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Depression Economics

 

„The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008“ heißt das im Dezember erschienene Buch von Paul Krugman, dem Nobelpreisträger des vergangenen Jahres. Es ist eine Aktualisierung seines 1999 im Anschluss an die Asien- und LTCM-Krise veröffentlichten Buches, klar und unterhaltsam geschrieben, ohne ökonomischen Jargon. Bekanntlich ist Krugman ein vielgelesener Blogger und Kolumnist der New York Times, und, obwohl er erst 55 Jahre alt ist, Autor, Mitautor oder Herausgeber von mehr als 200 wissenschaftlichen Artikeln und zwanzig Büchern – eine Art Wunderkind der Profession -, außerdem schon von Geburt an Keynesianer, scheint es. Dass Märkte nicht von sich aus zu stabilen Verhältnissen tendieren, wusste der Princeton Professor schon, als viele Ökonomen, die heute laut nach dem Staat und einer Stimulierung der Nachfrage rufen, noch Neo-Klassiker, Supply Siders oder Monetaristen waren.

Bevor ich mich damit beschäftige, wie sich Krugman den Weg aus der Krise vorstellt, möchte ich anhand der Industrieproduktion wichtiger Länder zeigen, wie ernst sie inzwischen schon ist. Da kann es kein Beschönigen mehr geben – wir sind ohne Zweifel auf dem Weg in etwas, was dem Begriff „Depression“ sehr nahe kommt. Und zwar weltweit!

Um mit der Mutter aller Krisen zu beginnen: In den USA lag die Industrieproduktion im vergangenen Quartal zwar „nur“ um 6,0 Prozent unter ihrem Vorjahreswert, die aktuellere Verlaufsrate (viertes gegen drittes Quartal, hoch vier) betrug aber bereits -11,5 Prozent. In den vier Monaten bis Dezember ist die Zahl der Beschäftigten saisonbereinigt um 1,9 Mio. gesunken, was einer Jahresrate von 5,8 Mio. verlorenen Jobs oder einem auf’s Jahr hochgerechneten Rückgang der Beschäftigung um 4,2 Prozent entspricht. Die Arbeitslosenquote geht steil in die Höhe.

In Großbritannien sieht es noch düsterer aus: Gemessen an der Verlaufsrate (Nov. ggü. 3. Quartal) war die Industrieproduktion zuletzt um 16,1 Prozent eingebrochen; im Vorjahresvergleich waren es 6,9 Prozent. Und das, obwohl das schwache Pfund die preisliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes stark verbessert hat. Der Immobiliencrash und der Kollaps des Finanzsektors waren zu viel auf einmal.

Bevor wir uns der Schadenfreude hingeben, was nach all den Belehrungen, mit denen uns London viele Jahre lang beglückt hat, verständlich wäre, ein sehr ernüchternder Blick auf die deutschen Zahlen: In der Industrie ist die Produktion im Verlauf (Nov. ggü. 3. Quartal) um 21,9 Prozent eingebrochen und lag zuletzt um 6,3 Prozent unter ihrem Vorjahreswert. Es sieht also mindestens so schlecht aus wie bei unseren angelsächsischen Vettern (verwendet noch irgendjemand diesen Begriff?), trotz all unserer Tugendhaftigkeit. Wir haben gespart (sinkende Reallöhne!), während es bei den Engländern zwei Jahrzehnte lang Party gab – und jetzt geht es uns ungerechterweise genauso schlecht. Schadenfreude ist wohl doch nicht angebracht!

Auch die europäische Währungsunion insgesamt befindet sich im Abwärtsstrudel: -15,4 Prozent im Verlauf (Nov. ggü. 3. Quartal) und -6,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Verlaufsrate ist die signifikantere Zahl – sie signalisiert, wo die Industrieproduktion sein wird, wenn der Trend der letzten Monate ein Jahr lang anhält. Dass es sehr danach aussieht, signalisieren konjunkturelle Frühindikatoren wie Auftragseingänge oder Unternehmensbefragungen. Lasst alle Hoffnung fahren, jedenfalls für die nächsten paar Quartale!

Die anderen großen Länder der EWU hat es genauso schlimm getroffen wie Deutschland: Für Frankreich ergibt sich eine Verlaufsrate von -23,9 Prozent, für Italien von -22,7 Prozent, für Spanien von -22,8 Prozent, für Holland -12,6 Prozent (jeweils Nov. ggü. 3. Quartal). Vor allem in Spanien hat der Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität schon deutliche Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen. Die Arbeitslosenquote geht dort stramm auf 15 Prozent zu.

Wir hatten ja lange Zeit geglaubt und gehofft, dass alles nicht so schlimm werden würde, weil die dynamischen Schwellenländer und die Entwicklungsländer, auf die laut IWF inzwischen etwa die Hälfte des globalen Outputs (in Kaufkraftparitäten gerechnet) entfällt, finanziell so gesund und gut aufgestellt seien, dass sie nur wenig von der Krise im Westen betroffen sein würden. Nicht nur das, wir hatten ihnen eigentlich sogar die Rolle von Konjunkturlokomotiven zugedacht. Wäre schön gewesen.

Das Problem war zum einen, dass es auch in der dritten Welt zu Blasen gekommen war, meistens bei Immobilien, aber auch bei Rohstoffen und bei den Exporten in die OECD-Länder. Zum anderen hatten sich private Unternehmen und Haushalte in viel größerem Maße als gedacht in Fremdwährungen verschuldet, also vor allem in Yen, Dollar und Euro – nicht nur waren die Zinsen niedriger, hinzu kam, dass die eigene Währung vielfach gegenüber diesen Hauptwährungen aufwertete, so dass der effektive Zins gelegentlich sogar negativ war.

Als die Blasen platzten und die westlichen Geldgeber selbst Zahlungsprobleme hatten, war der Spuk vorbei. Um die Schulden zu bedienen, wurden Aktien und Immobilien verkauft, und die Notenbanken mussten Devisen abgeben, damit die eigenen Unternehmen ihre Fremdwährungsschulden bedienen konnten. Sonst hätte es noch mehr Konkurse gegeben. Es entwickelte sich ein Teufelskreis aus rückläufigen Währungsreserven, fallenden Wechselkursen, Notverkäufen, einbrechenden Aktienkursen und Immobiliencrashs. Auch Kapitalflucht wurde wieder ein Thema. Aus war es mit der Herrlichkeit, und nichts mit Konjunkturlokomotive. Es sieht vielmehr eher so aus, als würde der Westen bald wieder einmal zur Kasse gebeten, zur Rettung der Länder, die geglaubt hatten, dass es angesichts ihrer hohen Wachstumsraten und ihrer soliden Wirtschaftspolitik nie wieder Probleme mit Kapitalzuflüssen aus dem Ausland geben würde.

Sehen wir uns nur einmal an, was in den sogenannten BRICs (Brasilien, Russland, Indien und China) los ist: In China lag die Industrieproduktion im November nur noch um 5,4 Prozent über dem Stand des Vorjahres (Im November 2007 waren es noch +17,3 Prozent). In Indien lag der Zuwachs bei 2,4 Prozent (Nov 07: +4,9 Prozent), in Russland im Oktober bei 1,7 Prozent (Okt 07: +10,8 Prozent). Gäbe es saisonbereinigte Reihen, würde man sehen, dass die Produktion inzwischen entweder stagniert oder sogar sinkt. Für Brasilien, das vierte Land im Bunde, haben wir solche Reihen – danach ist es im Verlauf zuletzt zu einem Rückgang von nicht weniger als 25,7 Prozent gekommen (Nov. ggü. 3. Quartal).

Es gibt also keine Lichtblicke. Nur wer einen sicheren Job, ein sicheres Einkommen und keine Schulden hat, kann sich etwas freuen. Er profitiert von rückläufigen Verbraucherpreisen, kann sich also mehr leisten. Er leidet aber, wie alle anderen, unter fallenden Aktienkursen und Immobilienpreisen. Alle, die Schulden haben, stöhnen unter einer immer schwereren realen Last. Viele, immer mehr, müssen zudem damit rechnen, dass sie ihren Job verlieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Arbeitsmärkte auch hierzulande einbrechen. It looks like depression, it talks like depression, it smells like depression – it is depression. Oder lässt sich noch was machen?

Was für Rezepte hat Krugman anzubieten? Zunächst muss die Todesspirale so rasch es geht angehalten werden. Sonst macht sich eine Depressionsmentalität breit. Dann wagt niemand mehr Geld auszugeben. Und wenn niemand mehr etwas ausgeben will, braucht auch niemand mehr zu arbeiten – um die Situation mal zugespitzt auf den Punkt zu bringen. Strukturreformen sind wichtig, vor allem solche, die verhindern, dass es noch einmal zu einer solchen Katastrophe kommt, aber Priorität hat zweierlei, meint Krugman:

Erstens müssen die Banken wieder Kredite vergeben und zweitens muss mehr Geld ausgegeben werden. (S. 184)

Aufgabe Nr. 1 ist die schwierigere. Und die dringendere. Das Vertrauen in die Banken und ihre Eigenkapitalbasis müssen so rasch es geht gestärkt werden. Da sich der Wert der Aktiva vermindert hat, ist es zu Verlusten gekommen, die die Eigenkapitalbasis aufgefressen haben. Das führt dazu, dass die Banken ihre Kreditvergabe einschränken. Damit die wieder ins Laufen kommt, besteht die naheliegende Lösung darin, die Kapitalbasis zu vergrößern, so wie das 1933 zu Roosevelts Zeiten, in Schweden in den frühen neunziger Jahren, oder zuletzt in Japan der Fall war.

Die Rekapitalisierung durch den Staat, anfangs auch durch ausländische Geldgeber wie etwa die sogenannten Sovereign Wealth Funds, läuft, aber Krugman denkt, dass das erforderliche Volumen bei weitem größer ist. Wenn man die japanischen Erfahrungen zugrunde legt, haben weder die USA, Großbritannien noch die kontinentaleuropäischen Länder bisher genug Geld in die Hand genommen. Zudem erfassen die Rettungsprogramme bislang noch nicht die „Schattenbanken“, also die Special Purpose Vehicles, Hedge Funds, Private Equity Funds, und so weiter; dort vermutet Krugman jedoch den Kern der Probleme. Es ist auch nicht sicher, dass die Banken ihre aufgestockte Kapitalbasis tatsächlich für mehr Kredite nutzen; sie könnten versuchen, sich durch den Abbau von Aktiva weiter zu konsolidieren.

Es muss also in anderen Dimensionen gedacht werden, und der Staat als Kapitalgeber muss sich unmittelbar in die Geschäftspolitik einmischen. Man sollte sich nicht von denen abschrecken lassen, die das Ganze für eine „sozialistische“ Politik halten.

Ein anderer Ansatz läuft über die Notenbank: Sie sollte vorübergehend direkte Kredite an die Privatwirtschaft vergeben, wie das die Fed mit dem Aufkaufen von Commercial Paper bereits tut. Auch hier sind die Summen bislang nicht groß genug.

Da alle Länder in dieser Krise im selben Boot sitzen und die Finanzmärkte so eng miteinander verflochten sind, darf keine Regierung und keine Notenbank abseits stehen. Krugman hat dabei natürlich auch die EZB und die Regierungen von Euroland im Sinn. Es führt auch kein Weg daran vorbei, taumelnden Ländern wie der Ukraine, Ungarn oder Lettland mit IWF-Krediten und bilateralen Swaps auszuhelfen, denn eine Kettenreaktion fallierender Schwellen- und Entwicklungsländer kann man sich nicht zusätzlich leisten.

Selbst wenn das Finanzsystem durch diese Maßnahmen wieder in Gang gebracht werden kann, kommt es – Punkt 2 – immer noch darauf an, die gewaltige Nachfragelücke, die sich in letzter Zeit geöffnet hat, durch gute alte keynesianische finanzpolitische Maßnahmen so weit es geht zu schließen. Krugman denkt, wie ich auch, dass ein jährlicher Effekt von mindestens 4 Prozent des BIP angestrebt werden sollte. Man sollte sich nicht darum sorgen, dass es in der Regel lange, oft zu lange, dauert, bis die Finanzpolitik greift – es gibt keine Anzeichen dafür, dass es eine rasche konjunkturelle Erholung geben wird. Mit anderen Worten, auch wenn die volle Wirkung erst in der zweiten Jahreshälfte zu spüren ist, ist es nicht zu spät. Man muss nur aufpassen, dass es nicht eine neue Blase gibt.

In der jetzigen Lage kann es nach Krugman nur eine Strategie geben: tun was immer getan werden muss, um die Krise zu überwinden. Und wenn das nicht reicht, noch mal draufsatteln oder was anderes versuchen – bis das Geld wieder fließt und die Wirtschaft sich erholt.

Ein gutes Buch zur rechten Zeit.