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Wie (schnell) werde ich Landesvater? Ein Jahr nach der Wahl in Baden-Württemberg

von Thorsten Faas und Johannes Blumenberg

Die Zeiten von „Wir können alles – außer politische Veränderung“ sind in Baden-Württemberg längst Geschichte. Stuttgart21, Eskalation im Schlossgarten, Schlichtung, Stresstest, Fukushima, Moratorium, Landtagswahl, Volksabstimmung. Wer hätte gedacht, dass das „Ländle“ überhaupt in solch politisch-turbulentes und dynamisches Fahrwasser geraten kann. Heute vor einem Jahr jedenfalls, am 27. März 2011, fand die Landtagswahl statt. Am Ende des Wahlabends standen 71 Sitze für Grün-Rot im Stuttgarter Landtag, 67 für Schwarz-Gelb. Und kurz darauf hat eben dieser Landtag Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpäsident der bundesdeutschen Geschichte gewählt.

Seit November 2010 begleiten wir an der Universität Mannheim mit (Online-)Umfragen die politischen Entwicklungen im Südwesten Deutschlands. Inzwischen haben wir einen identischen Kreis von rund 1.000 Personen insgesamt neun Mal befragt. So können wir nachzeichnen, was in den letzten rund 18 Monaten politisch passiert ist. Und wie folgende Abbildung zeigt, ist Einiges passiert – gerade mit Blick auf die Grünen und ihren exponiertesten Vertreter, Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Entwicklung der Beliebtheitswerte (*)

Wir haben unsere erste Befragung, die wir Ende 2010 durchgeführt haben, als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung genommen. Wie haben sich die Beliebtheitswerte von Kretschmann und den Grünen relativ dazu entwickelt? Zunächst praktisch gar nicht: Zum Zeitpunkt unserer zweiten und dritten Befragung, rund fünf bzw. drei Wochen vor der Wahl vom 27. März 2011 haben sich beide Kurven kaum verändert. Doch schon in der letzten Woche vor der Wahl deutet sich an: Die Grünen sind „ready for take-off“ – und allen voran ihr Spitzenmann.

Nach dem Wahlsieg vom 27. März 2011 beschleunigen sich dann die beiden Prozesse, die sich auf der Zielgerade des Wahlkampfs schon angedeutet haben:
1) Die Kurven für Kretschmann und die Grünen steigen deutlich an.
2) Die Kurven entkoppeln sich.

Schon in der fünften Befragungsrunde, durchgeführt unmittelbar nach dem Wahltag, setzt ein, was Wahlforscher prosaisch den „Honeymoon“-Effekt nennen: Im Lichte des Wahlerfolgs sonnen sich die Sieger und gewinnen an Zuspruch. Die Grünen können einen halben Sympathiepunkt hinzugewinnen – Kretschmann einen ganzen. (*) Und sein Aufstieg geht in der Folge sogar noch weiter: Befragungsrunde 6, unmittelbar nach der Vereidigung der neuen Regierung, weist nochmals einen deutlichen Sympathiegewinn für den MP aus. Auch das Ansehen der Grünen steigt weiter – wenn auch deutlich bescheidener.

„Honeymoon is größtenteils over“ heißt es danach für die Grünen: In unseren Befragungswellen 7 und 8 – durchgeführt in den Wochen vor der Volksabstimmung zu Stuttgart21 – sinken ihre Beliebtheitswerte wieder und pendeln sich auf einem Niveau ein, das insgesamt etwas über dem Ausgangsniveau vom November 2010 liegt. Anders im Falle des Ministerpräsidenten: Seine Werte bleiben oben – knapp 1.5 Sympathiepunkte über dem Wert, mit dem er 2010 in den Wahlkampf gestartet ist.

Der Aufstieg Kretschmanns ist in Rasanz und Persistenz bemerkenswert. Nur zur Erinnerung: Wir haben immer den gleichen Personenkreis befragt! Es handelt sich folglich um realen Wandel – der wohl nur dadurch zu erklären ist, dass Kretschmann in kürzester Zeit die Rolle des Landesvaters erfolgreich eingenommen hat. Selbst das schwierige Umfeld rund um die Volksabstimmung und deren Umsetzung haben seiner gewachsenen Beliebtheit offenkundig nichts anhaben können. Er ist im Amt angekommen. Viele Kommentare, die dieser Tage aus Anlass des „Einjährigen“ geschrieben und gelesen werden, argumentieren ähnlich. Unsere Zahlen zeigen: Sie haben wohl recht.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

Johannes Blumenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim.

(*) Basis der Abbildung sind so genannte Symapthieskalometer. Die Politikerfrage lautet dabei: „Kommen wir nun zu einigen führenden Politikern in Baden-Württemberg. Einmal ganz allgemein gesprochen, was halten Sie von diesen Politikern? Benutzen Sie dafür bitte eine Skala von +5 bis -5. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Person halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von ihr halten“; die Parteienfrage lautet analog. Wir haben die mittleren Bewertungen, die für die erste Befragung resultierten, dabei als Ankerpunkt verwendet und in der Grafik auf den Wert 0 gesetzt.

 

Piraten und Nichtwähler

Die Wahlbeteiligung im Saarland war mit 61,6 % nicht hoch – dies war aber auch nicht anders zu erwarten. Polarisierung mobilisiert, die Menschen wählen lieber Schwarz oder Weiß statt Hellgrau oder Mittelgrau. Und die Auseinandersetzung zwischen „AKK“ und Heiko Maas war genau das Gegenteil eines polarisierten Wahlkampfes. Die beiden großen Parteien hatten im Vorfeld schon angekündigt, ihre große Koalition fortsetzen zu wollen; inhaltliche Alternativen hatten die Wähler kaum.

Diese Alternativlosigkeit wird von Nichtwählern am häufigsten als Grund für ihre Wahlabstinenz genannt – und so lässt sich auch der vorläufige Erfolg der Piraten erklären. Der Blick in das Wahlprogramm der Piraten lässt kein klares inhaltliches Profil erkennen. Aber: Sie grenzen sich zwar nicht inhaltlich ab, jedoch schlagen sie neue Prozesse vor. Sie setzen auf „liquid democracy“, mehr Bürgerbeteiligung und offene Gestaltungsmöglichkeiten in der Politik. Daraus beziehen sie den Reiz des Neuen, des Anderen, der dazu führt, dass enttäuschte, mit den etablierten Parteien unzufriedene Menschen in der Piratenpartei eine Alternative sehen. Natürlich haben die Piraten auch bei den anderen Parteien Wähler abwerben können. Aber den größten Anteil am überraschend guten Wahlergebnis der Piraten machen nicht diejenigen aus, die zuvor FDP oder Grüne gewählt haben, sondern eben jene, die zuvor nicht zur Wahl gegangen sind.

Wie nachhaltig die Piraten damit aufgestellt sind, wird sich spätestens im Mai bei der vorgezogenen Landtagswahl in NRW zeigen. Hier werden wir einen polarisierten Wahlkampf erleben, in dem der Wähler klare inhaltliche Alternativen zwischen SPD und Grünen auf der einen und der CDU und FDP auf der anderen Seite hat. Dazu kämpft die FDP ums blanke Überleben und bietet dafür einen profilierten Spitzenkandidaten auf – ebenso wie die CDU. Sprich: Es wird wieder um Themen gehen und auch die zur Wahl stehenden Persönlichkeiten bieten Alternativen.

Wie wird es in einer solchen Konstellation mit Piraten und Nichtwählern aussehen? Die Wahl in NRW wird nicht zuletzt in dieser Frage einigen Aufschluss geben, auch über die Chancen der Piraten bei der Bundestagswahl 2013. Meine Prognose: Es ist eine günstige Fügung für die Piraten, dass sie nach dem Erfolg im Saarland große mediale Aufmerksamkeit erfahren, ohne jedoch inhaltlich Stellung beziehen zu müssen. Diese Welle könnte sie in den Mai mit Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW tragen. Allerdings werden in diesen Bundesländern weniger Wähler z.B. von der FDP zu den Piraten wandern, weswegen man sich noch stärker darauf konzentrieren muss, Nichtwähler zu mobilisieren. Einen ganz so hohen Wert wie im Saarland werden die Piraten in NRW und Schleswig-Holstein daher nicht erreichen. Aber wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde überspringen könnten, wäre dies ein umso wichtigeres Signal – auch nach Berlin.

Weiterführende Literatur zu den Nichtwählern:

Jan Eric Blumenstil/Hans Rattinger: Warum haben Sie das getan? Subjektive Gründe der Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2009, in PVS Sonderheft 45/2011, S. 257-283

Armin Schäfer (2011): Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger: Ist die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie? In: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.): Der Unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen: Frankfurt: Campus, S. 133-156.

 

Saarland: Koalitionspolitik = Programm + Personen

Morgen sind Millionen Hunderttausende von Saarländern aufgerufen, die Zusammensetzung des Landtags in Saarbrücken neu zu bestimmen. Spannende Fragen stehen im Raum: Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Im Superwahljahr 2009 lag sie bei immerhin 67,6 Prozent – morgen dürfte sie wohl deutlich niedriger liegen. Kommen die Grünen in den Landtag? Letzte Umfragen sehen sie zwischen 4 und 5 Prozent. Schaffen es die Piraten, in einem Binnenland in ein Landesparlament einzuziehen? Umfragen sehen sie zwischen fünf und sechs Prozent. Welche Zahl wird bei der FDP vor dem Komma stehen? 1, 2 oder 3? Wie stark wird die Linke werden? 2009 waren es über 21 Prozent, Oskar sei Dank. Und: Wer wird stärkste Kraft im Land werden? CDU oder SPD? Letzte Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Und trotzdem ist die Wahl zugleich unglaublich langweilig. Denn klar ist: Es wird eine Koalition aus Union und SPD geben, das betonen beide Seiten seit Beginn des Wahlkampfs und haben daran auch keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Einzig die Frage, wer diese Koalition führen wird, ist offen. Nach den Koalitionsturbulenzen nach der Wahl 2009, an deren Ende die Jamaika-Koalition stand und zu Beginn des Jahres unterging, wirkt dies geradezu trotzig.

Gleichwohl ist diese Festlegung auch sehr bemerkenswert – und zwar aus inhaltlicher Sicht. Schaut man nämlich auf die Antworten, die die saarländischen Parteien auf die 38 Thesen des Saarland-Wahlomaten gegeben haben, so drängt sich diese große Koalition erheblich weniger stark auf, wie die folgende Abbildung zeigt:

Grad der Übereinstimmung der saarländischen Parteien gemäß Wahlomat

Wie schon bei früheren Wahlen kann man die Partei-Antworten auf die Wahlomat-Thesen nutzen, um daraus einen Indexwert (*) abzuleiten, der anzeigt, wer wem wie nahesteht. Und dabei zeigt sich eben: Die größte inhaltliche Überstimmung gibt es zwischen SPD und Linken, gefolgt von SPD und Piraten. Da beide Parteien – wenn die Umfragen stimmen – zukünftig an der Saar im Landtag sitzen werden, ergäben sich daraus durchaus inhaltlich fundierte Koalitionsoptionen. Zumindest aus Sicht der SPD ist die felsenfeste Festlegung auf die Große Koalition (potenziell sogar als Juniorpartner) durchaus überraschend. Weniger gilt dies für die Union: Zwar herrscht die größte Übereinstimmung mit der FDP, aber das ist eher von theoretischem Interesse. Die Schnittmenge mit der SPD – wenn auch insgesamt nur mäßig stark ausgeprägt – ist immer noch ihre beste (realistische) Koalitionsoption. Übrigens zeigt der Wahlomat auch das Problem der alten Jamaika-Koalition – zwischen FDP und Grünen gibt es nur sehr geringe Übereinstimmungen.

Wieder einmal zeigt sich: Politik ist eben mehr als Programmatik. Gerade in einem überschaubar großen Land wie dem Saarland mit seinen engen Netzwerken und den darin enthaltenen positiven wie negativen Verbindungen müssen die Leute auch „können“ – und das scheint bei CDU und SPD noch am ehesten der Fall zu sein. Und deswegen wird’s morgen nur mäßig spannend werden.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

 

Quotierte Urwahlen

Beteiligungsverfahren sind ja derzeit in aller Munde – auch bei den Grünen: Auf den Seiten der Grünen kann man lesen,

„dass die Partei mit einer „quotierten Doppelspitze“ zur Bundestagswahl 2013 antritt. Dies bedeutet, dass mindestens eine Person dieser Doppelspitze eine Frau sein muss. … Das Verfahren zur Benennung der beiden SpitzenkandidatInnen wird in den nächsten Wochen weiter beraten. Für den Fall, dass sich mehr als zwei Personen für das Spitzenduo bewerben, ist auch eine Urabstimmung der Parteimitglieder im Gespräch.“

Man darf sicherlich auch annehmen, dass eine Lagerquotierung zwischen „Parteilinken“ und „Reformern“ (formerly known as „Fundis“ bzw. „Realos“) in der Partei als durchaus wünschenswert angesehen wird.

Wie aber lassen sich Quotierung und Urwahl sinnvoll vereinen? Was würde etwa in einer Situation passieren, in der Trittin, Roth, Künast und Özdemir kandidierten? Natürlich ist die Situation hypothetisch, da Cem Özdemir ja bereits seinen Verzicht angedeutet hat. Aber gleichwohl: Gäbe es dann zwei getrennte Urwahlen, eine für Männlein, eine für Weiblein? Was passierte in einer Situation, in der Trittin, Roth und Özdemir kandidierten? Wäre Claudia Roth dann gesetzt, während die beiden Herren sich einer Urwahl um den freien Platz stellen? Oder wäre in dieser Situation nicht eigentlich klar, dass das Spitzenduo Roth/Özdemir lauten muss, um beiden Quotenvorgaben – nach Lager und Geschlecht – überhaupt gerecht werden zu können? Statistiker würden nämlich davon sprechen, dass bei der (Aus-)Wahl und den gegebenen Vorgaben schlicht keine „Freiheitsgrade“ mehr bleiben, es gibt nur eine Lösung in diesem Fall.

Letztlich könnte die Möglichkeit einer Urwahl zur Folge haben, dass schon im Vorfeld intern ein Tableau abgestimmt wird, dass eine Urwahl überflüssig macht. Denn nur so ließ sich mitunter das Einhalten beider Quoten garantieren. Die Möglichkeit einer Urwahl macht sie selbst überflüssig quasi.

Direkt- und repräsentativdemokratische Verfahren folgen nun einmal unterschiedlichen Logiken, die mitunter in Konflikt zueinander stehen. Das heißt nicht, dass eine Form zwingend der anderen überlegen ist. Aber sie sind anders. Dessen sollte man sich bewusst sein, bei der Auswahl von Spitzenpersonal, bei der Auswahl von Bundespräsidenten, aber auch bei direkter Beteiligung der Bürger an Gesetzgebungsverfahren. Wer glaubt, man könne mal eben ein bißchen direkte Demokratie einbauen, zugleich aber alles Althergebrachte (und mitunter Geschätzte) behalten, der irrt.

 

Im Zug

Gestern in der Deutschen Bahn. Ein Fahrgast schräg gegenüber muss nachzahlen und grummelt zum Schaffner: „Andere zahlen nichts und fahren umsonst in Urlaub.“ Darauf der Schaffner, ein gemütlicher Berliner, trocken: „Beschweren Sie sich bei Frau Merkel!“ Der gesamte Waggon lacht.

 

Wulffs Präsidentenfeier mit exklusivem Service

Am 30. Juni 2010 wurde der CDU-Politiker Christian Wulff im dritten Wahlgang zum zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Am Abend richtete der Eventmanagner Manfred Schmidt, ein professioneller Kuppler von Politikern, Wirtschaftsleuten und Prominenten aller Art, für den vormaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten in seiner „exklusiven“ Penthouse-Residenz am Pariser Platz 4a mit „unverstelltem Blick“ auf Brandenburger Tor und Reichstag eine Siegesfeier aus.

Die erste Frage lautet: Wieso organisierte Schmidt für Wulff diese Jubelparty? Eine reine Nettigkeit unter Freunden? Oder womöglich eine Gefälligkeit als Dank für Gefälligkeiten, die Wulff ist seinem bisherigen Amt dem umtriebigen Geschäftsmann und „Partykönig“ erwiesen hatte?

Die zweite Frage lautet: Wieso feiert ein deutsches Staatsoberhaupt seine Wahl ins höchste Amt der Republik in einer „Eventlocation“, für die der Veranstalter Schmidt auf der Website seiner Firma folgendermaßen wirbt: „Nutzen auch Sie das Privileg eines erstklassigen Escortservices Ihrer Geschäftskunden und einer vorbildlichen Security. Drei separate Eingänge ermöglichen eine paparazzisichere Anfahrt und höchste Diskretion. In der Residenz am Pariser Platz können Sie einen hochexklusiven Event ungestört von der Öffentlichkeit genießen.“

 

Hallo Schloss Bellevue: Noch jemand da?

Lange nichts mehr gehört von Christian Wulff. Was macht er wohl so? Staatsbesuch bei den Scheichs, Sternsinger-Empfang, Neujahrsempfang – alles vorbei. Und jetzt?

Berater haben dem Bundespräsidenten offenbar empfohlen, erst mal auf Tauchstation zu gehen. Wulff entzieht sich der Medienmeute und dem Volk. Bis die ganze Sache vergessen ist.

Die Strategie scheint aufzugehen: Medien berichten mangels nennenswerter neuer Aufreger in der Causa Wulff nur noch über läppische Kleinigkeiten: hier ein geschenktes Bobby-Car für den Präsidenten-Nachwuchs, da ein Wiesn-Upgrade im Bayerischen Hof, dort doch Mitwirkung an der Sponsorensuche für eine Veranstaltungsreihe namens Nord-Süd-Dialog (hat nichts mit der Dritten Welt zu tun wie ehedem unter Willy Brandt). Ziemlich kleines Karo also. Und geeignet, bei Lesern das Gefühl zu wecken: Den Medien ist wirklich jedes Mittel recht, um Wulff zur Strecke zu bringen. Und bei manchem Journalisten wie Parteifreund macht sich offensichtlich Resignation breit: Der Mann sitzt das einfach aus!

Der CDU hat die leidige Affäre in den Umfragen bislang nicht geschadet, anders als dem Bundespräsidenten. Und Merkels bekannte Strategie des Abwartens hat sich wieder einmal bewährt. Bis jetzt, jedenfalls.

Dass Wulff vorerst verschwunden ist, fällt dabei nicht weiter auf. Er war ja schon vor seiner Affäre kaum sichtbar. Oder, wie der Satire-Kollege Hans Zippert schon vor Weihnachten in der Welt über den Bundespräsidenten schrieb: „Wulff schafft das Amt ab, indem er es ausübt.“

 

Große Koalition an der Saar, oder was nun?

Die Parteien sind schon dabei, die Weichen für 2013 zu stellen: Im Saarland möchte die Bundes-SPD nach dem Ende des Jamaika-Bündnisses, als neueste Variante, allenfalls eine Koalition mit der CDU auf begrenzte Zeit. Denn die Führungsgenossen im Willy-Brandt-Haus wissen, dass Große Koalitionen in aller Regel bei den nächsten Wahlen dem Juniorpartner mehr schaden. Und das wäre im Moment die SPD.

Deshalb drängt die strategisch vorausdenkende Generalsekretärin Andrea Nahles auf möglichst baldige Neuwahlen im kleinsten Bundesland. Die SPD liegt nämlich in Umfragen dort derzeit (noch) vorne und kann daher hoffen, nach einer Art Übergangsregierung mit der CDU künftig den Ministerpräsidenten zu stellen – egal in welcher Konstellation.

Der Landesvorsitzende Heiko Maas dagegen möchte eine Neuwahl eigentlich meiden: Er ist schon zweimal als Spitzenkandidat gescheitert (2009 an den Grünen, die sich statt für Rot-Rot-Grün für Jamaika entschieden) und fürchtet, eine dritte Niederlage wäre sein politisches Ende. Daher möchte er lieber die Chance ergreifen, jetzt wenigstens Vize und „Superminister“ unter der CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer zu werden. Nach dem Motto: Besser der Spatz in der Hand…

Die Linie gibt aber ganz offensichtlich nicht er vor, sondern die Parteizentrale in Berlin. Und die hat aus den eingangs genannten Gründen – mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 – kein Interesse, ein Signal für Schwarz-Rot zu senden. Sondern, wenn schon, für Rot-Schwarz.

An einer Großen Koalition wird die SPD an der Saar allerdings wohl so oder so nicht vorbeikommen, auch nicht nach Neuwahlen. Denn Oskar Lafontaine, der Landesfraktionschef und immer noch un-heimliche Vorsitzende der Linken, hat klargestellt, seine Partei stehe für ein rot-rot-grünes Bündnis nicht mehr zur Verfügung. Auch er will offenkundig für 2013 schon mal ein Zeichen setzen. Seine Rache an der SPD, seiner alten geliebt-gehassten Partei, währt ewig.

All das bestätigt meine Prognose: 2013 wird es auch im Bund wahrscheinlich nur um die Frage gehen: Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz, Merkel oder Steinbrück/Steinmeier/Gabriel.

 

Ein Senior als neuer Bundespräsident?

Das Thema Wulff lässt uns nicht los. User haben mich auf einen neuen Gedanken gebracht: Vielleicht ist unser Bundespräsident ganz einfach zu jung für das Amt. Ihm fehlt ganz augenscheinlich die notwendige Reife, die Abgeklärtheit und Distanz zu sich selbst, die man oft erst mit dem Alter erwirbt. Er ist – trotz schwieriger Jugend in einfachen Verhältnissen und obwohl er lange brauchte, um in Niedersachsen nach oben zu kommen – offensichtlich vom Leben nicht gehärtet.

Daher der Vorschlag, auch von einigen Usern: Präsident sollte künftig ein gereifter Nicht- oder Nicht-mehr-Politiker sein, so wie einst „Papa“ Heuss oder Richard von Weizsäcker. Einer oder eine, der oder die viel durchlebt hat, der anderes kennt als nur Parteigeschacher. Der das Amt des Staatsoberhaupts, das wie kein anderes von der Person lebt, nicht als Highlight einer Politikerkarriere betrachtet, sondern als Herausforderung, als Pflicht, auch als Last. Der es nachdenklich und klug ausfüllt, mit fröhlicher Gelassenheit, so wie Gustav Heinemann, ein zu unrecht vergessener, für mich großer Bundespräsident.

Sicher: Auch ein höheres Alter wäre keine Garantie, dass ein Nachfolgekandidat ein guter, ein besserer Präsident würde. Aber manches spricht dafür, wie schon ein Blick auf die Reihe unserer Bundespräsidenten. Und auch ein Blick ins Ausland zeigt, dass gealterte, gar greise Männer (oder Frauen) an der Spitze des Staates oft erst über die Würde und Stärke verfügen, die es manchmal braucht: In Italien hat der 86-jährige Ex-Kommunist Giorgio Napolitano kraft seiner persönlichen Integrität sein Land im vergangenen Jahr durch eine schwere Krise geführt, als Silvio Berlusconi es an den Rand des wirtschaftlichen und politischen Ruins gebracht hatte.

Deshalb sollten die Verantwortlichen, wenn es womöglich demnächst, spätestens aber 2015 um einen Nachfolger für Christian Wulff geht, darüber nachdenken, ob man diesmal nicht jemanden auswählt wie den früheren SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel (85) – oder eben Joachim Gauck (71). Beide haben sich seit langem vom Klein-Klein und den Machtspielen des politischen Alltags verabschiedet oder waren nie richtig darin verwickelt. Sie kennen den Krieg noch (Vogel als Wehrmachts-Unteroffizier) und wirklich harte Zeiten. Beide verfügen über die persönliche Autorität, die in diesem Amt und in diesen Zeiten notwendig wäre. Beide wären mit Sicherheit unbequeme, bisweilen störrische Präsidenten. Aber nach meiner Ansicht gerade deshalb eine Wohltat – für das Land und für unsere Demokratie.

 

Vorhersagemodel sagt Obamas Wiederwahl im Herbst voraus

Die Vorwahlen in New Hampshire sind vorüber. Während sich das Feld der Präsidentschaftskandidaten der Republikaner in den nächsten Wochen weiter ausdünnen wird kann sich der amtierende amerikanische Präsident schon heute auf seine Wiederwahl einrichten, weil er alle republikanischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im November diesen Jahres schlagen wird. Diese Einsicht verdanken wir keiner Kristallkugel, sondern einem statistischen Vorhersagemodell, das sogenannte Primary Model, was mein Kollege Helmut Norpoth, Professor für Politikwissenschaft an der Stony Brook University in New York entwickelt hat. Damit war er mal wieder der erste der akademischen Kollegen, der sich 2012 mit dieser Prognose aus der Deckung wagt.

Das außergewöhnliche an seinem Modell ist, daß es bereits jetzt schon Vorhersagen zum Ausgang der Präsidentschaftswahlen im November ermöglicht. Erwartungsgemäß werden viele Prognosen ja genauer, je näher man sich dem Ereignis nähert. Man denke nur an den Wetterbericht fürs kommende Wochenende. Sein Primary Model hat jedoch den Gewinner nach Stimmen der US amerikanischen Präsidentschaftswahlen seit 1996 immer richtig vorhergesagt.

Wie kann man das beinahe 10 Monate vorher bereits wissen? Sind die Wahlkämpfe nicht entscheidend und ist es gar nicht wichtig, wer gegen wen antritt? Regelmäßige Leser dieses Blog wissen, warum wir in der Wahlforschung den Ausgang von Wahlen vorhersagbar können, selbst wenn die entsprechenden Umfragen schwanken.

Norpoths Primary Model schafft diese Aufgabe, indem es sich die Regelmäßigkeiten der Vorwahlergebnisse von Präsidentschaftskandidaten der Republikaner wie der Demokraten systematisch ausnützt, die seit 1912 verzeichnet sind. In einem statistischen Modell ermöglichen diese Ergebnisse – neben weiteren längerfristig wirksamen Faktoren – hinreichende genaue Prognosen über das zu erwartende Stimmergebnis für unterschiedliche Kandidatenkonstellationen.

Die besten Chancen für die Republikaner im Herbst hat nach diesen Modellprognosen dabei noch Mitt Romney, der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts. Sollte Romney seinen Erfolg von New Hamshire fortsetzen und sich aufmachen, die Vorwahlen der Republikaner zu gewinnen, würde Obama ihn mit 53.2 zu 46.8 Prozent schlagen. Obama würde sogar zwischen 56 und 57 Prozent der Stimmen gewinnen, die entweder für die Demokraten oder die Republikaner abgegeben wurden, wenn der republikanische Kandidat doch noch Paul, Huntsman, Gingrich oder Santorum heißen würde.

Neugierig? Mehr dazu (allerdings in English) unter:
Norpoth, Helmut (2004), „From Primary to General Election: A Forecast of the Presidential Vote,“ P.S. Political Science and Politics, XXXVII, 4, 737-740.