Am Mittwoch hatte Marco Annunziato von der italienischen Bank UniCredit unter der Überschrift „Reckless Thrift“ die Überschussländer China und Deutschland massiv angegriffen – sie seien wegen ihrer gewaltigen Leistungsbilanzüberschüsse mitverantwortlich für die globale Krise. Sie sparten zuviel, und insbesondere Deutschland setze auf eine Erholung des Welthandels statt die Rezession durch eine kräftige Stimulierung der Inlandsnachfrage abzumildern und zu verkürzen. Ebenso wie die anderen Länder des Euroraums verlasse es sich zu sehr auf die automatischen Stabilisatoren – steigende staatliche Defizite durch Steuerausfälle und höhere Sozialleistungen – und kritisiere die Ausgabenpläne der amerikanischen und britischen Regierungen, hoffe aber gleichzeitig, dass sie die konjunkturelle Wende bringen. Die größte europäische Volkswirtschaft wieder einmal als Trittbrettfahrer!
Das ist in diesen Tagen der Tenor in der ausländischen Presse, in den Analysen der internationalen Organisationen und natürlich beim G20-Treffen in London. Ich plädiere ja auch immer für eine energischere anti-zyklische Politik Deutschlands, aber weswegen die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse so verwerflich sein sollten, kann ich nicht erkennen. In einer Währungsunion spielt nur eine Rolle, wie groß der aggregierte Überschuss ist – und der war in den letzten Jahren immer leicht negativ. Niemand kümmert sich darum, ob Kalifornien gegenüber Florida einen Überschuss hat oder nicht, oder Bayern gegenüber Brandenburg, und es sollte uns auch nicht sonderlich beunruhigen, dass Deutschland nach Spanien, Italien oder Frankreich mehr an Gütern und Dienstleistungen exportiert als von dort bezieht. Die kapitalreicheren Länder und Regionen sind naturgemäß Nettoexporteure von Kapital – sie vergrößern dafür im Gegenzug ihr Auslandsvermögen.
Das Problem war und ist, dass zu viel von dem deutschen Geld in Immobilien landete und offenbar nicht für eine bessere Kapitalausstattung solcher Arbeitsplätze genutzt wurde, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Wenn ich die Vororte von Madrid zubetoniere, habe ich zwar Kapital eingesetzt (und geschaffen), aber meine Exportfähigkeit um kein Jota gesteigert. Das ist jedoch ein Problem der Strukturpolitik in den Empfängerländern, kein deutsches.
Überschüsse in der Leistungsbilanz können allerdings auch signalisieren, dass die inländischen Ertragschancen von Investitionen als mickrig angesehen werden, jedenfalls als ungünstiger als im Ausland. Das kann mit abnehmenden Grenzerträgen zu tun haben, weil der Kapitalstock bereits so groß ist – was ich, wenn ich mir den Zustand unseres Bildungswesens und der Infrastruktur ansehe, nicht glauben mag – oder mit fehlenden anderen Anreizen für Investitionen. Vor allem die schlechten Absatzaussichten angesichts jahrelanger Lohnzurückhaltung und die forcierte Konsolidierung der Staatsfinanzen dürften dafür verantwortlich sein. Der Konsum ist einfach zu schwach.
Deutschland kann jedenfalls eine Menge tun, um der Nachfrage wieder auf die Sprünge zu helfen. Die Staatsfinanzen sind gesund, die Sparquote ist hoch (11,8% bei den privaten Haushalten, 23,9% gesamtwirtschaftlich), das Preisniveau sinkt seit vergangenen September mit einer Verlaufsrate von 1,1%, und Probleme mit der Auslandsverschuldung oder dem Wechselkurs gibt es nicht, wie auch?
Welcher finanzpolitische Impuls wäre angemessen? Entscheidend ist das Ausmaß der Unterauslastung der Kapazitäten. In den sieben Jahren bis zum letzten zyklischen Höhepunkt im ersten Quartal 2008 hat sich das reale BIP im Durchschnitt um 1,4% pro Jahr erhöht. Diese Zahl kann als Schätzung dienen für die mittelfristige Wachstumsrate des sogenannten Produktionspotentials, also der Kapazitäten. Unter der Annahme, dass das reale BIP im ersten Quartal um 2% q/q sinkt, dann die nächsten beiden Quartale um jeweils 1% q/q und es dann im Schlussquartal eine Stagnation gibt (was etwa dem Konsens entspricht), errechnet sich für Ende 2009 eine Unterauslastung von 9,2%, als Differenz zwischen dem aktuellen und potentiellen realen BIP.
Um also den Nachfrageausfall auszugleichen, wäre bis Ende 2009 ein gesamtstaatliches Defizit von 2 ½% (für die automatischen Konjunkturstabilisatoren) plus 9,2% gleich 11 ½% des BIP anzustreben. Das entspricht etwa den amerikanischen Größenordnungen.
Wie sollte ein solches Programm aussehen? Es geht darum, kurzfristige Nachfrageimpulse auszusenden und mittelfristig die Wachstumsrate des Produktionspotentials, also unseren künftigen Wohlstand, zu erhöhen. Ich stelle mir bei den rasch greifenden Maßnahmen eine Mischung aus niedrigerer Mehrwertsteuer (von 19% auf 10%), Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, Aufstockung von Hartz IV und Kindergeld, sowie eine vorübergehende Senkung der Sozialabgaben vor. Dazu käme ein Programm für die Zukunft: zeitlich limitierte Subventionen für neue Unternehmensinvestitionen, zusätzliche Ausgaben für das Bildungswesen auf allen Stufen, vorgezogene Investitionen in das Verkehrswesen (vor allem für die Bahn) und Mehrausgaben für die Forschung.
Bei allem Aktionismus muss darauf geachtet werden, dass nicht zu viel Unsinniges passiert. Willem Buiter hat am Dienstag in seinem FT-Blog die Abwrackprämie als ein Paradebeispiel für eine verfehlte Politik dargestellt – das sei so, als würde man empfehlen, möglichst viele Häuser abzufackeln, damit die Bauwirtschaft wieder mehr zu tun hat. Das sei schlimmer als Gräben auszuschütten und dann wieder zuzukippen. Wohl wahr.
Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker haben im letzten Wirtschaftsdienst einmal mehr dafür plädiert, dass die Crux bei uns der viel zu langsame Anstieg der (Real-)Löhne sei. Das kann man beklagen, und es ist auch richtig, nur weiß ich nicht, wie das zu ändern wäre. Lediglich beim Staat haben die Gewerkschaften relativ leichtes Spiel in der gegenwärtigen Situation, und hohe Abschlüsse (8% für zwei Jahre?) könnten eine Signalwirkung für die übrige Wirtschaft haben. Stark wird sie nicht sein, denn die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer schwächt sich zusehends – bis Jahresende wird die Arbeitslosenquote wieder bei 9 ¼% liegen, nach ihrem zyklischen Tiefpunkt von 7,6% im vergangenen Herbst. Das wird vermutlich nicht das Ende sein, denn der Arbeitsmarkt ist bekanntlich ein nachlaufender Indikator der Konjunktur. Nein, von den Löhnen sollte man keinen starken Impuls erwarten, so wünschenswert das wäre.
Die Ankündigung eines großes Konjunkturprogramms wäre übrigens hilfreich bei den kommenden Verhandlungen über die künftige Struktur des Finanzsektors, vor allem was Steueroasen, Hedge Funds, Aufsichtsstandards und dergleichen betrifft. Das quid pro quo hieße, wir kommen den Amerikanern und Briten beim Konjunkturprogramm entgegen, dafür sind sie bereit, Risiken aus dem Finanzsystem zu nehmen.
Rücksichtslose deutsche Sparer? Ist Herr Mustermann, zusammen mit Frau Watanabe aus Japan und Herrn Li aus China tatsächlich mit schuld an der gegenwärtigen Misere? Die Leute sind nun mal so wie sie sind, und sie haben bestimmte Präferenzen bezüglich ihres Ausgaben-Sparmixes. Wenn sie aus Makrosicht zu viel sparen, was gegenwärtig tatsächlich der Fall ist, muss die Politik das Anreizsystem ändern und einen Teil der Nachfragelücke füllen, oder sogar mehr als das. Nur bei den Zinsen wurde bisher das getan, was zu tun war.