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Der Saiten-Fex gibt Bass

Hin und her geht es auf Marcus Millers Album „Free“: Neben prickelnden Jazzstandards und konzisem Funk stehen schlafmütziger Soul und enervierende Bass-Improvisationen

Marcus Miller Free

Natürlich kann man sich bei vielen Alben fragen, warum es sie überhaupt gibt. Was will uns diese Sängerin, jene Band mit ihrem Werk sagen? In der Regel finden sich Hörer, die diese Frage wenigstens für sich beantworten können. Solo-Alben von Schlagzeugern oder Bassisten verlangen nach besonderer Rechtfertigung. Gemeinhin gelten diese Musiker als Protagonisten der Begleitung, solistisches Auftrumpfen wird von ihnen nicht erwartet.

Marcus Miller ist Bassist, Miles Davis entdeckte ihn einst. Ihn scheren solche Vorurteile nicht. Seine CD Free ist rührend altmodisch geraten. Er nahm sich je eine Handvoll eigener und fremder Kompositionen und lud alte Freunde – den Saxofonisten David Sanborn, den Gitarristen Keb’ Mo’ – und neue Freundinnen wie die Soul-Sängerin Corinne Bailey Rae ins Studio ein. Er hatte dort das Sagen, die unterschiedlichen Bassgitarren, das Fender-Rhodes-Piano, die Hammond-Orgel und die Klarinette spielte er selbst. Im CD-Büchlein listet er die eingesetzten Instrumente penibel auf. Die elektrische Bassgitarre hält er für ein Solisten-Instrument wie die Gitarre und das Saxofon, sein Bassspiel verblüfft die Zuhörer mit Virtuosität und mitunter aberwitziger Geschwindigkeit.

Was soll man dagegen einwenden? Aus allen Ecken und Winkeln von Free slappt und poppt es. Marcus Miller wurde groß in einer Jazz-Szene, die vom Funk beeinflusst wurde. Es macht sogar Spaß, den Tricks des Saiten-Fexes zu folgen, immer wieder fragt man sich: Wie hat er das nun wieder gemacht?

Eines stört: Free ist ein Sammelsurium von Stilen. Es ist kein Jazz-Album, auch keine Pop-CD. Es will beides ein wenig sein, aber nicht so richtig. Seine eigenen Kompositionen – wenn man diese Ostinato-Abhandlungen so nennen will – basieren auf einem mehr oder weniger simplen Riff, das er durch Improvisationen variiert. Der eigentliche Bass bleibt im Hintergrund, mitunter wird er mit Hilfe eines Synthesizers erzeugt. Bei Pluck ist das so und bei Funk Joint. Das Stück Free hingegen ist ein veritabler R’n’B-Song, Corinne Bailey Rae singt sich unnachahmlich durch die Melismen. Aber stimmen hier Form und Inhalt? Kann man den Wunsch nach Freiheit

Den Gegenpol bietet Jean Pierre, eine Komposition von Miles Davis. Das Stück beginnt interessant, Marcus Miller spielt das unverwechselbare Thema auf seiner Bassgitarre, ein Wechselspiel von Bruchstücken des Themas zwischen tiefer und hoher Bassgitarre beginnt. In Rede und Gegenrede gibt es ein Improvisationsgeplänkel zwischen ihm und dem Mundharmonika-Spieler Gregoire Maret – das war es dann aber auch. Am Ende wird das Stück einfach ausgeblendet. Das anschließende Higher Ground von Stevie Wonder ist dann wieder konziser, es ist der Höhepunkt der CD.

Sicher, man staunt über Marcus Millers instrumentales Können, seinen rhythmischen Einfallsreichtum und seinen Sinn für Klanggestaltung. Doch man wünscht dem einen anderen Rahmen. Eine Band mit ähnlich kraftvollen Musikern, die ihm zeigen, dass ein Bassgitarrist durchaus auch einfach mal nur begleiten kann.

„Free“ von Marcus Miller ist erschienen bei Dreyfus Records/Soulfood Music.

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Klangräume für Virtuosen

Erst sollte die Band Porcupine Tree nur ein Witz sein, dann rettete sie den Progressive Rock. Ihr neuntes Album „Fear Of A Blank Planet“ klingt ausufernd – wie es sich für das Genre gehört.

Porcupine Tree Blank Planet

Im Jahr 1987 beschloss der Brite Steve Wilson, mit seinem Freund Malcolm Stocks eine fiktive Rockband namens Porcupine Tree zu gründen, fiktive CDs zu produzieren und mit einer erfundenen Bandgeschichte auch an Wettbewerben teilzunehmen. Er konnte nicht ahnen, das aus diesem Witz eines Tages tatsächlich eine Band werden würde, die dem etwas in Verruf geratenen Genre Progressive Rock auf die Beine helfen sollte. Vier Jahre nach der Gründung erschien die erste richtige CD, mit Alben wie Signify (1996), Stupid Dream (1999) und Lightbulb Sun (2000) gewannen sie in der Folge ein immer größeres Publikum. Kürzlich erschien Fear Of A Blank Planet, ihr neuntes Studioalbum.

Unterstützt wird Steve Wilson seit Jahren von hervorragenden Musikern – unter ihnen der Spezialist für unerhörte elektronische Klänge, Richard Barbieri, der früher bei der Band Japan spielte. Steve Wilson schreibt die meisten Stücke, er ist ein guter Komponist, ein guter Gitarrist und ein passabler Sänger. Vor allem aber ist er ein hervorragender Produzent, in dieser Rolle sieht er sich selbst am liebsten. In seinen Kompositionen verarbeitet er Einflüsse aus altem Progressive Rock, Jazz, Minimal Music, Pop, Heavy Metal und Klassik.

Schon der Titel des neuen Albums Fear Of A Blank Planet verweist auf die Atmosphäre, die beinahe alle Kompositionen Steve Wilsons durchzieht. Eine spöttisch resignative, oft ironische und mitunter auch sarkastische Sicht auf die Dinge. Eingebettet sind diese Endzeit-Texte in Songs, die sich häufig aus winzigen Motiven zu ausgedehnten Klangprozessen entwickeln. Es gelingt Steve Wilson dabei stets, seine Band gleichberechtigt einzubinden, Porcupine Tree sind keine One-Man-Show mit Begleitmusikern. Selbst Gastmusiker wie Alex Lifeson von Rush oder Robert Fripp können sich nahtlos in das Klanggefüge der Band einpassen.

Anesthetize ist mit fast 18 Minuten das längste Stück der Platte. Solche Kompositionen bieten Virtuosen genug Raum und den Hörern manche Überraschung. So brechen aus den mäandernden Synthesizer-Klängen mitunter brachiale Double-Bass-Gewitter und scheppernde Gitarrenblitze hervor, die wenig später wieder von elegischen Elektronikklängen abgelöst werden. Das alles funktioniert dank gewisser Anleihen bei der klassischen Musik, hier und da tauchen Leitmotive und Reprisen auf.

Auch die Streicher fehlen nicht: In My Ashes haben sie die Aufgabe, einen sanften Hintergrund zu liefern. Bei Sleep Together ist das Streicherarrangement gespickt mit an Beatles-Songs wie Strawberry Fields Forever oder I Am The Walrus erinnernden Streicherglissandi, stellenweise spielen sie sich weit in den Vordergrund. Sleep Together ist ohnehin ein gutes Beispiel für die Produktionstechnik Wilsons. Aus heterogenem Material schmiedet er eine unverwechselbare Mischung: Beatles-Streicher, Heavy-Drums, ein Ostinato des Synthesizers, das den gesamten Song über vor sich hin murmelt, versonnene Keyboard-Motive, ein psychedelisches Gitarrenriff.

Diese Musik stellt Ansprüche an den Hörer, ganz sicher kann man sie nicht nebenbei hören. Wer von Rockmusik mehr erwartet als das übliche Drei-Minuten-Geschrammel auf elektrischen Gitarren, der ist bei Porcupine Tree bestens aufgehoben.

„Fear Of A Blank Planet“ von Porcupine Tree ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Roadrunner/Warner Music

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Die Idee ist von Mozart

Regina Spektor macht Popmusik für Menschen, die Popmusik nicht mögen. In ihrem eigenwilligen Spiel mit Zitaten und Klängen kann sie nur ein Schluckauf bremsen.

Regina Spektor Hope

Anti-Folk und Anti-Pop nennen viele das, was Regina Spektor da vorführt. Sie macht Musik, wie sie wohl nur in der Großstadt, vielleicht sogar nur in New York entstehen kann: voller Anspielungen, ironisch und geheimnisvoll, manchmal auch unverständlich. Wenn man Pop mit Oberflächlichkeit gleichsetzt, dann ist ihr Album Begin To Hope tatsächlich Anti-Pop.

Regina Spektor kam im Alter von acht Jahren mit ihren jüdischen Eltern nach New York, sie flohen vor antisemitischen Anfeindungen aus Russland. Gegen ihren Willen ging sie zum Klavierunterricht, ihre Eltern hatten nur Ohren für klassische Musik. Allmählich begann Regina Spektor, andere Musik wahrzunehmen, in New York konnte sie dieser nicht entgehen. Die Kurzfassung ihrer Karriere: Sie fing an, Lieder zu schreiben, nahm einige Alben auf, gewann mit Soviet Kitsch ein größeres Publikum, traf den Produzenten David Kahne und spielte mit seiner Hilfe Begin To Hope ein.

„Shook it up“, sagt die Sängerin beiläufig, und schon ist man mittendrin in einer Wolke von Pizzicati, zunächst nur auf Violinen, später treten Violen und Celli hinzu. Ein elektronisches Schlagzeug zählt mit. Fidelity heißt das Stück. Sie singt wie für sich selbst, der Text klingt autobiografisch, ist es aber wohl nicht. Sie erfindet diverse Alter Egos, benutzt erfundene Figuren. Ihr verhaltener Stimmklang wird eingehüllt von Synthesizerklängen, die ein englisches Blasorchester aus Hörnern und Posaunen nachahmen, bis sich ein Klarinettenklang löst und davonschwebt. Die Idee stammt von Mozart. Schließlich setzt doch noch ein leibhaftiges Schlagzeug ein, parallel zu dem elektronischen. Basstrommel, Snare, Hi-Hat, ein, zwei Mal ein Crashbecken, das ist alles. Am Schlagzeug sitzt Shawn Pelton. Er hat für Bruce Springsteen getrommelt und für Sheryl Crow. Sein kunstvolles Spiel verleiht dem Stück die eigentliche Dynamik.

On The Radio ist simpel und vertrackt zugleich. Im Grunde sind es abgegriffene Akkordfolgen, wie sie schon hundertfach verwendet wurden – etwa in Emilias Big Big Girl. Wieder bilden Pizzicati die Grundfarbe des Klangs, Shawn Pelton zeigt im Hintergrund, was er mit drei Perkussionsinstrumenten anstellen kann. Regina Spektor singt von einem Radio-DJ, der offensichtlich eingeschlafen ist. Er spielt November Rain von Guns N’Roses zweimal hintereinander, sie findet das Solo zunächst „really long“, beim zweiten Mal dann schon „awful long“. Die Musik ist voller Details, Männerstimmen skandieren im Hintergrund „Huh Hah, Huh Hah“, der Synthesizer dudelt Alberti-Figuren vor sich hin, am Ende des Stücks zitiert Regina Spektor eine Zeile der Dresden Dolls.

Ihr Klavierspiel hat wenig mit Pop und Jazz zu tun. Die Klanggestaltung und Dynamik erinnert an die großen Russen Mussorgski und Prokofjew. Mal glaubt man die Akkorde von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert hören zu können, mal ein Zitat aus Bilder einer Ausstellung, mal einen Klang aus Leutnant Kijé. Einmal singt sie russisch.

Überhaupt ihr Gesang, es stimmt jeder Ton. Dass eine russische Jüdin auch den Blues singen kann, beweist sie mit Lady, da fällt sogar das Wort „blue“ auf eine Blue Note. Der Hotel Song ist eine perkussive Zwiesprache mit dem Schlagzeug, bei Après Moi wird sie von einem Schluckauf gebremst.

Begin To Hope ist etwas für Musikhörer, die Pop nicht mögen. Eben Anti-Pop.

„Begin To Hope“ von Regina Spektor ist bei Warner Music erschienen.

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