Spaniens Ministerpräsident Rajoy hat die katalanische Krise selbst ausgelöst. Vor mehr als sieben Jahren. Die aktuellen Vorgänge erinnern schmerzhaft an die Franco-Diktatur.
Carles Puigdemont hat es nicht ganz lassen können. Als Präsident der Generalitat, der Regionalregierung in Barcelona, hat er am Dienstagabend die Unabhängigkeit Kataloniens verkündet – und sie zugleich ausgesetzt, um erst einmal einen „Prozess des Dialogs“ zu eröffnen. Er gab sich alle Mühe, besonnen und friedfertig zu klingen.
Doch vergebens: Für die Regierung in Madrid bedeutet Puigdemonts Erklärung, dass sie weiter ihrer Logik der Eskalation folgen kann. Sie hat sich ein Arsenal an Zwangsmaßnahmen gegen die abspenstigen Katalanen zurechtgelegt und droht nun damit, sich auf Artikel 155 der spanischen Verfassung zu berufen, der die katalanische Selbstverwaltung formell außer Kraft setzt – nachdem sie faktisch schon in den vergangenen Wochen großenteils entzogen wurde.
Der nächste Akt des Dramas spielt sich dann auf den Straßen ab. Und wenn Ministerpräsident Mariano Rajoy dabei weiter den harten Hund gibt, riskiert er nicht nur die Abspaltung Kataloniens. Auch im Rest Spaniens könnte es zu tiefen Verwerfungen kommen.
Am 1. Oktober gewann die katalanische Unabhängigkeitsbewegung die Schlacht der Bilder: Polizisten in Kampfmontur prügeln auf Wehrlose ein, weil diese bei einem verbotenen Referendum abstimmen wollen. Solche Szenen kommen in Europa schlecht an und rufen in Spanien Erinnerungen an die Franco-Diktatur wach. Sodass sich plötzlich nicht mehr die Independentistes zu verzocken schienen, sondern die spanische Regierung.
Rajoy sah keinen Grund einzulenken. Seinen Innenminister ließ er bekräftigen: „Es gibt niemanden in der Regierung, der das Handeln der Polizei nicht billigt.“ Und er selbst sang nur umso lauter sein Mantra von der Verfassung, die es gegen die Separatisten zu verteidigen gelte, und von der unantastbaren staatlichen Einheit Spaniens. Der König sekundierte ihm mit einer Ansprache, in der er die Polizeigewalt unerwähnt ließ und sich ausschließlich an diejenigen seiner Untertanen wandte, die den katalanischen Independentisme ablehnen.
Diese Inszenierung – der Ministerpräsident als weißbärtiger Staatsmann in stürmischer Zeit, unterstützt vom Monarchen – zeigte durchaus Wirkung. In der internationalen Berichterstattung war von den Knüppeln beim Referendum nun kaum noch die Rede. Dafür schienen die Zuschreibungen von Gut und Böse in der Katalonienkrise wieder klar zu sein: Die Übeltäterin ist die katalanische Regionalregierung auf ihrem Kamikaze-Ritt zur Unabhängigkeitserklärung.
Viele Leitartikler stehen innerlich stramm, sobald das Wort „Verfassung“ fällt. Dabei lässt sich die Eskalation des spanisch-katalanischen Konflikts nicht begreifen, ohne den Verweis auf die Verfassung zu hinterfragen. Das Argument „Dem spanischen Verfassungsgericht zufolge war das Referendum in Katalonien illegal, also muss Madrid durchgreifen“ ist weniger seriös, als es klingt.
Zum einen wegen der Verfassung selbst. Ende 1978 in Kraft getreten, sollte sie Spaniens Übergang von der Diktatur zur konstitutionellen Monarchie absichern. Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten ruft vor allem die spanische Linke nach einer Reform hin zu einer föderalen Republik, um den Eigenheiten der 17 Regionen und „Gemeinschaften“ im Staat besser Rechnung zu tragen. Doch Rajoys Partei PP, von Franco-Getreuen gegründet, hat noch jede Initiative zu einer solchen Neujustierung vereitelt. Seit sie Spanien wieder regiert, betreibt sie sogar eine rabiate Rezentralisierung.
Die Graswurzelbewegung „Independentisme“
Die Regionen im spanischen Staat verfügen über sogenannte Autonomiestatute, die von deutschen Kommentatoren manchmal mit hiesigen Landesverfassungen gleichgesetzt werden, aber nur eine Schwundstufe davon sind, mit eng begrenzten Gestaltungsräumen der Regionalregierungen. So auch das neu verhandelte Statut für Katalonien, 2006 vom spanischen Parlament verabschiedet. Es befriedigte das katalanische Bedürfnis nach Anerkennung mit ein paar symbolischen Streicheleinheiten, ohne dass Madrid zusätzliche Kompetenzen an Barcelona abgetreten hätte. Die Katalanen aber gaben sich zufrieden. Die Unabhängigkeitsbewegung, die ohnehin nie mehrheitsfähig gewesen war, schrumpfte auf ein folkloristisches Häuflein zusammen.
Doch Rajoys PP, damals in der Opposition, klagte vor dem Verfassungsgericht. Vier Jahre verstrichen. Dann, im Sommer 2010, erklärte ein seinen eigenen Regularien gemäß nicht beschlussfähiges Tribunal – von zwölf Richtern hatten drei die Altersgrenze überschritten, ein vierter war verstorben – das katalanische Statut für teilweise verfassungswidrig.
Aus der massenhaften Empörung über dieses Urteil ging der heutige Independentisme erst hervor: als Graswurzelbewegung, von der sich die katalanische Politik mitreißen ließ. Wer über die Eskalation in Katalonien schreibt, sollte nicht verschweigen, dass sie schon vor mehr als sieben Jahren begann. Und dass Rajoys Partei sie ausgelöst hat.
Im Wahlkampf 2011, der sie zurück an die Regierung führte, schlug die PP antikatalanische Töne an. Der Tenor: Die Eigenbrötler im Nordosten halten sich für etwas Besseres, aber denen zeigen wir, wer das Sagen hat. Dieser Linie folgend schmetterte Rajoy dann jahrelang jede Bitte der Generalitat um bilaterale Verhandlungen ab. Und beklagt heute scheinheilig, der katalanische Präsident sei zu einem Treffen sämtlicher Regionalregierungschefs nicht erschienen.
Ihre Mehrheit im spanischen Parlament nutzte die PP auch, um die vakanten Stellen am Verfassungsgericht mit ihren eigenen Leuten zu besetzen. Entsprechend hilfreich und ungewohnt schnell war das Tribunal in den vergangenen Jahren, wenn es galt, von der Generalitat in Katalonien erlassene Gesetze für nichtig zu erklären – und vor allem das Referendum vom 1. Oktober zu kriminalisieren.
Das Demokratieverständnis der Regierung Rajoy beruht also auf einer Verfassung, deren überfällige Reform sie selbst blockiert, und auf einem Verfassungsgericht, das „für sie die Drecksarbeit erledigt“, wie es der katalanische Schriftsteller Jordi Puntí ausdrückt.
Nicht die Mehrheit der Katalanen
Ganz anders, doch ebenfalls dubios: das Demokratieverständnis der Independentistes. In Katalonien regiert seit zwei Jahren ein Zweckbündnis aus Christdemokraten, Linksnationalisten und Linksradikalen. Einziger gemeinsamer Nenner der drei Parteien ist der Drang nach dem eigenen Staat. Sie versuchten gar nicht erst, zusammen Politik zu machen, sondern rasten mit Tunnelblick auf das Referendum zu. Dabei verfügen sie zwar über die Sitzmehrheit im katalanischen Parlament, haben aber nicht die absolute Mehrheit der Wählerstimmen hinter sich – sie kamen zusammen auf knapp 48 Prozent.
Mit dem Referendum wollten sie ihr Projekt der Abspaltung von Spanien legitimieren. Nach eigener Ansicht ist ihnen dies auch gelungen. Schließlich kreuzten gut 90 Prozent der Abstimmenden „Sí“ an. Dass die Wahlbeteiligung nur bei 43 Prozent lag und das Referendum wegen der Polizeigewalt unter wenig transparenten Bedingungen ablief, ficht die Generalitat nicht an. Ihr Wahlgesetz sehe keine Mindestbeteiligung vor, und wenn Rajoy eine reguläre demokratische Abstimmung verhindern wolle, sei er selbst schuld. Angesichts der Repressalien habe es mit dem Referendum ja sogar erstaunlich gut geklappt.
Puigdemont fühlt sich an die von seiner eigenen Regierung gesetzte Vorschrift gebunden, im Fall einer Stimmenmehrheit die Republik Katalonien auszurufen. Damit vereinnahmt er nicht nur die 57 Prozent der katalanischen Wahlberechtigten, die entweder nicht mit abgestimmt haben oder deren Stimmen nicht ausgezählt werden konnten, weil die Guardia Civil die Urnen konfiszierte. Sondern er tut auch – da kann er noch so konstruktiv und versöhnlich formulieren – genau das, was die Hardliner in Madrid sich wünschen. Er braucht bloß „Unabhängigkeit“ oder „Referendum“ zu sagen, schon sehen sie rote Linien überschritten und fühlen sich berechtigt, selbst umso rücksichtsloser zuzuschlagen.
Denn unter dem argumentativen Deckmantel von Verfassungstreue und staatlicher Einheit brodelt noch ein anderer, gefährlicher Diskurs. Schon vor Puigdemonts gestriger Erklärung boten die prügelnden Polizisten nicht die einzigen verstörenden Bilder aus Katalonien und Spanien. Bei der großen Kundgebung gegen den Independentisme marschierten am 8. Oktober in Barcelona PP-Mitglieder, aber auch Sozialdemokraten auf einmal gemeinsam mit Anhängern der Falange (Nachfolgerin von Francos gleichnamiger Partei) und anderen bekennenden Rechtsextremen. Tags darauf in Valencia beließen es die Neofaschisten bereits nicht mehr beim Mitlaufen. Unter „Sieg Heil!“-Rufen machten sie Jagd auf „Separatisten“ und „Linke“.
Mit ihrer stur konfrontativen Haltung zu Katalonien hat die Regierung Rajoy nicht nur binnen weniger Jahre das Monster des Staatszerfalls großgepäppelt. Sie hat zudem das Monster eines brutalen spanischen Nationalismus von der Leine gelassen. Die Grenzen zum rechtsradikalen Spektrum waren bei der PP immer fließend, und wenn es gegen „die Katalanen“ geht, fallen sie ganz weg. Da wird das Referendum zum „Staatsstreich“ erklärt, Puigdemonts Aufruf zum Dialog als „Erpressung“ bezeichnet, und ein Parteisprecher droht Puigdemont an, er könne „enden“ wie Lluís Companys. Companys, Präsident der Generalitat während des Spanischen Bürgerkriegs, wurde 1940 auf Francos Befehl gefoltert und erschossen.
Einen „unerträglichen Gestank nach schlecht verheiltem Franquismus“ attestiert der spanischen Regierung im Umgang mit Katalonien dieser Tage Ramón Lobo, der für die Zeitung El País 20 Jahre lang aus Kriegs- und Krisengebieten berichtete. Und unter den Katalanen selbst, egal wie sie zu Puigdemont stehen, herrscht vor allem Fassungslosigkeit über das Gebaren der Zentralmacht. „Der spanische Staat benimmt sich wie ein verwundetes Tier, das nichts mehr denkt und nur noch beißt“, schreibt uns eine Architektin aus Barcelona. „Es wäre so leicht, mit uns zu reden und uns zu überzeugen. Aber das wird er nicht tun. Mir kommt es vor, als würde er gerade Selbstmord begehen.“
Der Autor Michael Ebmeyer ist Verfasser der „Gebrauchsanweisung für Katalonien“ (Piper). Er erhielt 2011 ein Stipendium des katalanischen Instituts Ramon Llull für die Übersetzung des Romans „Maletes perdudes“ von Jordi Puntí ins Deutsche. Lesen Sie hier eine ausführliche Stellungnahme des Autors zu den unten stehenden Leserkommentaren.
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