Der Staat unterstützt Bedürftige. Nicht so in Belarus. Die „Parasitensteuer“ verpflichtet Arbeitslose jetzt, extra Abgaben zu zahlen. Ein Rückfall in finstere Zeiten
Am 13. Januar 1964 wurde der Schriftsteller Joseph Brodsky wegen Parasitentums verhaftet. Nach dreiwöchiger psychiatrischer Begutachtung wurde er zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt und mit mehreren Schwerverbrechern in eine Strafkolonie überführt. 1991, in den letzten Monaten der UdSSR, löste das Gesetz „Über den Beschäftigungsstand der Bevölkerung“ den sowjetischen Parasiten-Ukas ab und legalisierte den Arbeitslosenstatus.
Im April 2015, 24 Jahre nachdem der vom Präsidium des obersten Sowjets der UdSSR erlassene Parasiten-Ukas kassiert worden war, unterzeichnete der Präsident der postsowjetischen Republik Belarus, Alexander Lukaschenko, das Dekret Nr. 3 „Über die Vorbeugung des Sozialschmarotzertums“. Das Dekret sagte all jenen den Kampf an, die über kein geregeltes Einkommen verfügten und deshalb keinen „Beitrag zur Finanzierung von Staatsausgaben“ leisten.
Nein, die Schmarotzer sollen nicht zum Holzfällen nach Sibirien geschickt werden. Die „Parasiten“ werden einfach dazu verpflichtet, jährlich 180 Dollar Steuern an den Staat zu entrichten. Nichtarbeitende Menschen ohne jedes Einkommen sind nun verpflichtet, Staats-, Polizei- und KGB-Beamte zu finanzieren (die Ausgaben für das Militär sind in Belarus höher als die für medizinische Versorgung und Bildung zusammen).
Die Veröffentlichung des Dekrets sorgte für erheblichen Unmut, der sich in Gesellschaften, in denen offener Protest wegen befürchteter Strafverfolgung nicht infrage kommt, wie üblich in Tausenden wütenden Kommentaren in den sozialen Netzwerken äußerte. Wiederum nach dem üblichen Muster ließ die Regierung anderthalb Jahre ins Land gehen, bis sich der Unmut gelegt hatte. Vor einigen Wochen dann, im Dezember vergangenen Jahres, als ganz Europa Weihnachten und Neujahr feierte, starteten sie die konzertierte Offensive gegen die Arbeitslosen.
Zudringliche Umarmung der Heimat
Bis zum 5. Januar hatten die Steuerbehörden 252.000 Schreiben an Parasiten und Schmarotzer verschickt. Insgesamt schätzt der Ministerpräsident der Republik Belarus die Zahl auf 445.000 – reichlich viele für ein Land mit viereinhalb Millionen Werktätigen und einer offiziellen Arbeitslosenquote von einem Prozent. Aber in den offiziellen Statistiken nach Widersprüchen zu suchen, ist müßig, mich interessiert an der ganzen Sache die menschliche Seite.
Das Verfahren ist simpel: Wenn du so ein Schreiben von der Steuerbehörde bekommen hast, kannst du entweder binnen drei Wochen die geforderten 180 Dollar zahlen oder darauf warten, dass die Prozessmaschinerie anläuft und dich in die Situation begeben, in der sich die Heldin meines Romans Lacus Gaudii wiederfand, deren Leben durch einen belarussischen Gerichtsbescheid auf den Kopf gestellt und in eine wilde Flucht verwandelt wurde. Der zudringlichen Umarmung der Heimat kann man sich mitunter kaum entziehen.
Die Steuerbehörden sind blind. Blind für deine Verdienste um die Welt- und Nationalkultur. Sie pfeifen auf deine Bücher oder deine Lieder, die im ganzen Land gesungen werden. Sergej Krawtschenko, einer der besten unabhängigen Musiker des Landes, hat das auf seiner Facebookseite so formuliert: „Was tun? Ich liebe dieses Land, aber ich hasse diesen Staat. Klar, dass er meinen Hass erwidert und mir in mittelalterlichen Daumenschrauben in Briefform gegenübertritt, eingetütet in hübsche Kuverts.“ Zu möglichen Protesten schrieb er weiter: „Dezember 2010 sind wir auf die Straße gegangen, das war super – niemand wusste wie weiter, aber wir haben gesehen, dass wir viele waren. Dafür wussten die von unseren Steuergeldern bezahlten Stiefel und Schlagstöcke genau, wie es weiterzugehen hatte und veranstalteten ein Gemetzel.“
Mittelalterliches Prinzip
Ich hatte Ende Dezember bei der Minsker Bezirkssteuerinspektion zu tun. Was ich dort zu sehen bekam, ließ mich an ein kollabierendes Krankenhaus nach Ausbruch einer Epidemie denken oder an eine Mobilmachungsstelle bei Kriegsbeginn. Massen von Menschen, für die sie sogar, digital unterstützt, Nummern vergeben mussten. Und überall Gewisper. Gedämpft, damit „sie“ es nicht mitbekommen. Kein Mensch weiß, nach welchem Prinzip die Steuerinspektion die Arbeitslosendaten erhebt. Ich würde mich nicht wundern, wenn dieses Prinzip der Geheimhaltung unterliegt, ganz im Geiste des Jahres 1961, als das Präsidium des obersten Sowjets der UdSSR jenen ersten Ukas erließ. Wo kaum Informationen verfügbar sind, entstehen Gerüchte. In den Warteschlangen wisperte es, die Krankenhäuser leiteten im großen Stil Daten an die Inspekteure weiter. Dort muss man ja bei der Aufnahme seine Arbeitsstelle angeben. Das würde auch erklären, weshalb bei der ersten großen Welle, diesen 252.000 Menschen, so viele Schwangere erfasst wurden. Die bei der Gelegenheit überrascht feststellen mussten, dass man in Belarus erst ab dem siebten Schwangerschaftsmonat von der Arbeit freigestellt ist, bis dahin aber zu arbeiten und dem Staat Steuern zu zahlen hat.
Nun könnte man lamentieren, wie seltsam das alles ist. Dass sie gerade diejenigen melken, denen sie Arbeitsplatz und Unterhalt zukommen lassen müssten. In jedem anderen Land würde doch eine Regierung, die knapp bei Kasse ist (wegen des niedrigen Ölpreises sind die Einnahmen aus der Verarbeitung von russischem Öl und Gas zurückgegangen und das verarmte Moskau gibt keine Kredite mehr) bei Militär, Geheimdienst, Polizei und Beamtenapparat den Rotstift ansetzen. Und nicht den Bürgern mehr Geld für die Unterhaltung von Sicherheitskräften und Beamten abpressen. Hier gilt offenbar das mittelalterliche Prinzip, nach dem sämtliche Untertanen ihrem Lehnsherrn eine Kopfsteuer zu entrichten haben, einfach weil sie auf „seinem“ Land leben.
Sozialismus-Schutzgebiet
Nun könnte man stillhalten und darauf warten, dass man selbst einen dieser amtlichen Liebesbriefe bekommt. Ich habe keine Ahnung, wie ich beweisen soll, dass meine literarische Arbeit die Befreiung von einer Steuer rechtfertigt, mit der jene Leute unterhalten werden, die, wie Sergej Krawtschenko zutreffend bemerkt hat, uns unserer Freiheit berauben.
Ich denke aber lieber über etwas anderes nach.
In den vergangenen 25 Jahren hat Belarus der Welt voller Stolz demonstriert, wie sich sowjetische Regierungsmethoden erfolgreich konservieren lassen. Die Republik hat erklärt, der Westen wolle uns Reformen aufzwingen, um unsere Wirtschaft und Industrie zu ruinieren. Der sowjetische Staatsplan und die regulierten Preise seien goldrichtig. Die Fabriken aus den fünfziger bis siebziger Jahren gammeln vor sich hin, die Produktion ist nicht mehr konkurrenzfähig, aber Belarus glaubt weiterhin an seinen Sonderweg.
Das surrealistische Parasitendekret, das zehn Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung betrifft, illustriert aufs Schönste, was aus der UdSSR und dem Osten Deutschlands ohne die Perestroika des Jahres 1991 geworden wäre. Ohne Jelzin, Mauerfall, Beendigung des Afghanistankrieges, ohne das Ende der Ära des Roten Menschen, die nur in unserem Sozialismus-Schutzgebiet noch andauert. Und der nicht enden wollende Traum kommt die Bewohner dieses Schutzgebietes immer teurer zu stehen.
Aus dem Russischen von Thomas Weiler