Lesezeichen
 

Mehr Demokratie wagen? Nein, wir haben schon genug…

Diese Forderungen sind populär und es verwundert nicht, dass auch Horst Köhler direkt nach seiner Wiederwahl in dieses Horn stößt: Man solle doch bitte schön den Bürger (noch) mehr entscheiden lassen: Der Bundespräsident solle demnächst direkt gewählt werden und die Bürger sollten bitte schön auch in anderen Fragen direkt entscheiden dürfen – ein Plädoyer für Volksbegehren, Volksentscheide und dergleichen.

Warum eigentlich? Unsere parlamentarische Demokratie bietet den Bürgern viele Möglichkeiten der Partizipation. Auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten können sie am politischen Prozess teilhaben: regional, lokal und europäisch sowie auf unterschiedliche Themen und Formate bezogen. In den letzten Jahren ist es der Politik jedoch immer weniger gelungen, Bürger hierfür zu begeistern. Austritte aus den Parteien und wenig Wahlbeteiligung – insbesondere auch auf kommunaler Ebene – waren die Folgen. Wie es in knapp zwei Wochen um die Wahlbeteiligung in Europa stehen wird, werden wir sehen.

Dies hat jedoch nichts mit einer mangelnden Engagement-Bereitschaft der Bürger zu tun. Aus der Sozialkapitalforschung wissen wir, dass Bürger durchaus bereit sind, sich zu engagieren – etwa im Sportverein, im Chor oder im Kindergarten. Schon einige wenige Zahlen verdeutlichen die Partizipationsbereitschaft der Deutschen: 6,5 Millionen Mitglieder zählt allein schon der Deutsche Fußball-Bund, knapp 500.000 Menschen sind ehrenamtlich im katholischen Wohlfahrtsverband der Caritas tätig und eine Allensbach-Umfrage aus dem letzten Jahr schätzt, dass ca. jeder fünfte Deutsche ehrenamtlich tätig ist.

Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht ein Mangel an Partizipationsmöglichkeiten. Es muss vielmehr die Aufgabe der Politik in den nächsten Jahren sein, das vorhandene Partizpationspotential auszuschöpfen. Die Bürger müssen den Weg vom Fußballplatz zurück in die Politik finden und verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun hat…

 

10 Dinge, die Sie schon immer über die Wahl des Bundespräsidenten wissen wollten

Am Samstag, den 23. Mai 2009, findet die 13. Bundesversammlung statt. Ihr alleiniger Zweck ist es, das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, den Bundespräsidenten, zu wählen. Hier zehn Dinge, die Sie schon immer über die Wahl des Bundespräsidenten und die Bundesversammlung wissen wollten:
 

» Der Präsident der ersten Bundesversammlung hieß Köhler (er war – wie immer – zugleich der Präsident des Bundestages).
» Die erste Bundesversammlung 1949 war zugleich auch die kleinste, 804 stimmberechtigte Mitglieder versammelten sich damals in Bonn; die Bundesversammlung 1999 war die bislang größte: 1.339 Mitglieder.
» Die SPD stellte bislang nur einmal die stärkste „Fraktion“ in der Bundesversammlung – 1999 mit 566 Mitgliedern (gegenüber 547 Mitgliedern von CDU/CSU).
» In der Bundesversammlung 1974 waren nur drei „Fraktionen“ vertreten: CDU/CSU mit 501, SPD mit 470 und FDP mit 65 Mitgliedern. Es gab kein einziges Mitglied, das von einer anderen Partei entsandt wurde.
» Die FDP ist 2009 erstmals seit 15 Jahren wieder drittstärkste Kraft in der Bundesversammlung.
» CDU/CSU hatten in den Bundesversammlungen 1979 und 1984 eine eigene absolute Mehrheit.
» Bei der Wahl 1954 wurde SPD-Mitglied Alfred Weber – gegen seinen Willen – von der KPD vorgeschlagen. Er erhielt 12 Stimmen. Zu den Kandidaten gehörte auch Konrad Adenauer, er erhielt eine Stimme. Wiedergewählt wurde Theodor Heuss mit 85,6 Prozent der Stimmen – das beste Ergebnis bisher. Er war damit sogar besser als Richard von Weizsäcker, der 1984 ohne Gegenkandidaten mit 84,9 Prozent wiedergewählt wurde.
» 1959 wurde Heinrich Lübke zum Bundespräsidenten gewählt – im zweiten Wahlgang. Zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang hatte es dabei keine Änderungen der Kandidatenlage gegeben, es gab jeweils drei Kandidaten (neben Lübke noch Carlo Schmid (SPD) und Max Becker (FDP)). Identisch war das Szenario 1999: Johannes Rau wurde im zweiten Wahlgang zum Bundespräsidenten gewählt (gegen Dagmar Schipanski und Uta Ranke-Heinemann).
» Obwohl es 1969 nur zwei Kandidaten gab (Gustav Heinemann (SPD, vorgeschlagen von SPD und FDP) und Gerhard Schröder (CDU, vorgeschlagen von CDU und CSU)), waren trotzdem drei Wahlgänge nötig. Aufgrund von Enthaltungen, ungültigen und nicht abgegebenen Stimmen hatte zunächst keiner der beiden Kandidaten die nötige absolute Mehrheit der Mitglieder der Versammlung erreicht. Auch im dritten Wahlgang erreichte Heinemann nur 49,4 Prozent der Stimmen – ab diesem Wahlgang reicht allerdings die einfache Mehrheit.
» Richard von Weizsäcker und Johannes Rau unterlagen zunächst bei Bundesversammlungen (von Weizsäcker 1974 gegen Walter Scheel, Johannes Rau 1994 gegen Roman Herzog), um dann von einer späteren Bundesversammlung (1984 bzw. 1999) gewählt zu werden.

 

Mit halber Kraft ins Europaparlament

Stelle dir vor, es ist Wahl – und kaum einer bekommt es mit. Dies ist aus demokratietheoretischer wie politikpraktischer Sicht ein Horrorszenario. Schließlich sollten Wahlkämpfe nicht nur möglichst viele Wähler mobilisieren, sondern vor allem zur kollektiven Selbst-Verständigung und zum Austausch zwischen den politischen Eliten und dem Volk beitragen.

In diesem Licht betrachtet muss den deutschen Parteien für den vergangenen Europawahlkampf ein schlechtes Zeugnis ausgestellt werden. Schließlich nahm nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten an der Wahl teil (siehe hierzu auch die früheren Beiträge zu diesem Thema), vor allem fühlte sich aber die Mehrheit der Bürger (und vor allem der Nichtwähler) nicht ausreichend über die Wahl informiert und verfolgte auch in deutlich geringerem Maße die Berichterstattung über den Wahlkampf als bei der Bundestagswahl 2002 (vgl. Abbildung 1): 69 Prozent der Deutschen haben anlässlich der Bundestagswahl 2005 Berichte dazu im Fernsehen gesehen, anlässlich der Europawahl 2004 waren es nur 33 Prozent.

Abbildung 1: Wahlkampfinvolvierung im Vergleich

Zurückzuführen ist diese geringe Wahlkampfinvolvierung der Bürger zunächst auf eine bestenfalls als „flüchtig“ zu bezeichnende Wahlkampfberichterstattung: So bezogen sich, nach Auswertungen des Medien Tenors, im Wahljahr 2004 nur zwei Prozent der Nachrichtenbeiträge der sieben großen Fernsehanstalten und der überregionalen Printmedien auf die EU-Wahl – also nur jeder 50ste Beitrag. Damit rangierte Deutschland nicht nur EU-weit an letzter Stelle, sondern das Ausmaß der Berichterstattung lag deutlich unter der Wahrnehmungs- und Erinnerungsschwelle von durchschnittlich an EU-Politik interessierten Bürgern.

Die Berichterstattung selbst und der Gesprächsstoff, der den meisten Bürgern 2004 fehlte, reflektierten jedoch nicht zuletzt in hohem Maße die kommunikativen Stimuli, die die Parteien damals (wie auch bei vorangegangenen Europawahlkämpfen) kaum boten. So verdeutlichte eine vergleichende Analyse der Parteienkampagnen zur Europawahl 2004 und zur Bundestagswahl 2005 das Ausmaß der „Nebensächlichkeit“, mit denen die politischen Kontrahenten die EU-Wahl bestritten.* Diese hatte ihren Ursprung in einer finanziellen Unterausstattung: So füllten die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien 2004 ihre Wahlkampfkassen gerade einmal halb so voll wie zur darauf folgenden Bundestagswahl (29 Mio. vs. 62 Mio. Euro). Nur der FDP gelang es damals, mit einer auf ihre Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin zugespitzten Kampagne überdurchschnittliche Medienresonanz zu erzielen. Ansonsten galt für die Parteien 2004 anscheinend das Motto „Mit halber Kraft voraus!“.

Abbildung 2: Wahlkampfbudgets im Vergleich

Allein, der Europawahlkampf 2009 lässt diesbezüglich auf keine Trendwende hoffen. Eingebettet zwischen Bundespräsidenten- und (ressourcenschluckender) Bundestagswahl, in einer Zeit, in der die nationalen Folgen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise die Agenda bestimmen, konnten die Parteienkampagnen und die Medienberichterstattung über die anstehende EU-Wahl bislang nicht mehr als ein Hintergrundrauschen auslösen. So scheint sich rund zwei Wochen vor dem Wahltag das bekannte Szenario zu wiederholen: Stell dir vor, es ist (EU-)Wahl, und keiner bekommt es mit.

* Tenscher, Jens (2007): Professionalisierung nach Wahl. Ein Vergleich der Parteienkampagnen im Rahmen der jüngsten Bundestags- und Europawahlkämpfe in Deutschland. In: Brettschneider, Frank/Niedermayer, Oskar/Weßels, Bernhard (Hg.): Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 65-95.

 

Orientierung im Nebel

Europapolitik ist uninteressant? Die Parteien unterscheiden sich nicht? Abgesehen von einigen undurchsichtigen Regulierungen steht nichts auf dem Spiel? Diesen Vorurteilen möchte die Bundeszentrale für politische Bildung begegnen und ein sehr erfolgreiches Online-Instrument ist der „Wahl-O-Mat“: Anhand von kurzen und prägnanten Thesen können die Nutzer ihre politischen Positionen mit denen der Parteien vergleichen. Eine lautet beispielsweise: „In der EU sollen keine gentechnisch veränderten Lebensmittel produziert werden“, die Antwortmöglichkeiten sind stets „stimme zu“, „neutral“ und „stimme nicht zu“.

Der Thesenkatalog wird zunächst jeder Partei, die zur Wahl steht, zugeschickt. Anschließend können die Nutzer des Wahl-O-Mat zu ausgewählten Fragen Stellung nehmen und prüfen, welchen Parteien sie besonders nahe stehen. Allerdings möchte der Wahl-O-Mat nicht als Hilfe für die Wahlentscheidung verstanden werden. Vielmehr geht es darum, potenzielle Wähler zum Nachdenken und somit zur selbständigen Meinungsbildung anzuregen.

Der erste Wahl-O-Mat wurde zur Bundestagswahl 2002 gestartet, zur Europawahl 2009 ist nun seit gut einer Woche die elfte Auflage online. Die bisher erfolgreichste Version (zur Bundestagswahl 2005) wurde insgesamt 5,1 Millionen Mal genutzt – der Wahl-O-Mat ist also durchaus ein ernst zu nehmender Faktor im politischen Geschehen. Und angesichts der seither stetig steigenden Internetnutzung und renommierter Medienpartner darf für 2009 wohl mit neuen Rekordergebnissen gerechnet werden.

Zunächst sind Anfang Juni Europawahlen – und die haben in Deutschland ein Imageproblem. Dies zeigt nicht zuletzt die niedrige Wahlbeteiligung, über deren Ursachen auch in diesem Blog bereits diskutiert wurde. Für manche Kommentatoren ist das Fernbleiben von den Urnen schlichtweg rational, da sich die Parteien in den Augen der Wähler nicht deutlich unterscheiden. Ist dem aber wirklich so?

Zu dieser Frage kann die Entstehungsgeschichte des aktuellen Wahl-O-Mat Erkenntnisse beitragen: Die Redaktion hat in Zusammenarbeit mit Experten einen Katalog von ursprünglich 86 Thesen entwickelt. Davon konnten aber 48 nicht in die Auswertung aufgenommen werden, da sie nicht trennscharf waren und/oder von den befragten Parteien nicht unterschiedlich beantwortet wurden. Die sieben Parteien, die sich Hoffnungen auf den Einzug in Europäische Parlament machen dürfen (CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne, Linke und die Freien Wähler) stimmen in drei der verbleibenden 38 Fragen überein. In weiteren sechs Fällen gibt es keinen echten Konflikt, da manche Parteien eine neutrale Position haben, während die übrigen einer Meinung sind. Wirkliche Kontroversen gibt es somit also nur in 29 von ursprünglich 86 Fragen. Betrachtet man nur die beiden großen Parteien, CDU und SPD, so zeigt sich noch einmal deutlich mehr Übereinstimmung: In 19 der 38 Thesen stimmen sie überein, in acht weiteren hat eine der beiden Parteien eine neutrale Position. So bleiben am Ende nur elf wirkliche Kontroversen – von anfangs über 80 möglichen.

Was sagen diese Zahlen? Zunächst zeigt sich, dass die Parteien tatsächlich keine grundverschiedenen europäischen Kurse verfolgen – das war aber auch nicht zu erwarten. Jenseits der Übereinstimmungen bleibt aber eine Anzahl kontroverser Themen: Gentechnik, Agrarsubventionen, Atomkraft und Mindestlohn gehören dazu. Es gibt also eine recht übersichtliche Menge von Themen, in denen sich die Parteien deutlich unterscheiden, und jedes einzelne hat es in sich. Emotionalisierende Themen gepaart mit einer grundsätzlichen Übersichtlichkeit – eigentlich wären das ideale Voraussetzungen für einen spannenden Wahlkampf und eine hohe Wahlbeteiligung…

 

Die Steuersenkungsdebatte – Wegweisung oder Wahlkampftrick?

Die Union diskutiert ihre steuerpolitische Ausrichtung. Während die Kanzlerin Steuersenkungen vorschlägt, um so die kriselnde Konjunktur zu beleben, warnen Parteifreunde vor solchen Schritten. So haben sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich zu Wort gemeldet und gemahnt, keine Wahlversprechen zu geben, die nach der Bundestagswahl nicht eingehalten werden können. Damit treffen sie den Nerv vieler Wähler, denn die Skepsis gegenüber Vorschlägen, die zu Wahlkampfzeiten geäußert wurden, ist traditionell groß.

Ist dieses Misstrauen berechtigt? Der sozialwissenschaftliche „Klassiker“ zur Frage der Übereinstimmung von Wahlprogramm und Regierungspolitik ist eine Studie von Hans-Dieter Klingemann, Richard Hoffebert und Ian Budge aus den 90er-Jahren, deren Erkenntnisse bis heute als wegweisend gelten. Die Forscher ermittelten (u.a. anhand der Ausgabenpolitik von Regierungen), dass die Politik besser ist, als ihr Ruf. Deutschland zählt demnach im internationalen Vergleich zu den Staaten, in denen politische Entscheidungen nach einer Wahl in hohem Maße auf den Wählerauftrag zurückzuführen sind: Die Wähler haben den siegreichen Parteien ein Mandat erteilt und diese setzen ihre Programme um (die so genannte „Mandats-These“). In anderen Ländern (etwa Frankreich oder Großbritannien) gilt hingegen tendenziell eher die „Agenda-These“: Es ist weniger wichtig, welche Partei einen bestimmten Vorschlag formuliert hat – nach einer Wahl setzt der Sieger die prominentesten Vorschläge um.

Natürlich wird auch in Deutschland nicht jedes Wahlversprechen erfüllt und kaum ein Koalitionsvertrag spiegelt die Wahlprogramme der beteiligten Parteien exakt wider. Der allgemeine Trend ist aber eindeutig: Parteien halten sich an Ihre Versprechen und versuchen, ihre politischen Forderungen nach der Wahl umzusetzen. Dass sich dennoch der Eindruck hält, dass Politiker ihre Wähler täuschen, ist nicht zuletzt der Logik des politischen Prozesses geschuldet: Konsense und reibungslose Kompromisse erfahren nicht die selbe Beachtung wie politische Streitigkeiten. Die Opposition wird sich auf diese Probleme beziehen, wenn sie die Regierung attackiert, und auch innerhalb der Koalition sind die Partner stets um Profilierung bemüht – die nächste Wahl kommt bestimmt…

Nichtsdestotrotz ist den Parteien bezüglich der Einhaltung ihrer Wahlversprechen ein gutes Zeugnis auszustellen. Die Wahlprogramme sind so formuliert, dass die Umsetzung, sprich: Finanzierung, möglich ist. Dies ist auch Resultat der innerparteilichen Demokratie, die einem Programmbeschluss voraus geht und unrealistische bzw. unseriöse Forderungen zumeist frühzeitig stoppt. Insofern können die Einwände aus der Union durchaus als konstruktive Beiträge verstanden werden. Für Ministerpräsident Tillich, dessen Regierung im Sommer selbst zur Wahl steht, ist dies zudem eine gute Möglichkeit, an Profil zu gewinnen und sich von den politischen Wettbewerbern in Sachsen abzuheben. Dass die Kritik am Wahlkampf auf diesem Wege selbst zu einer wirkungsvollen Wahlkampfaussage werden kann, ist eine weitere Besonderheit des politischen Prozesses.

 

Europa: Wahlen zweiter Ordnung, schlecht dokumentiert

9. Mai – Europatag. Vor knapp 60 Jahren legte Frankreichs Außenminister Robert Schumann an diesem Tag die Grundlage der Montanunion, der Urform der heutigen Europäischen Union. Vieles hat sich seit dem getan: Die EU sich erweitert und vertieft, in immer mehr Politikfeldern Kompetenzen erhalten, ist demokratischer geworden. Ausdruck dessen sind die nächsten „Europatage“ vom 4. bis zum 7. Juni, wenn Europas Bürger zum siebten Mal aufgerufen sind, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt zu wählen.

Gleichwohl sind die Europawahlen auch Ausdruck der Probleme der EU (siehe dazu auch die bereits erschienenen Beiträge zu den Europawahlen auf Wahlen-nach-Zahlen): Die Bürger interessieren sich kaum dafür, entsprechend niedrig (und zunehmend niedriger!) fällt die Wahlbeteiligung aus, auch die Parteien widmen diesen Wahlen wenig Aufmerksamkeit: Christina Holtz-Bacha beschreibt den Europawahlkampf heute als „nur langweilig“ und „völlig ineffektiv“. Zumeist ist der Wahlkampf auch insofern daneben, dass weniger europäische Themen, sondern nationale Themen dominieren. Die Plakate der SPD sind ein gutes Beispiel dafür.

Konsens ist daher, die Europawahlen als „Nebenwahlen“, als „second-order national elections“ zu bezeichnen, wie es Karlheinz Reif und Hermann Schmitt schon 1980 getan haben: Medien, Wähler, Parteien – sie alle vernachlässigen die Europawahlen in einer immer wichtiger werdenden EU sträflich.

Peinlich ist aber, dass die EU selbst die Wahlen nicht ernst zu nehmen scheint. „Es gibt keine europäische Institution, die die amtlichen Europawahlergebnisse sammelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt“, sagt etwa Markus Tausendpfund vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Wer Ergebnisse der Europawahlen sucht, muss mühsam auf die Suche nach Sekundärquellen gehen – und stösst auf bemerkenswerte Dinge: „Erstens lassen sich immer wieder Unterschiede in den veröffentlichen Wahlergebnissen feststellen, und zweitens wird in den seltensten Fällen eine konkrete Quelle für die publizierten Daten genannt“, sagt Tausendpfund. So variiert beispielsweise der Prozentanteil der britischen Konservativen bei der Europawahl 1994 in der Fachliteratur zwischen 26,8 und 27,9 Prozent.
Um die offenkundig bestehenden Dokumentationsdefizite zu beseitigen haben Mannheimer Wissenschaftler die „Mannheimer Dokumentation der amtlichen Europawahlergebnisse 1979 bis 2004“ als Kompendium erstellt. Kann sich irgendjemand vorstellen, dass Ähnliches bei Bundestagswahlen nötig wäre?

Literatur
» Daniela Braun, Markus Tausendpfund: Mannheimer Dokumentation der amtlichen Europawahlergebnisse 1979 bis 2004: Tabellen zu den amtlichen Europawahlergebnissen, Mannheim 2007 (download)
» Markus Tausendpfund, Daniela Braun: Die schwierige Suche nach Ergebnissen der Wahlen zum Europäischen Parlament: Ein neuer Datensatz für die Wahlen 1979 bis 2004. Zeitschrift für Parlamentsfragen 39 (2008), S. 84-93

 

Europawahlen – reden wir noch einmal darüber!

Die Wahlen zum Europaparlament finden am 7. Juni statt. Aber wie viele Deutsche werden hingehen, fragte ich mich kürzlich in diesem Blog. Denn die Umfragergebnisse des Eurobarometers lassen befürchten, dass sich das Gros der Bundesbürger kaum mehr dafür interessieren wird als für die letzte Wasserstandsmeldung im Radio. Ich finde immer noch, das ist merkwürdig und erklärungsbedürftig zugleich. Denn zum einen wünscht sich eine relative Mehrheit der Deutschen mehr Kompetenzen für das Europaparlament. Zum anderen wirken sich europäische Entscheidungen immer stärker auf unser alltägliches Leben aus, und es ist ja eigentlich unser gutes demokratisches Recht, unsere „Bestimmer“ mit zu bestimmen. Wie lässt sich das erdrückende Desinteresse also verstehen? Oder anders gewendet: Warum sind die Deutschen zur Europawahl (nicht) motiviert? In den Blog-Kommentaren zu diesem Thema wurden zwei zentrale Erklärungsangebote gegeben.

Erstens wurde die unzureichende Medienberichterstattung über die EU genannt. Diese These ist im Zeitalter der Massenkommunikation erst einmal ziemlich plausibel. Denn das meiste, was wir heute über Politik erfahren und wissen, erfahren und wissen wir über die Berichterstattung in den Massenmedien. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir weniger über Politik erfahren und wissen, wenn nicht in Fernsehen, Radio und Zeitungen berichtet wird.

Tatsächlich belegen medienanalytische Untersuchungen zur vorangegangenen Europawahl 2004 – aber auch zur Euro-Einführung vor rund zehn Jahren – eine auffällige Zurückhaltung der Massenmedien, wenn es um die Europäische Union geht. Dennoch: Um damit die sinkende Wahlbeteiligung der Deutschen zu erklären, müsste wenigstens ansatzweise nachgewiesen werden, dass die Massenmedien zwischen Ende der 1970er und Anfang der 1990er Jahre, als noch deutlich mehr als die Hälfte der Deutschen bei den Europawahlen ihre Stimme abgaben, stärker und häufiger über europäische Themen berichtet haben als heute. Und selbst wenn dieser Befund zu untermauern wäre, erlaube ich mir trotzdem noch ein bisschen Skepsis. Denn mehr oder weniger implizit wird hier ja davon ausgegangen, dass Informationen bereits zum Urnengang motivieren. Das kann so sein, muss es aber nicht. Die Botschaft, die von den jeweiligen Informationen transportiert wird, ist Sache unserer Interpretation und kann für den einen positiv und den anderen negativ ausfallen, zum Handeln motivieren oder genau das Gegenteil auslösen, nämlich Abstinenz, Zurückhaltung und Verweigerung. Letzteres versucht uns zum Beispiel Spiegel-Journalist Gabor Steingart mit seinen öffentlichen Bekenntnissen eines Nichtwählers deutlich zu machen. Damit bleibt also weiterhin die wichtige Frage zu beantworten, was die Deutschen zur Teilnahme an der Wahl des Europaparlaments motivieren und was sie davon abhalten könnte.

Darauf wurde in den Blog-Kommentaren eine zweite, aufschlussreiche Antwort gegeben: Der Europäischen Union fehlt es an Herz und Seele. Was diese Überlegung aus meiner Sicht interessant macht, ist zum einen die damit verknüpfte Frage, wie stark sich die Deutschen mit der Europäischen Union als Schicksalsgemeinschaft identifizieren. Solange das Schicksal der EU in den Augen der meisten Deutschen nicht mit dem Schicksal ihres Landes verknüpft ist, solange etwa „deren“ Abgeordnete auch nicht als „unsere“ Abgeordneten wahrgenommen werden, solange wird sich die Auf- und Erregung bei der Auswahl jener Repräsentanten in Grenzen halten. Und es wird auch entsprechend wenig Motivation geben, in die Wahl von Leuten zu investieren, die gar nicht als diejenigen wahrgenommen werden, die „unsere“ Interessen in einem Repräsentationsorgan vertreten, dessen Entscheidungen Einfluss auf „unser“ kollektives Schicksal nehmen.

Zum anderen ist die Kritik an der herz- und seelenlosen EU aber nicht nur eine mögliche Erklärung für das verbreitete Desinteresse der Deutschen an europäischen Angelegenheiten, die Wahl zum Europäischen Parlament eingeschlossen. Es kann auch zu einem richtig großen Problem werden, wenn die Konsequenzen der als „kalt“ empfundenen, aber allgemeinverbindlichen europäischen Entscheidungen den Menschen immer stärkere Zumutungen und Belastungen abverlangen, die nur durch emotionale Gewissheiten ertragen und akzeptiert werden können. Das gilt vor allem dann, wenn Solidarität erwartet wird, also die Bereitschaft, zum Wohle anderer ein Stück vom eigenen Kuchen abzugeben.

Aus diesem Grund lohnt ein genauerer Blick darauf, wie sich die Bevölkerungszustimmung zur europäischen Integration in Deutschland entwickelt hat, um sie mit der Entwicklung der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen zu vergleichen. Und tatsächlich zeigt sich in der folgenden Abbildung, dass nicht nur die Wahlbeteiligung zwischen 1979 und 2004 deutlich zurück gegangen ist. Beinahe halbiert hat sich auch die so genannte Netto-Unterstützung (Differenz von positiven und negativen Antworten) für die europäische Integration, wenn die Befragten darüber Auskunft geben sollen, ob sie die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU für eine gute Sache halten.

Mit dieser Beobachtung ist natürlich kein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang belegt. Allerdings ließe eine wachsende Distanz zum europäischen Integrationsprojekt kaum erwarten, dass sich die Menschen künftig stärker mit Europa als Schicksalsgemeinschaft identifizieren und es deshalb auch als notwendig und selbstverständlich betrachten, sich an der Wahl ihrer Repräsentanten zu beteiligen. Das aber wirft eine ganze Reihe neuer Fragen auf.

 

Erwin Sellering, die Zweite

Über Erwin Sellerings Aussage zu den Schwächen, aber eben auch Stärken der früheren DDR habe ich an dieser Stelle schon einmal einige Zahlen geliefert. Am Wochenende hat Sellering seine Aussagen noch einmal bekräft – und mittlerweile gibt es auch noch neue Zahlen, die dazu passen. Im Allbus 2008 konnten die ostdeutschen Befragten (wieder einmal) angeben, ob sie sich mit der früheren DDR und ihren Bürgern verbunden fühlen. Das Ergebnis – für Ostdeutschland insgesamt, aber auch aufgeschlüsselt nach Bundesland – zeigt die folgende Grafik:

Zwei Drittel der Bürger fühlen sich demnach auch weiterhin mit der früheren DDR verbunden – in Mecklenburg-Vorpommern wird dabei der höchste Wert überhaupt erreicht: Für rund 75 Prozent der Bürger gilt dies dort. Die neuerlichen Aussagen des wahlkämpfenden Sellering sind vor diesem Hintergrund (weiterhin) verständlich.

 

Das Saarland sucht seine Mitte

Oskar Lafontaine ist seit Samstag offiziell Spitzenkandidat der saarländischen Linken – für die Bundestagswahl im September ebenso wie für die Landtagswahl im August. Und auch sonst deutet vieles darauf hin, dass die Wahl im Saarland eng mit der Bundestagswahl einen Monat später verwoben sein wird und von Saarbrücken aus wichtige Signale nach Berlin gesendet werden – gerade auch mit Blick auf das schwierige Verhältnis der SPD zur Linkspartei.

Bei der Wahl am 30. August könnte erstmals in einem westdeutschen Bundesland die Linkspartei vor der SPD landen, erstmals hat neben den Spitzenkandidaten der Volksparteien CDU und SPD noch eine dritte Person realistische Aussichten, Ministerpräsident zu werden. Eine aktuelle Emnid-Umfrage vom vergangenen Donnerstag hat ermittelt, dass die CDU derzeit auf 38 Prozent käme, SPD und Linke annähernd gleichauf bei 23 bzw. 22 Prozent lägen und auch FDP (8 Prozent) und Grüne (5 Prozent) in den Landtag einziehen würden. Es ist also vollkommen offen, ob es eine linke oder eine bürgerliche Mehrheit geben wird und welche der linken Parteien die stärkste werden wird.

Diese Sondersituation spiegelt sich auch im Wahlkampf wider: Man konnte zunächst den Eindruck gewinnen, dass sich auch die Parteistrategen noch nicht mit den besonderen Spielregeln dieser Schachpartie mit drei Königen angefreundet haben. Der Schwerpunkt der Bemühungen lag ganz klassisch auf der Mobilisierung des eigenen Lagers, man betrieb Selbstdefinition durch Abgrenzung (Heiko Maas gegenüber seinem politischen Ziehvater Lafontaine, die CDU gegenüber einem möglichen Linksbündnis). Das offensive Werben um Wähler aus der Mitte oder anderen Lagern schien dabei zeitweilig in den Hintergrund zu rücken. Solche Beobachtungen finden sich auch in der Parteiensystemforschung: Nach Giovanni Sartori setzen Parteien insbesondere dann auf die Mobilisierung des eigenen Lagers, wenn es viele relevante Parteien gibt und die politische Mitte der Gesellschaft somit zu eng zu werden droht. Im Falle des Saarlandes könnten dieses Jahr fünf Parteien in den Landtag einziehen, so viele wie seit über vierzig Jahren nicht mehr.

Schritt für Schritt beginnen die Saar-Parteien nun, auch außerhalb des eigenen Lagers um Stimmen zu werben. Einer der ersten Schauplätze hierfür ist die Bildungspolitik. Das ist nicht überraschend, da dies eines der zentralen Wahlkampfthemen sowohl der SPD als auch der Linkspartei ist – dementsprechend müssen sich hier auch Ministerpräsident Peter Müller und die CDU erkennbar positionieren. Ein interessantes Beispiel ist die Maßnahme der Regierung zur Entlastung der Studierenden, indem das Land die Zinsen auf Studiengebührendarlehen übernimmt. Natürlich geht dieser Schritt den Gegnern von Studiengebühren noch nicht weit genug. Viele Studentinnen und Studenten werden sich aber über diese Unterstützung freuen, die auch von Befürwortern der Studiengebühren mitgetragen werden kann – aus Wahlkampfperspektive also eine gelungene Kombination aus Öffnung zur Mitte und Berücksichtigung der Interessen der Anhängerschaft. Die SPD hat nachgelegt und prangert unter anderem in einem aktuellen YouTube-Clip die Schulpolitik der Regierung Müller an:

Zugleich wendet sich aber auch ihr Spitzenkandidat Heiko Maas in einem anderen, viel beachteten Spot an die politische Mitte, in dem er in landesväterlicher Manier die Heißsporne Müller und Lafontaine zur Vernunft ruft. Auch die SPD übt also den Spagat, der sich daraus ergibt, dass man zum einen die eigenen Anhänger bedienen und zum anderen als Volkspartei für alle wählbar sein möchte.

Einzig die Linkspartei bewegt sich nicht erkennbar auf die Mitte zu – sie verweist auf bereits bestehende Übereinstimmungen mit der SPD und scheint überdies zu hoffen, dass ihr die Mitte entgegen kommt. Dies ist nicht unplausibel: Kurz vor der Wahl werden die Kandidaten und damit auch der populäre Oskar Lafontaine im Mittelpunkt stehen, zudem wird aktuellen Vorhersagen zufolge die Wirtschaftskrise im Sommer endgültig in Deutschland ankommen und die Arbeitslosenzahlen steigen lassen. Vielleicht setzt dann der lange erwartete Schub für die Linkspartei ein, der Unentschlossene überzeugen und die politische Mitte des Saarlandes erneut verschieben könnte.

 

Europawahlen paradox

Am 7. Juni sind Europawahlen. Aber wie viele Menschen werden sich dafür extra auf den Weg ins Wahllokal machen? Noch vor wenigen Monaten hatten laut der letzten Herbstbefragung des Eurobarometer 57 Prozent der Deutschen gar keine Ahnung davon, dass 2009 ein neues Europaparlament gewählt wird. Und 54 Prozent der Befragten meinten, dass sie das sowieso nicht interessiert. Kein Wunder also, dass auch nur 36 Prozent von ihnen versicherten, am 7. Juni das Europaparlament definitiv mitwählen zu wollen. 36 Prozent! Vorausgesetzt, es käme so, wäre das für Deutschland noch einmal ein Rückgang der Wahlbeteiligung auf Europaebene um 7 Prozentpunkte.

Diese Ergebnisse erscheinen paradox. Denn im Herbst 2007 waren laut Eurobarometer 47 Prozent der Deutschen der Meinung, dass in der EU das Europaparlament die meisten Entscheidungsbefugnisse haben sollte, und 48 Prozent wollten ihm eine größere Rolle zugestehen. Wenn das so ist, warum unterstützen die Menschen das Europäische Parlament dann nicht mit der Abgabe ihrer Stimme?

Eine Standardantwort der Europaforscher darauf ist, dass die Menschen wohl nicht den Eindruck hätten, dass bei den Europawahlen viel auf dem Spiel stehe. Schließlich wird ja nicht einmal eine richtige Regierung gewählt. Wozu dann der Stress? Ganz ähnlich hat es auch Jens Tenscher kürzlich in einem Beitrag zu diesem Blog gesehen. Da gibt es nur ein Problem: An der ersten Europawahl 1979 haben sich noch zwei Drittel der Deutschen beteiligt und an den darauf folgenden drei Europawahlen bis einschließlich 1994 eine klare Mehrheit. Vor dreißig Jahren gab es auch keine europäische Regierung zu wählen. Außerdem hat das Europaparlament seither seine Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten im europäischen Entscheidungssystem systematisch ausgebaut. Gemessen an diesem Bedeutungszuwachs für das europäische Repräsentationsorgan steht bei den Europawahlen heutzutage recht viel und eigentlich immer mehr auf dem Spiel. Das gilt umso stärker, je mehr Politikbereiche der nationalen Alleinverantwortung entzogen und an die europäische Ebene delegiert werden.

Das Europäische Parlament wird also immer mächtiger – aber für wen eigentlich? Und woran liegt es denn nun, dass es so vielen Menschen vollkommen egal ist, wann Europawahlen sind und welche Abgeordnete sie „nach Europa“ schicken?