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Große Koalition an der Saar, oder was nun?

Die Parteien sind schon dabei, die Weichen für 2013 zu stellen: Im Saarland möchte die Bundes-SPD nach dem Ende des Jamaika-Bündnisses, als neueste Variante, allenfalls eine Koalition mit der CDU auf begrenzte Zeit. Denn die Führungsgenossen im Willy-Brandt-Haus wissen, dass Große Koalitionen in aller Regel bei den nächsten Wahlen dem Juniorpartner mehr schaden. Und das wäre im Moment die SPD.

Deshalb drängt die strategisch vorausdenkende Generalsekretärin Andrea Nahles auf möglichst baldige Neuwahlen im kleinsten Bundesland. Die SPD liegt nämlich in Umfragen dort derzeit (noch) vorne und kann daher hoffen, nach einer Art Übergangsregierung mit der CDU künftig den Ministerpräsidenten zu stellen – egal in welcher Konstellation.

Der Landesvorsitzende Heiko Maas dagegen möchte eine Neuwahl eigentlich meiden: Er ist schon zweimal als Spitzenkandidat gescheitert (2009 an den Grünen, die sich statt für Rot-Rot-Grün für Jamaika entschieden) und fürchtet, eine dritte Niederlage wäre sein politisches Ende. Daher möchte er lieber die Chance ergreifen, jetzt wenigstens Vize und „Superminister“ unter der CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer zu werden. Nach dem Motto: Besser der Spatz in der Hand…

Die Linie gibt aber ganz offensichtlich nicht er vor, sondern die Parteizentrale in Berlin. Und die hat aus den eingangs genannten Gründen – mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 – kein Interesse, ein Signal für Schwarz-Rot zu senden. Sondern, wenn schon, für Rot-Schwarz.

An einer Großen Koalition wird die SPD an der Saar allerdings wohl so oder so nicht vorbeikommen, auch nicht nach Neuwahlen. Denn Oskar Lafontaine, der Landesfraktionschef und immer noch un-heimliche Vorsitzende der Linken, hat klargestellt, seine Partei stehe für ein rot-rot-grünes Bündnis nicht mehr zur Verfügung. Auch er will offenkundig für 2013 schon mal ein Zeichen setzen. Seine Rache an der SPD, seiner alten geliebt-gehassten Partei, währt ewig.

All das bestätigt meine Prognose: 2013 wird es auch im Bund wahrscheinlich nur um die Frage gehen: Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz, Merkel oder Steinbrück/Steinmeier/Gabriel.

 

Wulff kurz vor dem Ende

In der Daueraffäre Wulff kippt die Stimmung in der CDU und der Unionsfraktion, wie von mir in diesem Blog schon in der vergangenen Woche prognostiziert. Vor allem in seinem CDU-Heimatverband Niedersachsen geht die Angst um, Wulff könne ihnen – wenn er im Amt bleibt – im nächsten Jahr bei der Landtagswahl die Mehrheit kosten. Ähnlich dürfte es in Schleswig-Holstein sein, wo schon in diesem Frühjahr gewählt wird. Deshalb wächst der Druck auch auf Angela Merkel

Man kann und sollte die jüngsten Äußerungen der Kanzlerin und ihres Sprachrohrs Peter Altmaier daher als Ultimatum an den Bundespräsidenten verstehen: Wenn er jetzt nicht ganz schnell sein Versprechen einlöst, alle verbliebenen Ungereimtheiten aufzuklären, dann war es das.

Merkel verliert die Geduld. Für Christian Wulff ist es 2 vor 12.

 

 

Wulff klebt am Amt. Na und?

Viele Bürger, Leser und Debattenteilnehmer zur Causa Wulff auch in diesem Blog stellen – oft empört oder entsetzt – die Frage: Kann dieser Bundespräsident wirklich auf seinem Posten bleiben? Trotz seines vielfältigen, offenkundigen Versagens, das er in dieser Affäre unter Beweis gestellt hat?

Andere meinen: Wäre das so schlimm? Haben wir, hat unser Land nicht viel gravierendere Sorgen und Probleme als die Frage, ob ein medioker Politiker seinem Amt – einem gar nicht so bedeutenden – gewachsen ist?

Noch anders gewendet: Wäre es eine Staatsaffäre, wenn Christian Wulff nicht gehen müsste? Weil die Kanzlerin und ihre Koalition, aber auch die Opposition im Moment offensichtlich kein Interesse an seiner Ablösung haben. Und weil die Aufregung über Wulff und sein Krisengebaren langsam abebbt und sich die Medien wieder anderen Themen zuwenden. Wie das so ist, wenn eine Affäre lange dauert und keine Konsequenzen zeitigt.

Oder würde es vielmehr eine Staatskrise bedeuten, wenn Wulff schließlich doch noch zurückträte, als zweiter Bundespräsident binnen eineinhalb Jahren nach Horst Köhler?

Nein, eine Staatskrise wäre das sicherlich nicht. Im Gegenteil. Unser politisches System würde dann zeigen, dass es in der Lage ist, mit solchen Skandalen umzugehen und einen unfähigen, überforderten Politiker aus seinem Amt zu entfernen. Die Bundesversammlung würde rasch einen Nachfolger wählen, einen hoffentlich überparteilichen und besseren; Angela Merkel wäre leicht beschädigt (ist sie jetzt schon), weil es ihr Präsident ist, ihr zweiter; die Republik würde diese minder bedeutende Affäre alsbald vergessen.

Wenn. Wenn aber Wulff weiter an seinem Sessel klebt (was ihm gar nicht zu verdenken ist: Viele andere Politiker täten das auch und haben es getan – weil sie meist ja nichts anderes haben) und niemand diesen Präsidenten von seinem Amt befreit, dann, so ist zu befürchten, droht der Demokratie tatsächlich eine weitreichende neuerliche Erschütterung. Weil das in den Augen vieler Bürger den Argwohn verstärkte, dass unser politisches System seiner Funktion eben nicht mehr gerecht wird, sich selbst zu reinigen.

Erst die Finanz- und Eurokrise. Dann Guttenberg. Jetzt Wulff: Man stelle sich mal vor, es ginge um die Kanzlerin, also jemand wirklich bedeutenden, mächtigen. Aber Wulff ist ja „nur“ Bundespräsident. Gott sei Dank.

 

Blues statt Reggae: Jamaika ade

Jamaika war einst ein Kifferparadies, Reggae-Heimat von Bob Marley, Zufluchtsort für Abenteurer. Später beflügelte Jamaika auch politische Phantasien: Die Landesfarben der Karibikinsel, schwarz-gelb-grün, standen nun für Union + FDP + Grüne – ein neues Koalitionsmodell, das das fest gefügte Parteiensystem aufsprengen und lagerübergreifende Bündnisse ermöglichen sollte.

Vor allem der CDU schien diese bunte Kombi ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft: die beiden bürgerlichen Parteien zusammen mit den bürgerlicher gewordenen Grünen – das sollte die Möglichkeit eröffnen, selbst dann zu regieren, wenn es für Schwarz-Gelb (oder Schwarz-Grün) nicht reicht. Ein Gegenmodell zu Rot-Rot-Grün. Und eine weitere Antwort auf das zunehmend zersplitterte deutsche Parteiengefüge.

Zusätzlicher Vorteil für die CDU: Wäre die Ökopartei erst einmal aus dem rot-grünen Lager herausgebrochen, würde es für die SPD schwieriger, ihrerseits Koalitionen zusammen zu bekommen. Zumal sich die Sozialdemokraten mit der Linkspartei nach wie vor schwer tun.

Das Kalkül schien aufzugehen: 2009 entschieden sich die Grünen im Saarland gegen ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis und für ein Zusammengehen mit CDU und FDP. Das Experiment konnte beginnen.

Nun ist die Hoffnung der CDU zerstoben. Der erste Probelauf einer christdemokratisch-liberal-ökologischen Zusammenarbeit ist nach nur gut zwei Jahren kläglich gescheitert: Wegen Regierungsunfähigkeit nicht etwa der Grünen, sondern der an der Saar besonders desolaten FDP ließ CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer das Bündnis platzen.

Nun könnte man die misslungene Premiere von Jamaika im kleinsten Bundesland als Randnotiz in bewegter Zeit abtun. Aber die Entwicklung im Saarland ist symptomatisch für das strategische Dilemma der CDU: Während die SPD in den Ländern mal mit den Grünen, mal mit der CDU oder der Linkspartei und in Hamburg sogar allein regiert, bleiben der Partei der Kanzlerin nur zwei Optionen: Schwarz-Gelb oder Große Koalition. Da die 2009 noch so starke FDP inzwischen auf das Niveau einer Splitterpartei geschrumpft ist und Besserung für Philipp Röslers Truppe nicht in Sicht ist, hat Angela Merkel mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 jedoch im Grunde nur eine Perspektive: Sie muss die SPD für sich gewinnen.

Wobei noch unklar ist, ob dann Schwarz oder Rot stärker sein wird und damit den nächsten Kanzler stellt.. Über eine andere Option verfügt Merkel aber faktisch nicht mehr.

Denn zugleich haben sich die politischen Lager wieder verfestigt. Spielten CDU und Grüne nach der Wahl 2005 noch eine Weile mit dem Gedanken an Schwarz-Grün – die CDU aus Abneigung gegen die damalige Große Koalition, die Grünen aus Verdruss über die SPD, mit der sie sieben Jahre im Bund regiert hatten –, so haben sich solche Überlegungen spätestens seit dem Scheitern von Schwarz-Grün in Hamburg und dem Debakel an der Saar erledigt: Die Grünen stehen wieder fest an der Seite der SPD.

Selbst die parteiübergreifende Wahl eines neuen Bundespräsidenten als Nachfolger für den affärengeplagten Christian Wulff würde daran wohl nichts ändern: Die Grünen werden einem von der CDU nominierten Kandidaten nur zustimmen, wenn auch die SPD mit im Boot ist. Für Merkel wäre damit nichts gewonnen.

Die Kanzlerin kann nur beten, dass der Niedergang der Liberalen durch ein politisches Wunder doch noch gestoppt wird. Und ansonsten darauf hoffen, dass die SPD trotz aller Probleme von Schwarz-Gelb weiterhin nicht über 30 Prozent hinauskommt – und die Union nicht noch darunter sackt. Sicher ist dies angesichts der Pleite mit Merkels zweitem Bundespräsidenten und der absehbaren Niederlage der CDU bei der Wahl in Schleswig-Holstein im Frühjahr nicht.

Jamaika ist passé. Für 2013 heißt das vermutlich: Rot-Grün oder Große Koalition. Sollten die Piraten in den Bundestag einziehen und die Linkspartei trotz ihrer Führungs- und Richtungskrise im Parlament bleiben, spricht nach jetzigem Stand vieles für Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz. Denn für Rot-Grün wird es dann wahrscheinlich nicht reichen.

Es wird wieder farbloser in der deutschen Politik.

 

Die Kanzlerin bleibt auf Distanz

Angela Merkel hat gesprochen, nach anderthalb Tagen des Abwartens, wohin sich in der Affäre Wulff die Stimmung der Öffentlichkeit wendet. Sie habe „große Wertschätzung für Christian Wulff als Mensch und für Christian Wulff als Bundespräsidenten“, lässt sie durch ihren Regierungssprecher Thomas Seibert am Freitagnachmittag ausrichten.

Man lese das Statement der Kanzlerin genau: Jedes Wort ist mit Sicherheit sorgfältig abgewogen. Kein „vollstes Vertrauen“ (mehr), wie noch am 19. Dezember, als die Affäre ziemlich am Anfang stand. Eine „dunkelgelbe Karte“ nennt man so etwas im Fußballdeutsch. Soll sagen: Wenn jetzt noch eine Sache kommt und der Bundespräsident nicht auch „auch alle weiteren relevanten Fragen“ zur Zufriedenheit aufklärt, dann könnte Schluss sein.

Merkel möchte nicht die Königsmörderin sein. Auch weil es „ihr“ Präsident ist, der zweite nach Horst Köhler, der womöglich gehen muss. Und weil sie ahnt, dass sie einen dritten derzeit wohl kaum durch die Bundesversammlung bekäme.

Deshalb bleibt sie vorsichtig – und auf Distanz. Eine Rückendeckung für Wulff ist das jedenfalls nicht. Und wer Merkel kennt, weiß: Wenn es darauf ankommt, ist sie eiskalt. Bevor es ihr selber noch mehr schadet. Deshalb bereitet sie – verbal wie faktisch – vorsichtshalber schon mal die Nachfolge vor (wie man heute lesen kann).

PS: Ob die Kanzlerin das mit der „Offenheit und Transparenz“ der Präsidenten wirklich so gemeint hat? Nach Wulffs Weigerung, seinen Mailbox-Anruf bei Bild-Chef Kai Diekmann offen zu legen und der dürren Erklärung seiner Anwälte?

 

Ergänzung vom Samstag: Bild prüft nun angeblich juristisch, ob das Blatt trotz Wulffs Nein den Wortlaut seines Anrufs öffentlich machen kann/darf. Dann würde sich wohl endgültig zeigen, ob er die (Un)wahrheit gesagt hat. Und dann träte vermutlich Merkels Plan B (s.o.) in Kraft: ein rascher, möglichst überparteilicher Nachfolge-Kandidat oder eine Kandidatin. Als Signal auch für eine schwarz-rote oder schwarz-grüne Koalition nach der Bundestagswahl 2013.

Die neuerdings, neben anderen, gehandelte grüne Kandidaten-Kandidatin Katrin Göring-Eckardt – Ex-DDR-Bürgerrechtlerin, Vizepräsidentin des Bundestags und Präsidentin der evangelischen Synode, mit besten Kontakten zur Kanzlerin – wäre sicher eher ein Signal Merkels in Richtung Grüne. Aber für die SPD, wie für die CDU, wahrscheinlich auch wählbar, weil breit anerkannt.

Dann stünde, als Folge der Wulff-Affäre, womöglich am Ende eine zweite Frau aus dem Osten an der Spitze des Staates. Eine sehr junge (Göring-Eckardt ist erst 45) und zweifache Mutter zudem. Das wäre ja nicht das Schlechteste!

Bundespräsidenten-Wahlen haben in der Vergangenheit schon mehrfach zur Vorbereitung neuer Koalitionen gedient (siehe Heuss, Heinemann, Köhler). Selbst eine Präsidentenkrise könnte nun dafür genutzt werden. Über Wulff ist die Zeit offensichtlich längst hinweggegangen…

 

Das war’s, Herr Wulff

Politische Affäre nehmen für gewöhnlich einen erwartbaren Verlauf: Erst kommt eine Sache hoch, die einen bisher vermeintlich „sauberen’“ Politiker ins Zwielicht setzt. Der Politiker leugnet oder zeigt sich keiner Schuld bewusst. Dann kommen immer mehr Fragwürdigkeiten ans Tageslicht, weil nun weitere Medien die Spur aufnehmen. Der betroffene Politiker gibt in einer Salamitaktik immer nur das zu, was schon bekannt ist, beharrt aber darauf, gegen kein Gesetz verstoßen zu haben.

Schließlich tritt er, wenn der Druck zu groß wird, vor die Öffentlichkeit und gibt sich reumütig. Damit hofft er, den Brand austreten zu können. Parteifreunde fordern daraufhin ein Ende der Debatte, „aus Rücksicht auf das Amt“, und werfen den Medien eine „Hetzjagd“ vor, obwohl die nur ihrer Pflicht nachgehen, die Öffentlichkeit aufzuklären. Und so weiter und so fort.

Am Ende aber stürzt der Angegriffene. Nicht über seine tatsächliche oder vermeintliche Verfehlung. Sondern über seinen Umgang mit der Affäre. Und weil es selbst treuen Partei- und Koalitionsfreunden irgendwann zu viel ist und sie bei einem Fortgang Schaden für ihre Partei/Koalition fürchten.

So war es zuletzt im Fall Guttenberg. Und so wird es auch im Fall Wulff wohl bald sein.

Ungewöhnlich und erstaunlich selbst für einen, der schon viele Affären erlebt hat, ist jedoch in diesem Fall das Ausmaß an politischer Instinktlosigkeit und Skrupellosigkeit, das Christian Wulff an den Tag legt. Denn nun kommt heraus, dass der Bundespräsident offenbar auch noch versucht hat, die Veröffentlichung des Skandals um seinen Hauskredit und die Annahme sonstiger Gefälligkeiten vermögender Wirtschaftsfreunde mit allen Mitteln zu verhindern – durch Druck auf die Bild-Zeitung und deren Chefredakteur Kai Diekmann.

Genau dieses könnte in dieser Affäre das „Zu-viel“ sein: Ein Bundespräsident, der als vormaliger niedersächsischer Ministerpräsident das Landesparlament beschummelt hat; der die Öffentlichkeit noch immer hinters Licht führt und der Medien zu erpressen versucht, ist nicht haltbar. Denn er schädigt das Ansehen der gesamten politischen Klasse.

In den Augen vieler Bürger verstärkt Wulff mit seinem Verhalten das Bild, das alle Politiker „so sind“: raffgierig, skrupellos, nur auf den eigenen Vorteil bedacht.

So aber sind Politiker längst nicht alle. Die meisten von ihnen sind – bis zum Beweis des Gegenteils – politisch integer. Sie handeln am Gemeinwohl oder zumindest dem Interesse ihrer Partei orientiert und sind nicht nur auf den eigenen materiellen Vorteil bedacht.

Christian Wulff jedoch, das zeigt sich immer mehr, ist ganz offenkundig das Gegenteil davon. Sein Anruf bei Diekmann, sollte er tatsächlich so stattgefunden haben, offenbart, wie Wulff wirklich tickt: Er versuchte, eine Berichterstattung zu verhindern, in der es um Verfehlungen ging, die er später selbst einräumte. Er drohte mit einem Strafantrag, obwohl die Fakten der Kreditgeschichte stimmten. Und das verrücktest: Er hinterließ all dies auf Diekmanns Mailbox. Ein zorniger, tumber Dorfschultheiss mag sich so verhalten können, ein Bundespräsident nicht. Er wird zum Schaden für dieses Land.

Wulff sollte daher, wenn er diesen Schaden abwenden will, wie er es im Amtseid geschworen hat, einsehen, dass seine Stunde geschlagen hat – und gehen. Nicht (nur), weil es sein hohes Amt gebietet. Sondern weil er politisch-moralisch gefehlt hat.

Wenn Wulff aber uneinsichtig bleibt, müssen ihm seine Parteifreunde und die Kanzlerin klar machen, dass er nicht länger tragbar ist. Sonst wird die Provinzaffäre dieses politischen Emporkömmlings zum Sprengsatz auch für sie.

Diesen Text haben wir inzwischen auch auf der Homepage von ZEIT ONLINE veröffentlicht. Bitte weitere Diskussionsbeiträge und Kommentare dort posten. 

 

Die SPD und der Wunsch nach einem allseits beliebten Kandidaten

Seit einigen Wochen schon wird in der SPD die Idee von „Primaries“ nach amerikanischem Vorbild diskutiert. Dies wäre die offene Selektion des Spitzenkandidaten durch die Parteibasis. An dieser Stelle soll einmal dargelegt werden, welche Konsequenzen eine solche Auswahl des Spitzenpersonals haben könnte. Die Qualitäten, die ein erfolgreicher Kandidat bzw. eine erfolgreiche Kandidatin mit sich bringt, hängen nämlich unter anderem von der Art ihrer Selektion und Rekrutierung ab! (vgl. Römmele 2004).

An der Selektion der Kandidaten wird häufig gemessen, wie offen und demokratisch der gesamte Prozess der Kandidatenaufstellung abläuft und inwiefern innerparteiliche Demokratie gesichert ist. Das eine Extrem ist sicherlich die Selektion der Kandidaten unmittelbar durch die Wähler. Eine die Parteien und ihre Mitglieder stärkende Mittelposition ist die Selektion über die Parteimitglieder. Eine sehr geschlossene Form der Selektion wäre die Ernennung durch die Parteispitze.

Interessant ist, dass es auch im internationalen Vergleich sehr häufig keine klaren festgelegten Richtlinien und Regeln gibt, nach denen dieser Vorgang ablaufen soll. Kollegen bezeichneten diesen Vorgang einmal als „secret garden of politics“ (vgl. Gallagher/Marsh 1998) – und das ist es auch!

Bei der Kandidatenselektion über Parteimitglieder finden sich im internationalen Vergleich zahlreiche Variationen: In Belgien finden wir Parteien, in denen Parteimitglieder mit einer bestimmten Parteizugehörigkeitsdauer an dem Prozess der Kandidatenselektion besteiligt sind. In Israel wählen alle Parteimitgleider ihren Kadidaten sowie ihren Parteiführer aus. Auch in der Bundesrepublik gab es bereits Versuche, die Kandidatenselektion offener zu gestalten. So wagte die SPD im Vorfeld der Bundestagswahl 1994 das Experiment, den Parteivorsitzenden durch alle Parteimitglieder wählen zu lassen. Rudolf Scharping setzte sich in einer Urwahl gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch und wurde in der Folge auch Kanzlerkandidat der SPD. In jüngster Vergangenheit hat die SPD in Baden-Württemberg ebenfalls mittels einer Urwahl Nils Schmid zum Vorsitzenden gewählt, auch er wurde danach Spitzenkandidat für die Landtagswahl.

Eine geschlossene Selektion liegt vor, wenn der Kandidat von einem Gremium oder der Parteiführung ernannt wird. Auch hier zeigt die Empirie eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Fällen. So finden wir beispielsweise in Großbritannien Parteigremien, welche die Möglichkeit haben, Kandidaten zu ernennen bzw. zu blockieren. Die Parteimitglieder der Liberal Democrats selektieren ihre Kandidaten, die Parteiführung hat allerdings das letzte Wort hierüber. Die Frage nach den Kanzlerkandidaten in der Bundesrepublik lässt sich ebenfalls eher am „geschlossenen“ Ende des Kontinuums festmachen: Zwar werden die Kanzlerkandidaten auf einem Bundesparteitag formal ernannt; allerdings wird die Frage, wer Kandidat werden soll, in informellen Gesprächen in der Parteispitze mit einem festen Blick auf die Umfragewerte geklärt.

Welche Qualitäten haben aber nun Politiker, die auf den unterschiedlichen Wegen in Spitzenämter kommen? Sicherlich ist es so, dass Politiker, die sich schon früh den Wählern (und somit auch den Medien) in Primaries stellen müssen, eine gewisse Kommunikations- und Dialogfähigkeit besitzen müssen. Ihre Sympathie- und Popularitätswerte sind die Währung, die zählt. Sie müssen in einer offenen Wahl letztendlich nicht nur ihre eigenen Parteimitglieder überzeugen sondern auch mögliche Wechselwähler. Dies ist in Zeiten schwindender Parteimitgliederzahlen sowie sinkender Parteiidentifikation sicherlich ein überdenkenswerter Ansatz. Der gewählte Kandidat hat auch über die Parteigrenzen hinweg Zugkraft und Wahlkampf-Potential. Qualitäten von Politikern, die eher geschlossen rekrutiert, d.h. im „strengsten Fall“ von der Parteispitze ernannt werden, sind andere. Sie müssen sich – zumindest in diesem Stadium – nicht den Wählern stellen; sie legen ihr Expertenwissen in die Waagschale, ihre politische Vernetzung, ihr ganzes parlamentarisches und parteipolitisches Know-how.

Blicken wir nun für einen Augenblick auf die deutsche Empirie: Im aktuellen ZDF-Politbarometer liegt der SPD-Vorsitzende Gabriel mit einem Beliebtheitswert von 0,3 deutlich hinter seinen beiden Parteikollegen Steinbrück (1,6) und Steinmeier (1,3). Auf die Frage, mit welchem Kanzlerkandidaten die SPD die besten Chancen habe, nennen 36% der Befragten Steinmeier, 33% Steinbrück und nur 13% Gabriel. Dass dies kein reines SPD-Phänomen ist, zeigt ein Blick auf die vertretenen Unions-Politiker: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ist mit einem Wert von 0,9 unbeliebter als ihre Parteifreunde Schäuble (1,4) und de Maizière (1,3); CSU-Chef Horst Seehofer erreicht mit 0,3 ebenfalls keinen überzeugenden Wert.

Vielleicht sollte man nicht gleich die Lanze für amerikanische Primaries brechen, Umfragewerte sind schließlich in erster Linie Momentaufnahmen. Allerdings legen die Zahlen zumindest nahe, den automatischen Zugriff des Pateivorsitzenden auf die Kanzlerkandidatur in Frage zu stellen.

Ein weiteres empirisches Argument dafür liegt in den jüngsten Wahlergebnissen: Wenn sich der derzeitige Trend fortsetzt und die „Volksparteien“ zugunsten der kleineren Parteien nachhaltig an Wählerpotenzial einbüßen, werden sich die Fälle häufen, in denen Koalitionen über Lagergrenzen hinweg geschmiedet werden müssen. Spitzenkandidaten müssen dann umso mehr auch integrativ wirken und im besten Fall zum Fixpunkt einer Koalition werden, die von der Parteibasis eher als Kompromiss denn als Wunschehe gesehen wird. Insofern liegt die SPD durchaus richtig mit ihrer Diskussion…

Literatur:

Gallagher, Michael/Marsh, Michael (Hrsg.) (1998). Candidate Selection in Comparative Perspective. The Secret Garden of Politics. London: Sage Publiciations.

Römmele, Andrea (2004). Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik, Heft 3, S. 259-276.

 

Attraktive Kandidaten haben es leichter – bei Wählern und Journalisten

Vor kurzem berichtete das Handelsblatt darüber, dass gutaussehende Kandidaten bei Wahlen systematisch besser abschnitten als weniger attraktive Mitbewerber. Hübsche Menschen haben es also nicht nur auf dem Heiratsmarkt, vor Gericht und auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in der Politik vergleichsweise leicht. Zur Erklärung wird auf gut belegte Ergebnisse der Attraktivitätsforschung hingewiesen. Demnach schenken Wahlberechtigte hübschen Kandidaten mehr Aufmerksamkeit, schreiben diesen vorteilhafte Eigenschaften zu und sehen ihnen Fehltritte leichter nach als weniger ansehnlichen Bewerbern.

Es erscheint schlüssig, dass Menschen bei der Beurteilung von Politikern denselben Stereotypen unterliegen wie in anderen Situationen. Allerdings kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass Bürgern bei der Wahlentscheidung die äußere Erscheinung von Kandidaten so präsent ist wie etwa bei der Partnerwahl oder der Personalauswahl. Bei Hinterbänklern im Deutschen Bundestag ist das nicht selbstverständlich, erst recht nicht bei manchem Kandidaten kleiner Parteien. Man kann nicht einmal sicher sein, dass alle Bürger im Wahlkampf die Gesichter von Kandidaten auf Wahlplakaten so aufmerksam wahrnehmen, dass sie mit Bewerbernamen einen bestimmten Attraktivitätseindruck verbinden. Wenn sich aber nicht alle Bürger ein Bild vom Äußeren der Bewerber machen, wie kann man sich dann erklären, dass hübsche Kandidaten überdurchschnittlich gut abschneiden?

Eine Antwort kann in den Medien liegen. Medienberichte beeinflussen unsere Vorstellungen von der Realität, auch unsere Urteile über Kandidaten. Wenn attraktive Bewerber in der Berichterstattung besonders wegkommen und Bürger sich auf dieser Grundlage ihre Meinung bilden, könnte sich physische Attraktivität für Kandidaten selbst dann als Vorteil erweisen, wenn kein einziger Wahlberechtigter einen Bewerber zu Gesicht bekäme. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Journalisten eine angenehme äußere Erscheinung in ihrer Berichterstattung belohnen.

Dieser Frage sind wir in einer Untersuchung am Beispiel von sechs Tageszeitungen vor der Bundestagswahl 2005 nachgegangen. Dabei stellte sich zweierlei heraus. Zum einen gewähren Journalisten hübschen Kandidaten einen Aufmerksamkeitsbonus. Allein wegen der äußeren Erscheinung wurden über den schönsten Kandidaten in unserer Untersuchung während der letzten sechs Wochen vor der Wahl 35 Berichte mehr veröffentlicht als über den am wenigsten ansehnlichen Bewerber. Zum anderen wurde über hübsche Kandidaten deutlich wohlwollender berichtet als über weniger gutaussehende Bewerber. Physische Attraktivität beschert Kandidaten also einen doppelten Bonus. Dieser Bonus kann dazu beitragen, das überdurchschnittlich gute Abschneiden gutaussehender Kandidaten zu erklären.
Journalisten scheinen also denselben Wahrnehmungsmustern zu folgen wie andere Menschen. Warum sollte es auch anders sein? Schließlich sind auch Journalisten Menschen. Es gibt freilich einen kleinen, aber feinen Unterschied: Journalisten beeinflussen mit ihrer Berichterstattung die Vorstellungen vieler Menschen. Und so mag man den medialen Attraktivitätsbonus für wenig erstaunlich halten, ohne ihn deshalb als beruhigend zu empfinden.

Literatur
Marcus Maurer und Harald Schoen, 2010: Der mediale Attraktivitätsbonus. Wie die physische Attraktivität von Wahlkreiskandidaten die Medienberichterstattung in Wahlkämpfen beeinflusst, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 62, 277-295.

 

Agenda Setting und Soziale Medien – Der Fall Guttenberg(s)

von Stefan Collet

Die politische Bühne Berlins hat einen Politikstar weniger, nachdem Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg gestürzt ist. Gestürzt ist er dabei zunächst über das Heer der Wissenschaftler und Intellektuellen, am Ende jedoch über seine eigenen Ansprüche, über vermeintlich adelige Tugenden wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit – und über das Internet. Denn ohne den Dauerbeschuss über Facebook, Twitter und Guttenplag Wiki wäre es nicht in der Schnelligkeit zum Absturz des ehemaligen Verteidigungsministers gekommen. Unterschätzt hat Guttenberg aber nicht nur die Schwarmintelligenz aus der Online-Welt, sondern auch die geballte Kraft der „klassischen“ Medien, die die Kritik an die oberste Stelle ihrer Medienagenda transportiert haben.

Der Fall Guttenberg wirft wieder einmal die Frage auf, welches Potenzial die Sozialen Medien als Agenda Setter besitzen. Ein Blick auf Parallelen zu den Affären um Wikileaks oder den stark netzwerkbasierten Initiativen bei der Online-Petition gegen die Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt in Deutschland 2009 sowie der Studentenproteste „Unibrennt“ in Österreich 2009 scheint die Frage von selbst zu beantworten. Und auch bei den revolutionären Umstürzen in Nordafrika Anfang 2011 hatten Youtube und Twitter die zentrale Funktion, zusätzliche Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit zu erregen und den Protest aus der Offline-Welt auf die Straße zu tragen. All diese Fälle zeichnen sich mehr oder weniger durch einen Dreiklang aus, der notwendige Bedingung für das Agenda Setting von sozialen Netzwerken ist: eine hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und die Erregung von kreisender Aufmerksamkeit (siehe dazu die Ausführungen von Peter Kruse im Deutschlandradio). Dieser Dreiklang führt zusammen genommen zu einem großen Resonanzboden in der Netzwelt.

Entscheidend ist jedoch, ob die klassischen Medien diesen Resonanzboden aufgreifen (müssen), ihn auf ihrer Medienagenda nach oben setzen und dadurch wiederum stark die Publikumsagenda (Relevanzliste politischer Themen der Bevölkerung) beeinflussen. Diese kausalen Zusammenhänge lassen sich am Awareness-Salience-Priorities-Modell von Shaw und McCombs (1977; vgl. auch Maurer 2010) veranschaulichen: Zunächst werden Rezipienten durch die Medienberichterstattung auf ein Thema aufmerksam (Awareness). Mit zunehmender Intensität der Berichterstattung steigt das Thema auch auf der Prioritätenliste in der Publikumsagenda auf und konkurriert vorerst mit anderen Themen (Salience), bis es sich von ihnen abhebt und exakt die Rangfolge der Medienagenda widerspiegelt (Priorities). Aus diesem Zusammenspiel von Medienagenda und Publikumsagenda resultiert dann ein Agenda-Setting-Effekt.

Abbildung 1: Awareness-Salience-Priorities-Modell nach Shaw und McCombs 1977 (eigene Darstellung)

Im Fall Guttenberg – und auch mehr oder weniger in den anderen oben genannten Fällen – ist genau das geschehen: Guttenplag Wiki und der offene Brief der ca. 30.000 Doktoranden an Frau Dr. Angela Merkel hätten nicht diese öffentliche Aufmerksamkeit erzielt, wenn die klassischen Medien diese beiden online-basierten Bewegungen nicht aufgesogen, nicht kanalisiert und sie dadurch nicht nach und nach auf der Publikumsagenda nach oben getrieben hätten. Hinzu kam ein Gelegenheitsfenster, das sich öffnete, da Guttenberg einerseits durch die Bundeswehraffären angezählt war und andererseits durch seinen unbedachten Umgang mit der Hauptstadtpresse diese zusätzlich gegen sich aufbrachte. Um erfolgreiches Agenda Setting aus den Sozialen Medien heraus betreiben zu können, genügt es also nicht, nur auf die Masse der User zu setzen (vgl. Schmidt 2009). Deutlich wird dies an dem Online-Hype, der unmittelbar nach dem Rücktritt Guttenbergs zu beobachten war: Innerhalb kürzester Zeit schossen die Unterstützerzahlen der Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ in die Atmosphäre – am Tag des Rücktritts kamen im Minutentakt 1000 neue hinzu. Mittlerweile vereint die Gruppe über 580.000 Guttenberg-Anhänger und kann damit eine ungleich größere Vernetzungsdichte als die mittlerweile ca. 65.000 Doktoranden für sich reklamieren. Und auch an hoher Spontanaktivität mangelt es nicht, schaut man sich bspw. den Versuch der Guttenberg-Fangemeinde an, den Tagesschau-Server lahmzulegen oder in der realen Welt in 20 Städten Deutschlands für den Baron zu demonstrieren.

Was ihr aber fehlt: Das Gelegenheitsfenster und die zusätzliche Erregung von Aufmerksamkeit beim Publikum und den klassischen Medien, die nur den Rücktritt und seine Folgen analysierten und mittlerweile eher neutral und vereinzelt über die Vorgänge in der Netzwelt berichten. Außerdem bietet die große Pro-Guttenberg-Community kein issue mehr an, das vom Mediensystem stark nachgefragt wird. Und letztlich wird nach dem Rücktritt Guttenbergs aufgrund von fehlender Awareness auch in den Köpfen der Bevölkerung Platz für neues geschaffen und so verschwindet das Thema auch wieder rasch von der Publikumsagenda – und es wird wieder über die Aufstände in Libyen, das Biosprit-Debakel und Germany’s Next Topmodell berichtet.

Literatur:

Maurer, Marcus (2010): Agenda Setting, Nomos, Baden-Baden.

Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Shaw, D. L. and McCombs, M.E. (1977): The Emergence of American Political Issues: The Agenda-Setting Function of the Press. St. Paul: West.

Der Autor:

Stefan Collet arbeitet als Research Associate an der Hertie School of Governance zum Thema Politikberatung. Sein Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre absolvierte er an der Philipps-Universität Marburg und der Stellenbosch University South Africa. Er ist Mitinitiator des Politjournals 360°.

 

Eine schädliche Unglaubwürdigkeit

von Johannes Staemmler

Johannes Staemmler

Der Plagiatsfall zu Guttenberg zeigt nicht nur die beschleunigte Wahrheitsfindung mit Hilfe des Internets sondern auch, wie fragil Vertrauen im demokratischen System ist. Eine missratene wissenschaftliche Qualifizierungsarbeit aus dem Füller eines Ministers schadet der Demokratie.

Der Vorwurf der unlauteren Verwendung fremden geistigen Eigentums durch den Promovenden zu Guttenberg ist seit dem 16. Februar 2011 öffentlich. Innerhalb von wenigen Tagen haben Hunderte mit Hilfe des Internets unzählige nicht zitierte Textteile gefunden und im Guttenplag Wiki zusammengetragen. Ein punktuelles Versehen beim Verfassen der Dissertation kann ausgeschlossen werden. Die Offenlegung der Wahrheit ist weitestgehend durch Bürger geschehen und das Internet war das probate Mittel (siehe dazu ausführlich Shirky 2009).

Eine ähnliche Kraft entwickelten die aktiven Netznutzer durch das vielfache und vehemente Kommentieren des Radiobeitrags von Bundespräsident Köhler 2010, der sich zum Einsatz deutscher Soldaten auf Handelsrouten geäußert hatte. Die Herstellung von Öffentlichkeit nahm auch hier ihren Ursprung in der dezentral organisierten aber wachen Netzwelt. Sie war der Anlass eines unvorhersehbaren Rücktritts.

Innerhalb weniger Tage musste nun der Bundesminister seine Aussage korrigieren, ihm sei ein einzelner Irrtum beim Verfassen seiner Dissertation unterlaufen. Er ist bereit, seinen Titel zurückzugeben. Profis aller Couleur machen diesen strategisch-kommunikativen Fehler, Verfehlungen erst dann zugeben, wenn sie längst öffentlich sind. Die Universität Bayreuth, die selbst einen erheblichen Reputationsschaden erlitten hat, wird über die rechtlichen Konsequenzen befinden müssen. Über die politischen wird weiter debattiert.

In den ersten Affairentagen wurde angenommen, dass die Fehler des Ministers ausgiebig ausgebreitet werden würden in der Hoffnung, den adligen Hoffnungsträger auf mediales und moralisches Normalmaß einzudampfen. Dies ist aber nur im Rahmen von Pressebeiträgen und Debatten unter Wissenschaftlern der Fall gewesen, deren Glaubwürdigkeit auch zur Debatte steht. Der per Umfrage ermittelte Zuspruch zum Minister durch die Bürger ist ungebrochen hoch.

Vielmehr scheint ein anti-elitärer Reflex Minister zu Guttenbergs politisches Leben zu verlängern. Wie Max Steinbeis auf carta.info richtig analysiert, reagiert eine nicht unerhebliche Anzahl von Bürgern mit Sympathiebekundungen für den Minister, die seinen Kritikern vorwerfen aus niederen (also rein akademischen und publizistischen) Beweggründen gegen ihn zu hetzen. Einem athenischen Marktplatz ähnelnd wird bei Facebook das Stimmwirrwarr strukturiert und die breite Unterstützerscharr sichtbar. Die sozialen Medien dienen auch denen, die um die politische Zukunft des Bundesministers bangen.

Der medial und kommunikativ erfahrene Bundesminister zu Guttenberg läuft Gefahr, auf einer populären Welle über eine persönliche Krise zu reiten, die in Wirklichkeit das gesamte politische System betrifft. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen steht zur Debatte. Charismatische Führung kann und darf Integrität nicht aufwiegen. Auch wenn die öffentliche Meinung es anders bewertet, schadet Herr zu Guttenberg dem gesamten demokratischen System durch seine weitere Anwesenheit als Minister. Das Vertrauen in die politischen Institutionen samt ihrem Personal ist ein prekäres Gut, auf welches die Demokratie nicht verzichten kann. Nur dem politischen Personal zu vertrauen und die Institutionen zu vernachlässigen wäre fatal. Demokratie zehrt von institutionellem Vertrauen und der Aufrichtigkeit der Mehrzahl ihrer Bürger, die sie aber selbst nicht erzwingen kann (vgl. Böckenförde 1976). Dafür kann sie ein Minister leicht zerstören, der zwar charismatisch aber nicht integer ist.

Quellen:

Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976) Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt.

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.