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Steingarts „Weltkrieg um Wohlstand“ – ein Verriss

 

Gabor Steingart ist mit seinem jüngsten Werk „Weltkrieg um Wohlstand“ angetreten, den Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg erneut herauf zu beschwören. Einen Mythos gegen den Paul Krugman schon in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts klug, aber wie es scheint vergebens, angeschrieben hat. Um es gleich vorweg zu sagen: Dies ist ein ärgerliches Buch. Da es aber offenbar eine hohe Auflage erreichen wird und mit dem Anspruch auftritt, uns die Weltwirtschaft einmal umfassend zu erklären, will ich es nicht unkommentiert lassen. Zumal es den Segen von Bert Rürup, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats, zu haben scheint, der, wie Steingart in seiner Danksagung schreibt, sein Buchprojekt begleitet hat, und es daher möglicherweise sogar die Meinung der akademischen Mehrheit hierzulande widerspiegelt.

Die Botschaft des Buches, ausgebreitet auf 400 Seiten und im wesentlichen gewonnen durch die Extrapolation von allseits bekannten Trends, lautet: die Asiaten werden immer reicher, Europa schrumpft dahin, auch im Vergleich zu den USA, und wir können nicht viel dagegen tun. Bescheidene Lichtblicke im Dunkel böten sich, wenn wir die Budgetdefizite des Staates durch eine Art Notopfer der Reichen beseitigen, unsere Freihandelszone um Amerika erweitern und den unfairen, aber schlauen Chinesen mit Protektionismus drohen, sollten sie sich auch weiterhin nicht an die Spielregeln halten. Weder die Diagnose, noch die Prognose und die Rezepte könnten schlichter nicht sein. Schlicht muss nicht immer gleich falsch sein, hier aber trifft es allemal zu.

Warum soll es einen Weltkrieg um Wohlstand geben? Weltkrieg bedeutet für mich einen Krieg, in dem sich die großen Länder gegenseitig zerstören – wo dabei der Wohlstand bleibt, ist Steingarts Geheimnis. Tatsächlich redet er auch nicht wirklich über Krieg, nicht mal über einen Wirtschaftskrieg. Im Grunde thematisiert er nur die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen die einzelnen Volkswirtschaften wachsen. Der Titel des Buches ist irre führend, aber wir wissen schon was gemeint ist. Steingart sieht die Globalisierung als ein Nullsummenspiel, in dem die einen, das sind vor allem Indien und China, nur gewinnen können, wenn die anderen, also wir sklerotischen Europäer und die nicht minder sklerotischen Japaner, verlieren. Dass alle Länder durch eine intensivere internationale Arbeitsteilung, wie wir sie zur Zeit wieder einmal sehr anschaulich erleben, wohlhabender werden, fällt ihm nicht auf. Seit Jahren wächst das Sozialprodukt der Welt real mit Raten zwischen 3 ½ und 5 Prozent, so rasch wie seit Menschengedenken nicht, und alle Länder nehmen daran teil, seit Neuestem auch die europäischen. Der Wohlstand nimmt überall zu, wenn auch nicht für jeden einzelnen – wie das bei Strukturwandel eben so ist -, aber der Mechanismus, der das bewirkt, heißt nicht Krieg, sondern Handel und Kapitalverkehr, also Kooperation, und damit das genaue Gegenteil von Krieg.

Aufgeregt versucht der Autor nachzuweisen, dass die größten Volkswirtschaften binnen kurzem China und Indien sein werden. Wen überrascht das? Schon wenn das Pro-Kopf-Einkommen in diesen beiden Ländern ein Viertel des amerikanischen erreicht hat, ist ihr Sozialprodukt insgesamt jeweils so groß wie das der USA. Ganz einfach deshalb, weil ihre Bevölkerung etwa viermal so groß ist. Warum sollen die armen Chinesen und Inder nicht das erste Viertel auf dem Weg zu mehr Wohlstand sehr rasch zurücklegen? Sie sind sparsam und arbeitsam, und immer breiteren Bevölkerungsschichten wird zunehmend klar, dass eine gute Ausbildung der Schlüssel zu Aufstieg und Wohlstand ist.

Wenn man sich ansieht, wie hoch die Sparquoten und die Investitionsquoten in diesen beiden Ländern sind, muss man sich fragen, warum deren Lebensstandard auf Dauer nicht sogar höher sein wird als im Westen. Rechnen wir einmal: angenommen, das BIP pro Kopf, gemessen zu Kaufkraftparitäten, wie sie der Internationale Währungsfonds auf der Basis von Indikatoren wie Energieverbrauch, Anzahl der Autos oder Mobiltelefone, oder der Produktion von Zement, Stahl oder Nahrungsmitteln schätzt, sei in den USA heute 100, in China dagegen nur 20. Unterstellt man weiter, dass sich die Pro-Kopf-Einkommen in den USA wie bisher um 2 Prozent jährlich erhöht, in China dagegen um 8 Prozent. Dann erreicht das chinesische Pro-Kopf-Einkommen in genau vier Jahren bereits ein Viertel des amerikanischen – und die Sozialprodukte der beiden Länder wären gleich groß. Bei diesen Wachstumsraten würde es nur weitere 24 Jahre dauern, bis sich die Pro-Kopf-Größen angeglichen hätten, und das Bruttoinlandsprodukt Chinas zu Kaufkraftparitäten viermal so groß wäre wie das der USA. Das sind doch Zahlen, oder? Vielleicht käme es dann doch noch zu einem echten Weltkrieg, bei dem es dann aber vermutlich um Energie und Rohstoffe gehen dürfte.

Ich will mit dem kleinen Beispiel nur zeigen, dass ich mich ebenfalls mit exponentiellen Zeitreihen auskenne – vor allem weiß ich aber, dass man mit dem Extrapolieren der aktuellen Trends nicht weit kommt und fast immer falsch liegt. Man darf ja auch nicht das prozentuale Größenwachstum des ersten Lebensjahres eines Menschen für die kommenden 70 oder 80 Jahre fortschreiben; am Ende könnte man den Mond mit der Hand herunterholen.

Junge Volkswirtschaften expandieren rasch, vorausgesetzt die Wirtschaftspolitik begeht keine großen Fehler. Im Verlauf der Jahre geht es dann weniger schnell voran, und schließlich landen sie bei Pro-Kopf-Zuwachsraten, oder genauer: Pro-Arbeitsstunden-Zuwachsraten des BIP, die in der Größenordnung von 2 Prozent liegen. So war es in Japan und Deutschland nach dem Krieg. Taiwan, Korea und Malaysia sind auf dem Weg dahin, und es wird in China und Indien auch so kommen. Dass sie schließlich einen viel größeren Anteil am Sozialprodukt der Welt haben werden als die USA oder die EU ist ziemlich wahrscheinlich.

So what? Was lernen wir? Hauptsache ist doch, dass der eigene Wohlstand möglichst groß ist und nicht, dass das Land, in dem man lebt, groß und mächtig ist. Großes Sozialprodukt ist nicht gleich großes Glück. Die reichsten Länder der Welt heißen Luxemburg, Schweiz, Norwegen, Singapur, Hongkong oder Irland – sie sind allesamt klein.

Eine Unterstellung in Steingarts Kriegsschmöker lautet, dass es gefährlich für uns wird, wenn diese „Asiaten“ einmal so reich sind wie wir. Ich zitiere: „Die neue Stärke der Asiaten führt zur Schwächung des Westens. Ihr Aufstieg ist unser Abstieg. In Europa sind schon heute Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung zu besichtigen. In Amerika wachsen Handelsbilanzdefizite und der Schuldenstand der Privathaushalte. Viele bezahlen den noch immer wachsenden Konsum mit neuen Krediten, also einem Teil jener Zukunft, die sie dadurch zerstören. Lange kann sich der Westen diese Gegenwart nicht mehr leisten.“ (S. 12) „Ihr Aufstieg ist unser Abstieg“ Das kann ja im Ernst nur heißen, dass sie fürs Erste schneller wachsen als die „alten“ Industrieländer, es heißt aber auf keinen Fall, dass wir auch absolut absteigen. Es klingt aber so. Wir sind bereits an der Spitze der weltweiten Einkommenspyramide angelangt, da müssen die Wachstumsraten einfach abnehmen. Entscheidend ist doch, dass die Produktivität weiter zunimmt, dass man Jahr für Jahr für seinen Einsatz an Arbeit und Kapital mehr bekommt – und das ist immer noch der Fall. Wir werden immer noch reicher, und die Inder und Chinesen helfen uns im übrigen dabei, weil sie uns zwingen, uns auf das zu konzentrieren, was wir am besten können. Das ist eine Bedingung für die Vorteilhaftigkeit des internationalen Handels.

Keine Frage, die fleißigen Asiaten werden viel rascher wohlhabend als wir: Sie kombinieren billige Arbeitskraft mit moderner Technik, was so bei uns nicht mehr möglich ist. Zudem gibt es bei ihnen einfach viel mehr lohnende Investitionsmöglichkeiten. Aus einst kapitalarmen Ländern werden dadurch kapitalreichere Länder, aber noch sind sie im Schnitt bettelarm. Wenn man nicht so miesepetrig und defensiv in die Welt gucken würde wie Steingart, würde man vor allem die tollen Gelegenheiten für unsere Ausfuhren und – ja auch das – für Direktinvestitionen in diesen Ländern sehen. Deutschland war immer einer der Hauptprofiteure von raschem Wachstum im Ausland. Meines Wissens hat sich nichts Grundlegendes an Wirtschaftsstruktur oder Unternehmergeist hierzulande geändert, dass wir jetzt auf einmal an uns selbst zweifeln sollten.

In einem hat Steingart natürlich recht: Es gibt heute vermutlich relativ mehr Verlierer im Globalisierungsprozess als früher. Das hat mit der Teilnahme von Hunderten von Millionen Asiaten und Lateinamerikanern am weltweiten Arbeitsmarkt zu tun. Einen nicht nur absolut, sondern auch relativ so starken Anstieg des Arbeitsangebots hat es seit der Kolonialzeit oder dem Beginn des Industriezeitalters nicht gegeben. Die Ursachen liegen auf der Hand: ein dramatischer Rückgang der Transportkosten, durch das Internet eine nahezu perfekte Transparenz der Märkte für Inputs und Outputs, die Implosion der Planwirtschaften und im großen Ganzen zunehmend liberale Bedingungen für Außenhandel und Kapitalverkehr. All das hat sich nahezu zeitgleich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ereignet und kommt daher jetzt mit so großer Wucht über uns. Solange Arbeit im Weltmaßstab so reichlich bleibt, wird sich daran nichts ändern.

Insbesondere einfache Jobs wie die vieler Industriearbeiter sind unter intensiven internationalen Konkurrenzdruck geraten und verschwinden. Das ähnelt dem, was wir aus der Landwirtschaft kennen. Früher waren vierzig oder fünfzig Prozent der Bevölkerung mit der Produktion von Nahrungsmitteln beschäftigt, heute reichen zwei Prozent – und sie bescheren uns darüber hinaus noch Überschüsse, die wir dann in den Entwicklungsländern entsorgen müssen. Aber das ist ein anderes Thema. In den USA nähert sich der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung der 10-Prozent-Marke. Trotzdem nimmt die dortige Industrieproduktion Jahr für Jahr um etwa 2 Prozent zu. Anders als das Steingart behauptet, erleben wir weder in den USA noch in Europa einen Deindustrialisierungsprozess – nur der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung und der Beschäftigung geht zurück, nicht aber deren Output. Der Sektor ist weiterhin quicklebendig – trotz der sogenannten Billigkonkurrenz aus dem Ausland.

Für den Industriearbeiter, der gerade freigesetzt wurde, ist das kein Trost. Es geht daher hierzulande und in allen anderen reichen Ländern darum, wie die Gewinner die Verlierer entschädigen können. Der Kuchen ist ja durch die Globalisierung, also die produktivitätssteigernde internationale Arbeitsteilung, nicht kleiner sondern größer geworden, so dass Verteilungsspielraum durchaus vorhanden ist. Um die Mittel dafür zu mobilisieren, stellt sich Steingart eine Mischung aus den folgenden Maßnahmen vor: eine Vermögensabgabe für die gut verdienenden Gewinner der Globalisierung, den Umbau der Sozialsysteme – weg von arbeitsbezogenen Abgaben, hin zur Finanzierung über Steuern – sowie europäischen Mindeststeuern für Unternehmen. Ob ein Notopfer a la Erzberger funktionieren wird, darf angesichts der Mobilität der bessergestellten Schichten bezweifelt werden, die beiden anderen Vorschläge finde ich dagegen gut und praktikabel. Vermutlich müssen auch die indirekten Steuern weiter an Bedeutung gewinnen.

Leider geht Steingart nicht darauf ein, wie man Arbeitslosigkeit im Vorfeld bekämpfen kann. Da, denke ich, sollte man sich vor allem die skandinavischen Modelle zum Vorbild nehmen. In Schweden oder Dänemark setzt man auf eine sorgfältige Erziehung der Kinder, unter anderem auch zur echten Mehrsprachigkeit, die Förderung der betrieblichen Ausbildung – unser Erfolgsmodell „duale Ausbildung“ würde eine wichtige Säule bleiben -, die unverzügliche Weiterbildung, wenn jemand arbeitslos wird, eine höhere Frauenerwerbsquote, liberale Einwanderungsregeln für gut qualifizierte Arbeitnehmer, das nach hinten offene Ende der Lebensarbeitszeit, sowie den Druck auf Arbeitslose, auch Jobs anzunehmen, die schlechter bezahlt sind als die alten, wenn es diese nicht mehr gibt. Die Dienstleistungsmärkte sollten entschlossener liberalisiert und berufsständische Kartelle verboten werden.

Wenn wir schon so viel Angst vor den Asiaten haben, warum machen wir es nicht zu unserer Top-Priorität, das bestqualifizierte Humankapital heranzubilden und die Bedingungen für Unternehmensgründungen und Investitionen ständig zu verbessern? Wir können unseren Vorsprung, unseren überdurchschnittlich großen Wohlstand nur dadurch sichern, dass wir Produkte und Dienstleistungen entwickeln und anbieten, die gefragt sind und mit denen sich gute Preise erzielen lassen. Dazu braucht man vermutlich bessere Universitäten und Technische Hochschulen als wir sie heute haben. Manchmal überkommt mich das Gefühl, dass wir von der Substanz leben. Warum werden die meisten High-Tech-Unternehmen in den USA gegründet und nicht bei uns? Warum haben wir so wenige Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften? Es ist höchste Zeit, dass hier umgesteuert wird. Steingart allerdings sieht auf diesem Feld leider keinen Handlungsbedarf.

Die oben geschilderten Mikro-Lösungen sind nur der eine Aspekt, Makroansätze der andere, auch wenn diese in den letzten Jahrzehnten von der herrschenden Lehre alles andere als angepriesen wurden. Steingart ist offenbar gar nicht klar, dass es so etwas wie Makro-Politik überhaupt gibt. Wie können wir wieder dahinkommen, dass es mehr offene Stellen als Jobsuchende gibt? In Ländern mit Vollbeschäftigung, wo das der Fall ist, sind die Wachstumsraten des Sozialprodukts durchwegs höher als bei uns, insbesondere in den USA und in Großbritannien. Das kommt nicht allein von super-flexiblen Arbeitsmärkten und dem Fehlen sozialer Absicherung, sondern nicht zuletzt auch von einer geschickteren Makropolitik.

Angesichts der offenbar dauerhaft niedrigen Inflation, die ein Nebenprodukt der Globalisierung ist, sowie der inzwischen solide verankerten (niedrigen) Inflationserwartungen hat die Wirtschaftspolitik mehr Spielraum für expansive Strategien als sie denkt. Insbesondere können wir uns bis auf Weiteres einen realen Notenbankzins von nur ein bis zwei Prozent erlauben, ebenso wie eine Abwertung des Euro, was im Notfall Dollarankäufe durch die EZB bedeuten würde. Vom letzteren bin ich allerdings doch nicht so überzeugt, wenn ich es mir recht überlege, denn das würde das schöne – und lukrative – Ziel infrage stellen, aus dem Euro eine Reservewährung vom Rang des Dollar zu machen.

Auch die Finanzpolitik könnte wachstumsorientierter ausgerichtet sein als bisher. Wie wir gerade erleben, verschwinden die öffentlichen Defizite fast über Nacht, wenn man der Wirtschaft mal für eine Weile die Zügel lockert. Das ist kein Rezept, das immer anschlägt. Wenn aber, wie das heute der Fall ist, die Kapazitäten schlecht ausgelastet sind und die Inflation bei 1 Prozent liegt, also weit unter dem, was die EZB für Preisstabilität hält, lässt es sich zum Wohle aller nutzen.

Für Steingart allerdings müsste der Wachstumsbeitrag der Finanzpolitik ganz im Gegenteil darin bestehen, die Defizite unabhängig von der konjunkturellen Lage abzubauen. Das ist übrigens die einzige Makromaßnahme, auf die er kommt. Warum das helfen soll, wird nicht begründet. So wie die Grünen, die mit „ihren zuweilen schlechten Manieren, einem oft klebrigen Pathos, der eifernden Art … den Schleier zerschnitten [haben], den die Wohlstandsgesellschaft so sorgfältig über ihre Schattenseiten ausgebreitet hatte“ (S. 301), so sollten wir uns dem wachstumsfördernden Jahrhundertziel widmen, der Schuldenfalle zu entkommen. So, so. Steingart vergleicht in diesem Zusammenhang allen Ernstes die Situation der öffentlichen Hand heute mit der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.

So wie die Grünen uns mit ihren schlechten Manieren die Umweltproblematik bewusst gemacht haben, solle sich eine neue Generation von Politikern am Schuldenabbau festbeißen. Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass der Staat, wenn er investiert, auch Schulden machen darf. Fremd ist ihm ferner der Aspekt, dass ein Staat möglicherweise deswegen Überschüsse im Budget erzielt, weil seine Wirtschaft rasch wächst, dass also die Kausalität genau andersherum laufen könnte als er sich das vorstellt. Hat hier Bert Rürup seine Hand im Spiel gehabt? Es gibt im übrigen außerhalb Deutschlands keinen Ökonomen von Rang, der die Position vertritt, dass Schuldenabbau ein Wachstumselixier sei. Spätestens an dieser Stelle wurde mir klar, dass wir es bei Steingart mit einem Autor zu tun haben, der sich mit Getöse an den dünnen Brettern versucht, die so gerne in Talkshows gebohrt werden.

Da ich gerade in Fahrt komme zum Abschluss noch ein paar Kostproben von Steingarts wirrem Denken:

  • – Über die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg schreibt er: „Zu Unrecht gilt der Einmarsch der Amerikaner in Europa als Landnahme herzloser Kapitalisten. […] Das Aggressive in Wirtschaft und Staat war nicht verschwunden, aber es war weniger offensichtlich. […] Selbstverständlich ging es weiter darum, materielle Vorteile auf Kosten anderer zu erwirtschaften …“ (S. 83) Die Botschaft lautet, wie an vielen anderen Stellen, dass Handel dem einen nützt und dem anderen schadet. Fragt sich, warum dann überhaupt gehandelt wird.
  • – Zu Kennedys Zeiten verlor Amerika „Marktanteile im weltweiten Warenaustausch, auch deshalb, weil Europa wieder zu Kräften gekommen war. Die Automatisierung der Fabriken tat ein Übriges, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen.“ (S. 86) Für Steingart ist klar, dass technischer Fortschritt höhere Arbeitslosigkeit bedeutet, nicht aber höhere Einkommen. Bisher dachte ich immer, das eine bedinge das andere. Für ihn bedeutet Produktivitätswachstum vor allem eine Gefahr für die Arbeitsplätze.
  • – Auf S. 103 wird festgestellt, dass sich Angst und Gier einander abwechseln, „wobei die großen Geldanleger, zum Beispiel Konzerne und Staaten, die Sicherheit eindeutig bevorzugen.“ Vier Seiten weiter heißt es dann: „Die Finanzinvestoren sind keine Finanzbeamten. Sie lieben den Exzess … sie sind nun mal Spekulanten, die mit dem Risiko der Übertreibung leben.“ Was denn nun? Ist Steingart eigentlich klar, dass Konzerne und Staaten netto fast immer und überall Schuldner sind, also keine Geldanleger? Die privaten Haushalte sind die bei weitem wichtigsten Finanzinvestoren.
  • – Auf S. 103f. heißt es, dass der Dollar die Reservewährung der Welt ist. „Fast alle Staaten misstrauen ihrer eigenen Währung und legen das Geld aus dem Tresorraum ihrer nationalen Notenbank lieber in den Vereinigten Staaten an, bevorzugt in Staatsanleihen.“ Dass die anderen Staaten keineswegs ihrer eigenen Währung misstrauen, sondern die Dollarpapiere nur deswegen kaufen, weil ihre eigene Währung sonst gegenüber dem Dollar aufwerten würde, also unerwünscht fest wäre, kommt Steingart nicht in den Sinn. Außerdem kann man nicht einfach in den Tresorraum hinabsteigen, die Gelddruckmaschine anwerfen und dann, Hokuspokus, Dollaraktiva damit kaufen. Das ist nicht nur naiv sondern auch falsch – die Dollar bekommt ein Land nur dadurch, dass es dem Ausland etwas Konkretes verkauft, also Güter, Dienstleistungen und/oder Vermögensgegenstände (einschließlich Forderungen).
  • – Als Steingart das Kapitel über die USA schrieb, muss er wohl eine Reihe schlechter Tage gehabt haben. Auf S. 110 behauptet er: „Der wachsende Konsum basiert nicht auf einer Ausweitung der Produktion, einem steilen Anstieg der Löhne oder gar der Zunahme der Exporte, sondern zum größten Teil auf steigenden Schulden.“ Das stimmt so nicht. Die Produktion ist seit der Rezession von 2000/2001 mit Jahresraten von etwa 3 ½ Prozent gesteigert worden. In den USA brummte bis vor kurzem das Wirtschaftswachstum. Weiterhin: wenn der Export zunimmt, bleibt weniger, nicht mehr, für den Konsum übrig. Ausfuhren und privater Verbrauch konkurrieren nämlich um dieselben knappen Ressourcen. Drittens: der Konsum kann auch dadurch gesteigert werden, dass die verfügbaren Einkommen insgesamt zunehmen, also die Summe aus Löhnen, Gewinnen, Mieteinnahmen, Transfers, Zinseinnahmen und den Terms of Trade. Löhne sind nur eine Einkommenskomponente. Auch ein berühmter Wirtschaftsjournalist sollte sich mal mit der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung befassen.
  • – „Auf eine schnelle Anhebung der Einkommen in Fernost oder Osteuropa sollte niemand setzen. Die Löhne dort sind angesichts von Millionen Bauern und Slumbewohnern, die erst noch auf ihre industrielle Beschäftigung warten, selbst unter Druck.“ (S. 183) Das stimmt ebenfalls so nicht. Die Reallöhne Chinas etwa dürften in der Größenordnung von 6 bis 8 Prozent pro Jahr zunehmen. Wenn das BIP nämlich um 10 Prozent jährlich expandiert, wie das seit einiger Zeit der Fall ist, die Beschäftigung dagegen um „nur“ 3 Prozent, nimmt die Produktivität auf Pro-Kopf-Basis um rund 7 Prozent zu. Nun kann das alles in die Gewinne gehen, tut es aber nicht, weil zum einen die etwas qualifizierteren Arbeitnehmer inzwischen durchaus sogenannte Knappheitsrenten erzielen und zum anderen Umsatz und Gewinn der Unternehmen nicht zuletzt davon abhängen, wie sich die Massenkaufkraft entwickelt. Gutbezahlte Arbeiter sind gute Konsumenten. Steingart hat zudem gar kein Gespür dafür, wie Wechselkurse das relative Lohnniveau eines Landes verändern können. Wenn der Renminbi oder die Rupie, die Währungen Chinas und Indiens, um 10 Prozent gegenüber dem Euro aufwerten, entspricht das aus unserer Sicht einer ebenso großen Erhöhung der dortigen Löhne. Wir sollten nicht aus dem Blick verlieren, dass sich in Asien durch die großen Handelsbilanzüberschüsse und den privaten Kapitalzufluss zunehmend Druck im Währungskessel aufstaut, der nur um den Preis gewaltiger Dollarankäufe unter Kontrolle gehalten werden. Irgendwann aber wird er sich entladen. Dann werden die Lohnrelationen ganz anders aussehen als heute – unsere preisliche Wettbewerbsfähigkeit verbessert sich.

Ich will es dabei bewenden lassen. Das Buch zeigt vor allem eins: dass es um den ökonomischen Sachverstand der gebildeten Stände in diesem Land schlecht bestellt sein muss, wenn schon die Meinungsführer so krausen Unsinn in die Welt setzen und dafür auch noch meist freundlich rezensiert werden.