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Der Pilotenschein

Das ist der Flugzeugführer-Ausweis für Doppeldecker, den mein Opa Julius Wenger, Jahrgang 1895, im Jahr 1918 gemacht hat. Ich bewahre diesen Ausweis voller Stolz auf. Als mein Opa noch lebte, erzählte er mir immer vom Fliegen. Er konnte es nicht verstehen, wenn man nicht so viel Interesse zeigte, wie er erwartete. Für ihn war das Fliegen das Schönste, obwohl er nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr offiziell flog. Soweit ich mich erinnere, ist er in den siebzigerer Jahren aber noch einige Male mit einem Sportflugzeug in die Lüfte gegangen.

Günter Wenger, Mühlhausen-Ehingen, Baden-Württemberg

 

Hinterfragen: Mein Wort-Schatz

Zwei Jahre lang hatte ich in Madrid gelebt. Als ich 1955 nach Deutschland zurückkehrte, fand ich neue Begriffe und diese und jene Änderung der deutschen Sprache. Mir fiel ein ganz einfaches Wort auf, das mir vorher nicht geläufig gewesen war: hinterfragen. Hatte es an den tausend großdeutschen Jahren gelegen, in denen ich sozialisiert worden war und in denen Befehl und Gehorsam das Leben bestimmt hatten? Wie glücklich war ich, als ich dieses Wort auch in einem der Kernsätze des Aufklärers Kant fand: Man möge das Wesen der Sachen hinterfragen. Jeder Leserin, jedem Leser, mir selbst, allen möchte ich dieses Wort anempfehlen. Nicht mit einem Ausrufungszeichen, sondern mit einem freundlichen Einladungszeichen versehen –, auch wenn es dieses Zeichen derzeit noch nicht gibt.

Helmut Willenbrock, Maulbronn

 

Was mein Leben reicher macht

Den norddeutschen Abendhimmel anschauen. Die Sonne taucht langsam hinter den Horizont. Alle zehn Sekunden ein neues farbiges Wolken-Gemälde. Unbeschreiblich.

Wolf Warncke, Tarmstedt, Niedersachsen

 

Was mein Leben reicher macht

In der Essener U-Bahn lese ich die neue Ausgabe von ZEIT Geschichte mit dem Titel Der Islam in Europa. Da lächelt mich überraschend eine muslimische Studentin ganz offenherzig an. Ich gehe davon aus, dass das Lächeln dem Zeitschriftentitel galt und nicht mir. Vielleicht aber auch der Kombination aus beiden.

Jörg Mirbach, Essen

 

Zeitsprung

Auf dem oberen Bild hält meine Ururgroßmutter Isidore am 1. September 1940 ihren eine Woche alten Urenkel in den Armen – meinen Vater Evert. Dorothee, die Mutter meines Vaters, hatte ihre geliebte Omi in Hannover noch einmal besucht. Bald darauf ging die junge Familie nach Florenz. Mein Großvater arbeitete dort als Lehrer an der Deutschen Akademie. Mitte 1942 wurde er allerdings eingezogen, im August 1943 schob man dann meine Oma und meinen Vater ab, weil die Amerikaner in Süditalien gelandet waren. In der Zwischenzeit war meine Ururgroßmutter gestorben, ohne dass es ein Wiedersehen gegeben hätte. Auf dem unteren Bild sieht man meine Omami im Mai 1999 mit meinem Sohn Nicolas. Kurz nach seiner Geburt war sie aus Göttingen nach Hamburg gereist, um ihren ersten Urenkel zu begrüßen. Als ich das Foto sah, musste ich an das Bild denken, das ich aus einem alten Familienalbum kannte. Wie gut, dass meine Omami mich heute regelmäßig besuchen kann und erlebt, wie meine Kinder aufwachsen! Sie war sogar dabei, als Nicolas laufen lernte.

 

Wiebke Wilde, Hamburg

 

Internationale Küche

In unserem Hotel auf Teneriffa werden alle Gerichte am Büfett auf Täfelchen in Spanisch, Englisch und Deutsch ausgezeichnet. Wir haben immer den Eindruck, dass man auf Gutdünken vom Englischen weiterübersetzt. So wurde aus einem spanischen Schweinefleischgericht namens Secreto Ibérico das englische »Iberian Secrets«. Darunter stand dann auf Deutsch »Iberische Sekrete«. Ich wählte etwas anderes.

Maren Mecke-Matthiesen, Schwartbuck, Schleswig-Holstein

 

Was mein Leben reicher macht

Nach einer langen Zugfahrt auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause, in jeder Hand schweres Gepäck. Plötzlich reißt der Henkel einer Tragetasche. Wie gerufen hält ein Taxi an, und der freundliche Fahrer hilft mir, das Gepäck im Kofferraum zu verstauen. Ich muss ihm mitteilen, dass ich leider kaum Bargeld bei mir habe. »Kein Problem!«, antwortet er, und fährt, damit der Betrag auf dem Taxameter nicht weiter ansteigt, auf dem letzten Stück des Weges rückwärts in meine Wohnstraße hinein.

Melanie Klein, Münster

 

Internationale Küche

Hotel Royal Baltic in Ustka an der polnischen Ostseeküste im August 2009. Allgemeine Einleitung des Chefkochs: »Es gehört sich, mit sprödem Salat anzufangen … Suppen bilden den Einlass zur Wonne … Die Orgie des Geschmacks fängt bei der Hauptspeise an. Gebratene Ente liegt faul auf Rotkohl herum. Königsgarnelen versprechen die Wonne, Penne Caruso ist ganz ausgeschlossen. Dessert wird die Ergänzung idealer Gesamtheit sein. Crème brulée schmeckt wie ein erster Kuss. Soufflé ist vom Himbeergarten berühmt. Unsere Geschmäcke werden sie niemals vergessen. Zur Verlust im Probieren lädt ein, Chefkoch Rafal …« Man sieht, das Übersetzungsprogramm hat eine enge Beziehung zur Poesie! Das Essen war übrigens wirklich sehr gut.

Susanne Gierlich, Freinsheim, Rheinland-Pfalz

 

Die Kritzelei der Woche

Am Ende eines Anfängerkurses in einer Freiburger Flugschule. Vier sonnige Tage und unzählige Startversuche mit dem riesigen Gleitschirm lagen hinter uns. Jeder kleine Flug auf der leicht abfallenden Wiese im Schwarzwald fühlte sich unsagbar schwerelos an. Die Theorie an diesem schwülen Nachmittag reichte von Gelände- über Wetterkunde, Rettung und Flugrecht bis zu Themen wie der Treibhausproblematik. Während ich fleißig Fremdwörter notierte und Grafiken abzeichnete, notierte meine Freundin Petra das Wichtigste auf ihre Art: Was am linken Rand der Kritzelei wie eine Rakete aussieht, ist der Schwangerschaftstest, den sie in der Mittagspause gekauft hatte. Ihre Vorahnung zeigt zwei Striche. Am Abend dieses Tages hatten wir die Gewissheit. Und
wieder fühlten wir uns so schwerelos wie beim ersten Gleitschirmstart.

Christoph Jung, Freiburg im Breisgau