stücke – oft Sessions genannt – wurden länger und länger. Die Psychedelik folgte dem Hippietum.

Als einflussreichste Krautrockband gelten Can. Was sie von anderen Krautrockgruppen abhob, war die Qualität ihrer Komposition und das Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Charaktere. Ihren guten Ruf verdanken sie nicht zuletzt dem Album Tago Mago von 1971. Präzise wie ein Uhrwerk treibt Jaki Liebezeit die Platte mit hypnotischer Repetition an, er ist die Rolex unter den Schlagzeugern. Holger Czukay führt mit seinem Bass sowohl den Rhythmus als auch die Melodie. Die Rhythmusarbeit auf dieser Platte nimmt viele Aspekte moderner Tanzmusik vorweg.

Gitarrist Michael Karoli und Irmin Schmidt am elektrischen Piano fügen sich in das Klangbild. Wenn sie doch einmal ein Solo spielen, dann ist es auf den Punkt. Erstmalig an den Aufnahmen beteiligt ist der japanische Sänger Damo Suzuki. Czukay und Liebezeit hatten ihn entdeckt, als er in München auf der Straße musizierte. Seine Stimme ist die perfekte Ergänzung zu den Klang- und Rhythmuskaskaden der Band.

Seite 3 des Doppelalbums, das Stück Aumgn, kann man getrost vergessen. Hier wird die Band zu sehr von ihrer Begeisterung für die Technik getrieben. Die Musik verliert sich in Hallschwaden, ohne dass sich ein Zauber einstellte.

Sei’s drum. Stücke wie das achtzehnminütige Halleluwah und Paperhouse rumpeln wie Züge durchs Zimmer und zeigen, wie sich Improvisation mit Komposition und der Detailverliebtheit des Studioschnitts verbinden lassen. Der Weitblick dieser Platte ist fünfunddreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung erstaunlich. Bereits das Cover ist sagenhaft. Tago Mago zeigt Can auf ihrem Höhepunkt.

„Tago Mago“ von Can ist erhältlich bei Spoon Records

Hören Sie hier „Paperhouse“

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