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Einkommensverteilung in den USA : wie in der dritten Welt

 

Warum wird die Einkommensverteilung seit einigen Jahren in den reicheren Ländern immer ungleichmäßiger? Und warum wird das im großen Ganzen einfach so hingenommen? Die linken Parteien, die die Situation korrigieren könnten, verlieren in Europa ständig an Boden und haben sich offenbar damit abgefunden, dass sich mit dem Thema heutzutage kein Blumentopf mehr gewinnen lässt. Hinweise aus den USA, weshalb dies so ist, liefert der New Yorker Soziologe Dalton Conley in seinem neusten Buch, das ich gerade lese. „Elsewhere, U.S.A.“ (Pantheon Books, 2009) beschreibt den Lebensstil der oberen Einkommensschichten – wie sie auf zunehmend unsichere Beschäftigungsverhältnisse reagieren, wie sich Freizeit und Arbeit bei ihnen bis zur Unkenntlichkeit vermischen, wie sie immer mehr arbeiten, wie selbst Männer neuerdings darauf achten, dass die künftige Ehefrau gut verdient – auch wenn Kinder da sind, glauben beide arbeiten zu müssen -, und wie dadurch ihr Einkommen letztlich viel stärker zunimmt als das der unteren Schichten, mit der Folge, dass die Einkommensverteilung allmählich so ist wie in Drittweltländern. Gerade die richtige Lektüre für den Liegestuhl im Schatten: unterhaltsam, manchmal etwas wirr, aber oft mit präzisen Beobachtungen, auf die ich so schnell nicht gekommen wäre. „Modern man lives in New York and Silicon Valley …,“ und auch in Deutschland ist er schon hier und da gesichtet worden.

Was der Ferienlektüre für einen Volkswirt wie mich zusätzlich einen cheap kick gibt, sind die netten Fehler, die der Autor macht – aber das nur am Rande. Er behauptet beispielsweise, dass Wettverluste sich gegenwärtig auf ein Viertel der Ausgaben amerikanischer Haushalte belaufen, nach nur 5 Prozent im Jahr 1970 (S. 34), oder dass die Angst vor Streiks ein wichtiger Grund dafür war, dass Amerika seinen Energiebedarf zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von Kohle auf Öl umstellte (S. 39), oder dass die Gebühren für Handys 1998 um nicht weniger als 500 Prozent niedriger waren als 1983 (S. 134) – seit wann können Preise um mehr als 100 Prozent sinken? – ; oder dass eine Steuer von 1 Prozent (!) auf das Vermögen zum Jahresende komplett die Einkommensteuer ersetzen könnte – diese werde von den besser Verdienenden ohnehin umgangen (S. 184). Soziologen haben’s mit den Zahlen, und Lektoren scheint es in den USA auch nicht mehr zu geben (oder sie haben nur Englisch studiert). In einer Besprechung des Buches in der New York Times vom Januar wird auf eine ganze Reihe weiterer Fehler und Schwächen hingewiesen. Kurz: Das Buch ist nichts für jemanden, der eine systematische Analyse erwartet.

Zur Sache: Conley, Dekan für Social Sciences an der New York University, hat immerhin einiges Interessantes zu den Ursachen der zunehmend ungleichmäßigeren Einkommensverteilung zu sagen. (Wer sich für die harten Zahlen interessiert, dem sei eine Studie der OECD empfohlen: „Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries“, 2008). Die Gesellschaft zerfällt in zwei Klassen: die „knowledge workers“ und die anderen. Durch den Einzug der Computer in unser tägliches Leben sind die stupiden Jobs weitgehend verschwunden – eine moderne Sekretärin nennt sich heute Administrative Assistant und ersetzt ein Schreibbüro sowie ein Reisebüro, führt den Urlaubs- und Terminkalender der ganzen (kleinen) Firma und kocht auch noch den Kaffee, vorausgesetzt, der Chef tut das gelegentlich auch für sie. Die physisch anstrengenden Arbeiten sind derweil in die Niedriglohnländer verlagert worden. Die einzigen „einfachen“ Jobs, die noch in Amerika geblieben sind, sind Dienstleistungen bei denen ein persönlicher Kontakt zum Kunden unumgänglich ist: Kellnern, Zubereitung von Essen, Krankenpflege, Altenpflege, Taxifahren, Babysitting und so weiter. In den Bereichen nimmt die Beschäftigung am schnellsten zu. Es ist nur wenig übertrieben, wenn man sagt, dass in Amerika nur noch am Bau und in der Landwirtschaft physische Produkte hergestellt werden, die schwere körperliche Arbeit erfordern.

Insgesamt gibt es durch den Wegfall so vieler einfacher Jobs ein Überangebot an gering qualifizierten Arbeitskräften. Das hält die Löhne unter Druck. Außerdem entwickelt sich eine ganze Klasse von nicht mehr beschäftigbaren Menschen: Sie hängen, oft über Generationen hinweg, von der Sozialhilfe ab oder landen im Knast. Gegenwärtig dürfte es etwa 3,8 Millionen Inhaftierte geben – es sei damit zu rechnen, dass demnächst jeder fünfzehnte Amerikaner mindestens einmal in seinem Leben gesessen hat.

Dabei gehe es den Armen nicht richtig schlecht, jedenfalls nicht schlecht im traditionellen Sinne. Zyniker weisen darauf hin, dass die Angehörigen der amerikanischen Unterschicht oft übergewichtig sind, anders als die wirklich arme Landbevölkerung Indiens oder der Sahelzone. Conley meint sogar, dass sich ihr Realeinkommen, anders als in den offiziellen Statistiken dargestellt, in den vergangenen Jahrzehnten erhöht habe. Er will damit das Phänomen erklären, dass die Armen erstaunlicherweise keinen Ärger machen und sich ruhig verhalten. Ein anderer Grund ist wohl, dass ihre Jobs unsicher sind, dass sie ständig die Arbeitgeber wechseln und dass sie es sich mit der besser gestellten Hälfte der Bevölkerung nicht verderben möchten, weil sie von ihr beschäftigt werden wollen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer ist mittlerweile fast im einstelligen Prozentbereich angekommen.

Die oberen 50 Prozent der US-Bevölkerung leiden ebenfalls unter beruflicher Unsicherheit. Es geht den Leuten materiell zwar gut, wenn nicht sogar hervorragend, aber sie strampeln sich dafür ab ohne Ende. Erstmals in der Geschichte, behauptet Conley, arbeiten sie mehr als die Angehörigen der unteren Einkommensschichten. Sie sind unter anderem deshalb verunsichert, weil sie nicht wissen, wie wertvoll ihr Wissensvorsprung im täglichen Konkurrenzkampf tatsächlich ist und ob sie nicht jederzeit durch Jüngere ersetzt werden können, die sich ihr Wissen problemlos über Wikipedia und andere Quellen im Internet aneignen können. Conley wundert sich auch darüber, weswegen die Europäer im Durchschnitt so viel weniger arbeiten als die Amerikaner, also andere Präferenzen hinsichtlich Einkommen und Freizeit haben. (Er zitiert das NBER Working Paper 11278 von Alessina, Glaeser und Sacerdote aus dem Jahr 2005. Auf die für einen Soziologen eigentlich spannende Frage, warum das so ist, geht er nicht ein.) Der Druck, zu arbeiten und Geld zu verdienen, ist so groß, dass es zunehmend zwischen Arbeitszeit und Freizeit keinen Unterschied mehr gibt. Der Laptop und das Blackberry machen’s möglich. Auch im Urlaub hört der Stress nicht auf – immer warten neue Aufgaben, immer gibt es noch viel zu erledigen.

Die Bessergestellten strampeln sich auch deswegen so ab, weil sie so viel Geld für alle Arten von Dienstleistungen brauchen, für den Psychotherapeuten, wenn sie einmal ein persönliches Gespräch führen wollen, für den Klavierunterricht und die Feriencamps der Kids, für das Essen, das in die Wohnung geliefert wird – niemand kocht mehr selbst -, für den jungen Puertorikaner, der die Hunde ausführt, für die Putzhilfen, den Fitness Club, für den Babysitter, das Schulgeld und die Studiengebühren, für die ärztliche Versorgung, die so teuer ist (für die besser Gestellten allerdings auch so gut) wie sonst nirgendwo auf der Welt. Sie wollen ja mithalten. Indem sie so viel arbeiten, erzielen sie letztlich ein auch real kräftig steigendes Einkommen, anders als die in der unteren Hälfte der Pyramide. Im Jahr 1979 lag das mittlere (Median-) Einkommen eines dreißigjährigen High School-Absolventen um 17 Prozent unter dem eines College-Absolventen – zwanzig Jahre später waren es bereits 50 Prozent. Die Einkommensverteilung ähnele inzwischen der von Ländern der Dritten Welt.

Nach Conley haben sich auch die Präferenzen der Amerikaner bei der Partnerwahl in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Weil es so teuer ist, einen bestimmten Lebensstandard zu finanzieren, versuchen nicht nur Frauen, einen gutverdienenden Lebenspartner zu finden, wie es dem klassischen Rollenverständnis entspricht, auch die Männer achten darauf, dass die künftige Ehefrau das Zeug dazu hat, einen erheblichen Beitrag zum Familienbudget zu leisten. Vorbei die Zeiten, als Männer stolz darauf waren, dass ihre Frauen nicht zu arbeiten brauchten. Mehr junge Frauen als Männer besitzen heute einen College-Abschluss. Inzwischen arbeiten 63 Prozent der Frauen mit Kindern von unter sechs Jahren – 1975 waren es noch 39 Prozent (S. 61).

Gleich und Gleich gesellt sich gern – das ist der Trend in den USA, und vermutlich auch bei uns. „Der Wandel der Heiratsstrategien ist vermutlich für etwa 40 Prozent des Anstiegs in der Ungleichverteilung der Einkommen verantwortlich.“ (S. 62 )

Ich hätte ja gern etwas darüber gelesen, ob das alles extrapoliert werden kann, was sich da so tut. Da hält sich Conley leider vollkommen zurück. Gibt es irgendwelche Gegenkräfte? Sollte etwas gegen die immer ungleichere Verteilung der Einkommen und der Lebenschancen getan werden? Er plädiert für eine progressivere Besteuerung, aber das ist leichter gesagt als getan. Die eingangs erwähnte Steuer von 1 Prozent auf das Vermögen ist sicher nicht die Lösung. Das gäbe nicht nur eine Revolution der Hausbesitzer (inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung), das Geld würde auch höchstens ein Fünftel der staatlichen Ausgaben decken – und was passiert, wenn die Vermögenspreise um 20 Prozent und mehr sinken, wie wir es gerade erleben? Sollen die Steuern dann erhöht werden? Ich will fair sein, das ist nicht das Thema, mit dem sich ein Soziologe herumschlagen muss.

Conley beschreibt im Grunde nur das, was wir ohnehin schon wissen und wie es uns in den anspruchsvolleren Talkshows täglich serviert wird. Das ist letztlich unbefriedigend. Für Leute wie mich, die nicht einfach hinnehmen möchten, dass sich die Einkommen von Arm und Reich immer weiter auseinanderentwickeln, fängt die Diskussion nach der Diagnose erst an – es muss unter anderem, aber vor allem, um das Schließen von Steuerschlupflöchern, das Austrocknen von Steueroasen und die Integration der bildungsfernen Schichten und des Prekariats in den Mainstream gehen. Das wird ja auch hier im Blog immer wieder thematisiert.