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Warum der Staat Schulden machen darf

 

Ich frage mich, wer dem Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz die ökonomischen Argumente liefert. In der FAZ.NET wird Christian Wulff folgendermaßen zitiert: „… wäre ich sehr dafür, dass wir einen nationalen Entschuldungspakt abschließen, wo sich der Bund und die Länder verpflichten, in einem überschaubaren Zeitraum auf eine Verschuldung von Null zu kommen und dann zu beginnen, die Schulden abzutragen.“ Vermutlich denkt Herr Wulff, dass es nicht schlecht sein kann, wenn der Staat schuldenfrei ist, zuhause bei sich versucht er das ja auch hinzukriegen. Und die Volksmeinung dürfte diese Äußerung wohl auch widerspiegeln und damit eher Stimmen bringen als kosten. Es ist zum Haareraufen, dass, wenn es um die Schulden des Staats geht, immer wieder zu kurz gesprungen wird.

Politiker fast jeglicher Couleur weigern sich, den zentralen Aspekt der Schuldendiskussion zur Kenntnis zu nehmen: Wer investiert, darf sich, ja muss sich verschulden, denn nur so können diejenigen, die sparen, auch eine positive Rendite erwirtschaften. Keine Schulden mehr zu haben heißt, dass es keine Möglichkeit gibt, Geldersparnisse zu bilden! Das wäre auch das Ende der Marktwirtschaft. Was gut sein kann für den einzelnen Haushalt oder ein einzelnes Unternehmen, ist oft das Falsche für die öffentliche Hand.

Wenn der Staat in Höhe seiner Ausgaben für Sachkapital oder andere Zukunftsaufgaben, Bildung etwa, Schulden macht, verhält er sich nicht anders als der Unternehmenssektor, nur dass seine Ziele gesamtgesellschaftlich und nicht einzelwirtschaftlich sind. Was für beide gleich ist: Die Ausgaben sind heute zu leisten, die Erträge erstrecken sich dagegen über viele Jahre. Im Falle des Staatssektors sind es die erhöhten Steuereinnahmen, aus denen der Schuldendienst geleistet wird. Da sich die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft durch Infrastrukturausgaben aller Art verbessert, sollte das kein Problem darstellen.

Was vielleicht auch nicht immer klar ist: Weder die Unternehmen als Gruppe noch der Staat, noch im übrigen die Haushalte, die Wohneigentum schaffen oder kaufen, zahlen jemals die Schulden zurück. Natürlich werden die jeweiligen Kredite bedient, aber gleichzeitig werden ständig neue aufgenommen: für Investitionen in Projekte, die dazu dienen, noch mehr zu produzieren, oder die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, oder einfach um noch komfortabler zu wohnen, also besser zu leben.

Wer die Staatsschulden auf Null bringen will, plädiert indirekt dafür, den Markt für Bundesanleihen und andere staatliche Wertpapiere abzuschaffen. Die Grafik und die Tabelle zeigen die Dynamik des Prozesses. Ausgehend von einer geschätzten Schuldenstandsquote von 65 Prozent für Ende diesen Jahres werden für ein zukünftig jährliches nominales BIP Wachstum von vier Prozent und fünf Prozent zwei Szenarien simuliert. Bei einem jährlichen Defizit von drei Prozent würde sich die Schuldenquote bei 75 Prozent bzw. bei 60 Prozent stabilisieren. Aber schon wenn die Defizite auf 1,5% des jährlichen nominalen Bruttoinlandsprodukts beschränkt werden sollten, schrumpft der Markt relativ gesehen sehr rasch. Würden die Defizite ab 2007 gar auf Null zurückgefahren werden, würde er absolut gesehen auf dem heutigen Niveau stagniert und relativ in die Bedeutungslosigkeit versinken.

Szenarien zur Entwicklung der Schuldenquote

Szenarien zur Entwicklung der
Staatsschulden
1)

nom. BIP,
jährliche Wachstumsrate

jährliches Defizit
in
% des BIP

Staatsschulden
in % des BIP*

nach
10 Jahren

Konvergenzwert

4%

3%

68,4%

75%

1,5%

56,0%

37,5%

0%

43,6%

0%

 

5%

3%

63,1%

60%

1,5%

51,3%

30%

0%

39,5%

0%

* Eigene
Berechnungen
1) Ausgehend von einer Schuldenstandsquote von 65% in 2006.

Vor allem für Versicherungen, Pensionskassen und jeden, der im Alter ein verlässliches Zusatzeinkommen mit festen Zinszahlungen braucht, bedeutet das allmähliche Verschwinden des Marktes für Staatsschulden einen großen Verlust. Sie müssten auf riskantere inländische Anlagen oder aufs Ausland und die damit noch zusätzlich verbundenen Währungsrisiken ausweichen. 30-jährige Staatsanleihen, vielleicht die besten, weil billigsten und liquidesten Langfristpapiere würden als erste aussterben. So geschehen in den USA als die Regierung Ende der neunziger Jahre auf einmal auf jährliche Überschüsse zusteuerte, mit der Folge, dass es zu einem „Squeeze“ kam, der die Kurse dieser Anleihen stark in die Höhe trieb und damit die Rendite für die Anleger drastisch sank.

Ein Gesetz, das stets ausgeglichene Haushalte verlangt, engt zudem die Handlungsmöglichkeiten des Staates in gefährlicher Weise ein. Hätte die japanische Regierung nicht seit Mitte der neunziger Jahre durch die Hinnahme gewaltiger Defizite dafür gesorgt, dass zumindest ein wichtiger makroökonomischer Akteur seine Nachfrage aufrechterhielt, während die anderen durch das Platzen der Blasen am Aktienmarkt und später am Immobilienmarkt so geschockt waren, dass sie ein Jahrzehnt lang damit beschäftigt waren, ihre Finanzen in Ordnung zu bringen, dann wäre das Land auch heute noch nicht aus der Deflationsfalle heraus.

Hierzulande ist das Deflationsrisiko nicht besonders hoch, schon weil es keine Blasen gibt, die platzen könnten. Aber stellen wir uns nur einmal vor, der Euro würde auf 1,80 Dollar steigen, weil alle Welt zu der „Erkenntnis“ kommt, dass einfach zu viele Greenbacks im Umlauf sind und daher nicht so viel wert wären. Das wäre ein Schock nicht nur für die Exportwirtschaft, sondern auch für alle Bereiche, die im Inland mit Anbietern aus dem Dollarbereich konkurrieren. Das schließt China und Indien ein. Wollen wir nicht, dass der Staat dann für eine Weile in die Bresche springt? Feste Regeln sind oft das Gegenteil von gesundem Menschenverstand und guter Wirtschaftspolitik.

Zuletzt noch ein Punkt, der in der Diskussion bisher überhaupt keine Rolle spielt, der aber trotzdem für den Wohlstand in Deutschland und im Euroraum von Bedeutung ist: die Rolle des Euro als Reservewährung. Das Schöne am Dollar, der wichtigsten Reservewährung, ist aus amerikanischer Sicht, dass Ausländer bereit sind, immer mehr Schuldverschreibungen der US-Regierung zu erwerben. Da diese darauf nur drei oder vier Prozent bezahlt, das nominale Sozialprodukt aber eher mit sechs oder sieben Prozent wächst, ist das ein gutes, wohlstandssteigerndes Geschäft. Es gibt fast noch etwas Tolleres: Die Dollarscheine, die in vielen Ländern als Parallelwährung umlaufen, brauchen überhaupt nicht verzinst zu werden. Viele von ihnen verschwinden gar völlig. Mit anderen Worten, es ist erstrebenswert, den Euro zu einer Reservewährung vom Rang des Dollars zu machen. Dazu braucht es aber einen Geld- und Kapitalmarkt, der sehr liquide ist und auf dem es Anlagemöglichkeiten gibt, deren Bonität nicht in Frage steht. Viele ausländische Notenbanken argumentieren, dass sie mehr in Europa investieren würden, wenn der Markt für Staatspapiere mehr Tiefe hätte. Auch von daher kann es nicht in unserem Interesse sein, die Staatsschulden absolut oder relativ gegen Null konvergieren zu lassen.

Der Mangel an ökonomischem Verständnis ist für mich eines der wichtigsten Strukturprobleme überhaupt. Wie kann man die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen setzen, wenn man gar nicht weiß, was sie im Einzelfall bewirken, ob sie zum Wachstum beitragen oder nicht. Man sollte allen Ministerpräsidenten ein Sabbatjahr am MIT spendieren, unter der Voraussetzung, dass sie alle Prüfungen, die zur Absolvierung von Economics 101 verlangt werden, auch ablegen und bestehen. Denn wir wollen von gut ausgebildeten Politikern regiert werden, die zwischen Stammtischthesen und seriösen Argumenten unterscheiden können.