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China wächst und wächst … und wächst weiter

 

Oder doch nicht? Fragt sich, ob wir es mit einer gigantischen Blase zu tun haben, deren Platzen ziemlich schlimme Folgen sowohl für China als auch den Rest der Welt hätte. Um das herauszufinden, bin ich zwei Wochen lang in Peking, Xi An und Schanghai. Ich schreibe dies in einem der beiden Gästehotels der Jiao Tong Universität von Xi An – Sie erinnern sich, die Kanzlerin war hier vor ein paar Tagen und hat sich die Armee der Terracotta-Krieger angesehen, in Wirklichkeit ging es aber natürlich um die Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen. Die Stadt Xi An hat übrigens sechs Millionen Einwohner.

Blase oder nicht? Wir Ökonomen haben immer Probleme mit der Vorhersage konjunktureller Wendepunkte oder wann eine Blase platzt, und sogar damit, ob überhaupt Blasen existieren oder nicht.

Die gängigen Prognosen für die chinesische Wirtschaft extrapolieren jedenfalls die hohen Wachstumsraten der letzten Jahre in die Zukunft – sie werden geringer ausfallen, aber nur etwas. Die Weltbank beispielsweise erwartet für das reale BIP im Jahr 2010 eine Zuwachsrate von 9,5 Prozent (Quarterly Update, June 2010); bis 2015 schwächt sich die Dynamik dann allmählich auf 7,9 Prozent ab, ohne dass es zwischendurch zu einer Rezession kommt.

Da auch das sogenannte Produktionspotential mit ähnlichen Raten wachsen soll und die Inflationsrate wie in allen Ländern, die sich im produktivitätsgetriebenen Aufholprozess befinden, höher ausfallen wird als in den reichen Ländern, ist abzusehen, dass das nominale chinesische Bruttoinlandsprodukt, umgerechnet mit tatsächlichen Wechselkursen, in etwa 15 Jahren so groß sein wird wie das des Euroraums oder der USA. In diesen Monaten zieht China gerade an Japan vorbei.

Wie in der jüngeren Vergangenheit sind die Investitionen der Haupttreiber von Angebot und Nachfrage, viel mehr als der Außenbeitrag. Letzterer wird nach den Weltbank-Prognosen von nun an nur noch einen Wachstumsbeitrag von 0,1 Prozentpunkten leisten. Insofern sind Forderungen, China möge doch bitte stärker aufwerten, damit andere Länder wettbewerbsfähiger werden, nicht mehr sonderlich relevant. In diesem Jahr werden die chinesischen Einfuhren laut Weltbank real um 26,4 Prozent höher ausfallen als im Vorjahr und damit erneut rascher zunehmen als die Ausfuhren. Dieser Trend dürfte sich aufgrund der extrem großen Wachstumsdifferenzen gegenüber dem Rest der Welt in den kommenden Jahren fortsetzen, ohne dass es beim Wechselkurs gegenüber dem Dollar zu großen Änderungen kommen muss. China wird für’s Erste die Konjunkturlokomotive der Welt bleiben – weil die Inlandsnachfrage so stark zunimmt –, vorausgesetzt die Prognosen eines rezessionsfreien Expansionsprozesses erweisen sich als korrekt. Bisher sind die ohnehin gewöhnlich recht optimistischen Prognosen allerdings immer von der Wirklichkeit übertroffen worden.

China: Wichtige Wirtschaftsindikatoren
(Weltbank Prognosen)
  2010 2011 2012 2013 2014 2015
  gg. Vj. in Prozent
reales BIP 9,5 8,5 8,2 8,0 7,9 7,9
Inländische Nachfrage 9,6 8,5 8,3 8,2 8,1 8,0
   Konsum 9,5 9,1 9,1 8,9 8,9 8,9
   Bruttoinvestitionen 9,7 8,0 7,6 7,4 7,2 7,0
Exporte 23,0 8,9 7,9 7,9 7,9 7,9
Importe 26,4 9,0 8,6 8,4 8,4 8,4
  Wachstumsbeiträge in Prozentpunkten
Inländische Nachfrage 9,1 8,3 8,1 7,9 7,8 7,7
Außenbeitrag 0,4 0,3 0,1 0,1 0,1 0,1
   in % des BIP
Bruttoersparnis  51,1 50,9 50,8 50,4 50,0 49,6
Bruttoinvestitionen 46,4 46,2 45,9 45,6 45,3 44,9
Leistungsbilanzsaldo 4,7 4,7 4,9 4,8 4,7 4,7

Quelle: Weltbank, China quarterly update June 2010

 

Die treibende Kraft des chinesischen Wirtschaftswunders sind die Investitionen. In diesem Jahr dürften sie nach dem Bericht der Weltbank 46,4 Prozent des realen BIP ausmachen, ähnlich wie im Vorjahr, und ähnlich wie es auch für die folgenden Jahre erwartet wird. Zum Vergleich: Die deutsche Investitionsquote bewegt sich seit Jahren um die 18-Prozent-Marke.

Gespeist werden diese Ausgaben von einer rekordhohen nationalen Sparquote in der Größenordnung von 51 Prozent – sie ist dermaßen hoch, dass noch etwa 5 Prozent des BIP übrig bleiben für Nettokapitalexporte in den Rest der Welt. Der Investitionsboom übertrifft inzwischen alles, was aus der Wirtschaftsgeschichte bekannt ist, sowohl was seine Dauer als auch was seine Intensität angeht. Dabei handelt es sich um das bevölkerungsreichste Land der Welt.

Grafik: Chinas Investitionsboom im historischen Vergleich

Auf den privaten Verbrauch entfällt gerade einmal ein Drittel der Gesamtnachfrage. Das sieht nach wenig aus, und ist es auch, relativ gesehen. Da die Zuwachsraten aber in etwa so hoch sind wie die des realen BIP, steigt der Lebensstandard rasant an. Inzwischen werden in China mehr Autos verkauft als in den USA, und es gibt in Deutschland in diesem Sommer mehr chinesische Touristen als japanische.

Die eigentliche Frage ist, ob die Investitionen mit Raten von real acht bis zehn Prozent weiterwachsen können, und ob nicht inzwischen ein Punkt erreicht ist, an dem man von Überinvestitionen sprechen muss. Sicher ist, dass die Effizienz der Investitionen, gemessen an ihrem BIP-Anteil in Relation zum realen Wirtschaftswachstum (dem sogenannten „incremental capital output ratio„), sehr niedrig ist, sowohl im historischen Vergleich als auch im Vergleich mit Deutschland oder den USA heute. Zu viel Geld wandert in Projekte, die nicht mehr viel zur Produktivität beitragen, beispielsweise Immobilien oder Autobahnen. Das Ganze hat einen stark spekulativen Anstrich.

Es wird gefördert durch ein Zinsniveau, das weit unter der Zuwachsrate des nominalen Sozialprodukts (von zuletzt 11 Prozent) liegt; diese Zuwachsrate gilt als Anhaltspunkt für so etwas wie den Gleichgewichtszins. Für normale Spareinlagen gibt es zur Zeit weniger als 2 ½ Prozent, während Unternehmen für einjährige Kredite nur 5,31 Prozent zahlen müssen. Geld ist also billig zu haben, vorausgesetzt man hat die richtigen Kontakte und bekommt es, während sich das Sparen bei der Bank kaum lohnt.

In den vergangenen zehn Jahren ist das inländische Kreditvolumen geradezu explodiert. Es ist um 50 Prozentpunkte stärker gestiegen als das nominale Sozialprodukt und hat in Relation zum nominalen Sozialprodukt ein Niveau erreicht, das dem japanischen im Jahre 1991 und dem amerikanischen im Jahre 2008 entspricht. Ein Platzen der chinesischen Kreditblase könnte daher unmittelbar bevorstehen.

Es gibt in der Tat eine Reihe von Anzeichen, die darauf hindeuten, dass China die Investitionsprojekte ausgehen könnten. Hier einige Beispiele:

  • Die Stahlproduktion liegt bei 500 Millionen Tonnen im Jahr, was so viel ist wie der kombinierte Output der USA, Eurolands, Japans und Russlands. Die Kapazitätsgrenze liegt sogar bei 660 Millionen Tonnen. Kein Wunder, dass die Stahlpreise weltweit unter Druck sind.
  • China verbraucht mehr Zement als der Rest der Welt (1,35 Mrd. Tonnen) und auch mehr pro Kopf als vor zwei oder drei Jahren in Spanien und Irland; dort war es bekanntlich zu Immobilienblasen gekommen, die inzwischen mit einem großen Knall geplatzt sind. Die Geschichte könnte sich wiederholen.
  • Ein Drittel der Aluminiumkapazitäten befindet sich in China, obwohl es dem Land an billigen Energiequellen mangelt. Die Nachfrage nach Aluminium wird zudem meist mit wohlhabenden Ländern assoziiert, nicht mit Schwellenländern.
  • Die Internationale Energieagentur hat soeben berichtet, dass der Energieverbrauch, gemessen in BOEs (barrels of oil equivalents), in keinem Land so groß ist wie in China, also einschließlich der USA, dem bisherigen Spitzenreiter. Ein Grund sind staatliche Subventionen, die zu ungeheurer Verschwendung verleiten. Pro Einheit des nominalen Sozialprodukts verbraucht China sechs mal mehr Energie als Italien, und drei mal mehr als die USA.
  • Der durchschnittliche Preis für eine Wohnung liegt in den großen Städten beim 15- bis 20-fachen des durchschnittlichen Jahreseinkommens eines Haushalts, und beim Zehnfache in den Provinzstädten. In London oder Los Angeles waren es vor dem Platzen der dortigen Blasen das Neunfache und Zwölffache!
  • Das Volumen und die Qualität der Infrastruktur sind inzwischen auf dem Stand reicher Länder: In den USA stehen für 250 Millionen Fahrzeuge 2,7 Millionen km befestigte Straßen zur Verfügung, davon 80.000 km Autobahnen. In China, von der Fläche her vergleichbar, sind es 43 Millionen Fahrzeuge, ebenfalls 2,7 Millionen km befestigte Straßen, sowie 60.000 km Autobahnen. Nachholbedarf gibt es allerdings noch im Schienenverkehr – aber das ändert sich gerade dramatisch. 30.000 km an ICE-Strecken sind geplant und im Bau. In zwei Jahren wird man die 1.300 km zwischen Peking und Schanghai in weniger als fünf Stunden zurücklegen können.

In wichtigen Bereichen gibt es also mit ziemlicher Sicherheit Überkapazitäten und Anzeichen für Blasen. Weiter dort zu investieren ist kaum sinnvoll. Wo also soll das Wachstum herkommen, wenn die Investitionen stagnieren oder sogar zurückgehen?

Da der private Konsum nur einen so kleinen Anteil an der Gesamtnachfrage hat, müsste er schon mehrere Jahre lang real mit Raten von 20 bis 30 Prozent zunehmen, damit das BIP weiterhin mit 8 bis 10 Prozent expandieren kann. So etwas hat es in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht gegeben. Außerdem brauchte man dafür ein viel rascheres Wachstum der Haushaltseinkommen als bisher, vor allem eine deutliche Erhöhung der Löhne, zulasten der Gewinne. Das bisherige Wachstumsmodell, das seit Deng Xiaoping eine ungleiche Einkommensverteilung bewusst in Kauf nahm, müsste aufgegeben werden.

Die Einkommensentwicklung war in meinen bisherigen Gesprächen immer ein Hauptpunkt, wenn ich wissen wollte, wo denn die Risiken lägen. Ein Bauarbeiter in der Provinz verdient 200 Euro im Monat, einer in den großen Städten bis zu 450 Euro. Ein voll bestallter Professor an einer angesehenen Universität bekommt immerhin 2.600 Euro im Monat und gilt als reich. Wenn ich mir den Verkehr auf der Straße und die vielen neuen Autos anschaue, müsste es eigentlich viele reiche Leute geben. Universitätsabsolventen mit dem Bachelor-Grad bekommen jedoch gerade einmal 300 Euro im Monat – wenn sie einen Job finden. Das scheint nur in Schanghai und Peking problemlos zu sein (und, wie ich höre, am problemlosesten in Hongkong).

Die Arbeitnehmer haben im Allgemeinen keine starke Verhandlungsposition, nicht zuletzt weil die Unterbeschäftigungsquote nach Schätzungen des Statistischen Amtes bei 27 Prozent liegt – die offizielle Arbeitslosenquote von 9,6 Prozent gibt die wahre Situation nicht richtig wieder.

Andererseits fürchtet die Regierung nichts so sehr wie Streiks und soziale Unruhen und wird daher alles tun, damit es nicht zu einem Wachstumseinbruch kommt. Ein neues großes Konjunkturpaket scheint bereits auf dem Weg zu sein. Es gibt ja immer noch viel Sinnvolles zu tun. Das Einkommen pro Kopf liegt bei nur etwa einem Zehntel des westeuropäischen.

Plausibel wäre es, den Dienstleistungssektor weiter zu liberalisieren, die wichtigsten Lebensrisiken, also Arbeitslosigkeit und Krankheit, besser abzusichern, die Ausbildung der Menschen zu verbessern, damit die Produktion in Bereiche mit größerer Wertschöpfung verlagert werden kann, marktbestimmten Zinsen die Steuerung der Investitionen zu überlassen, die Energieeffizienz zu steigern, endlich mehr für die Umwelt zu tun, die Investitionsbedingungen für ausländische Unternehmen zu verbessern, den Konsum durch eine Änderung des Steuersystems zu fördern und manches mehr. Ich werde versuchen herauszufinden, ob ein solcher Strukturwandel ernsthaft erwogen wird oder wo er schon im Gange ist.

Er wird den drohenden Rückschlag bei den Investitionen vermutlich nicht ausgleichen können. Strukturwandel ist eine mittelfristige Sache.

Bisher hatte ich immer argumentiert, dass Blasen in einer rasch expandierenden und breit aufgestellten Wirtschaft wie der von China nicht so gefährlich sind, vor allem wenn die Sparquote sehr hoch ist und das Land als Ganzes in einer Nettogläubigerposition gegenüber dem Rest der Welt ist, also über finanzielle Reserven verfügt. Es gibt in China auch keine Überinvestitionen wie in Europa und Amerika im 19. Jahrhundert, die durch Erfindungen wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn oder die Elektrizität ausgelöst wurden. China hat bislang keine großen Erfindungen hervorgebracht, sondern kauft sich moderne Technologie einfach ein und macht daher nicht so viele Fehler. Der Aufholprozess könnte deshalb ziemlich robust sein und viele weitere Jahre anhalten – platzende Blasen hier und da wären dann nichts weiter als Irritationen.

Ich bin mir da jetzt nicht mehr so sicher. Aus Anlegersicht würde ich erst mal nicht darauf wetten, dass China in den nächsten ein oder zwei Jahren der Motor der Weltwirtschaft bleiben kann. Das bedeutet, dass Rohstoffpreise kaum noch Potential nach oben haben und eher fallen werden. Zyklische Aktien wären zu meiden, defensive Werte dagegen überzugewichten, ebenso wie länger laufende Anleihen solider Schuldner.

Und die Inflation? Wenn es stimmt, dass China unter Überkapazitäten in weiten Bereichen der Industrie und im Bausektor leidet, würde ich eher vermuten, dass zunächst einmal Deflation das eigentliche Risiko ist. Je nachdem, wie die Politik darauf reagiert, wenn sie überhaupt reagieren kann, könnte später aber wieder der Kampf gegen die Inflation zum Hauptthema werden.