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Russland braucht Kapitalverkehrskontrollen

 

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat in seinem World Economic Outlook vom April für Russland ein Wachstum des realen BIP von durchschnittlich 4 1/2 Prozent pro Jahr bis 2016 prognostiziert. Was aus deutscher Sicht geradezu traumhaft hohe Zuwachsraten sind, nimmt sich für ein Schwellenland wie Russland eher bescheiden aus. China etwa wird laut IWF jährlich mit Raten von 9 1/2 Prozent expandieren. Wie lässt sich der Unterschied erklären?

Grafik: Russland und China - Jährliches Wirtschaftswachstum seit 1993 im Vergleich

Abgesehen von den vielen strukturellen Problemen Russlands, die das Wachstum behindern – wie der starken Zentralisierung politischer und ökonomischer Macht oder der fast unvorstellbaren Korruption in allen Bereichen des Lebens -, bin ich immer mehr davon überzeugt, dass die verfehlte Wechselkurspolitik die entscheidende Wachstumsbremse war, und ist. Chinas Renminbi ist seit mehr als einem Jahrzehnt ziemlich stabil und gleichzeitig mehr oder weniger unterbewertet, während der Rubel extrem schwankt und inzwischen überbewertet sein dürfte. Als gelehrige Schüler des IWF haben die Russen dem „Washington Consensus“ geglaubt, also dem Dogma, dass auch der Devisenkurs allein von freien Marktkräften bestimmt werden sollte. Die Chinesen haben sich nicht um die Ratschläge des IWF und der amerikanischen Professoren geschert und den Wechselkurs mit allen Mitteln da gehalten, wo sie ihn haben wollten. Die russische Notenbank hat dagegen bestenfalls halbherzig und daher unter dem Strich erfolglos interveniert.

Grafik: Rubel und Renminbi - Wechselkurs zum US Dollar
Grafik: Rubel und Renminbi - Realer Wechselkurs (BIZ)

Ich plädiere dafür, und habe das vor einer Woche auch vor einem russischen Publikum getan, nach chinesischem Muster die Volatilität des Rubel deutlich zu reduzieren, ebenso wie die Volatilität der Exportpreise. Für eine relativ offene Volkswirtschaft wie Russland sind sowohl der Wechselkurs als auch die Außenhandelspreise Schlüsselgrößen. Im vierten Quartal lag die Summe aus Ausfuhren und Einfuhren, das übliche Maß dafür, wie offen oder geschlossen ein Land ist, bei 34,2 Prozent des nominalen BIP. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die Quote 91,4, in den USA 26,0 Prozent. Ich behaupte, wenn es gelingt, die Volatilität dieser Preise (der Wechselkurs ist ja auch ein Preis) zu reduzieren, lassen sich Kosten und Erträge besser vorhersehen, was wiederum die Risikoprämien neuer Projekte und damit die Realzinsen vermindert. Das ist positiv für Investitionen, die ja in der Regel langfristiger Natur sind, und damit letztlich für das Wachstum.

Ohne eine kräftige Expansion des Kapitalstocks wird es kein kräftiges Wachstum des Sozialprodukts geben. Der Lebensstandard verbessert sich nur langsam, wenn ein zu großer Teil der Produktion in den Konsum geht. Fast alles, was die Investitionen fördert, ist daher zu begrüßen. Es gibt Anzeichen dafür, dass jetzt auch der IWF allmählich zu der Einsicht kommt, dass Länder in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung Investitionen und Wachstumsdynamik nicht zuletzt dadurch steigern können, dass sie ihre realen Wechselkurse stabil halten. Deutschland und Japan haben es in den Nachkriegsjahren vorgemacht, und gegenwärtig ist China das überzeugendste Rollenmodell.

Grafik: Russland und China - Investitionsquoten seit 1993

Das Wirtschaftswachstum Russland ist wohl auch deshalb vergleichsweise niedrig, weil es stark mit dem Ölpreis und anderen Rohstoffpreisen korreliert ist.

Grafik: Russland - Reales BIP und der Ölpreis (y/y in %)

Wenn sich der Ölpreis deutlich in die eine oder andere Richtung bewegt, spiegelt sich das sichtbar in den gleichgerichteten Veränderungen des realen BIP. Weiterhin: Ein fester Ölpreis ist gut für das Wachstum, ein schwacher Ölpreis bremst. Russlands Wirtschaft ist auf gefährliche Weise abhängig von den Launen der Rohölmärkte. Als diese in der zweiten Jahreshälfte 2008 einbrachen, als also die Blase endlich geplatzt war, verminderte sich das russische Sozialprodukt in der ersten Hälfte des Jahres 2009 um etwa 10 Prozent. Anders China: Auch im Verlauf der tiefen globalen Rezession expandierte sein Sozialprodukt nie um weniger als 9 Prozent. Chinas Wirtschaft steht auf einer breiten industriellen Basis, mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Dass sie netto Rohstoffe importieren muss, hat ihr bisher nicht nachhaltig geschadet. Ich meine sogar, dass es letztlich ein Vorteil ist.

Wenn die Ölpreise kräftig anziehen, nimmt an den Devisenmärkten im Gleichschritt die Nachfrage nach der russischen Währung zu. Der Rubel wertet dann auf, wodurch Einfuhren entsprechend billiger werden. So lohnte es sich aus russischer Sicht in den Jahren bis zum Sommer 2008 immer weniger, für den inländischen Bedarf zu produzieren, jedenfalls soweit es sich um handelbare Güter und Dienstleistungen handelte. Ganze Industriezweige mussten schließen. Als dann der Rubel im Gefolge des sinkenden Ölpreises wieder abwertete und damit die Wettbewerbsfähigkeit eigentlich wieder hergestellt war, fehlte es einfach an Unternehmen, die diese Chance hätten nutzen konnten. Das Phänomen ist unter dem Stichwort „Dutch disease“ bekannt.

Für Russland ist die Volatilität der Rohstoffmärkte und des Wechselkurses ein großes Problem. An den Weltmarktpreisen für Rohstoffe kann ein einzelner Anbieter nicht viel ändern – er ist ein „Preisnehmer“. Es wäre aber möglich, die Nachfrage nach Rubel durch eine flexible Variation der Ausfuhrabgaben und Einfuhrzölle zu stabilisieren. Steigen die Ölpreise, würden die Ölexporte zunehmend mit Abgaben belastet (die zu einem großen Teil in einen Zukunftsfonds nach norwegischem Muster fließen würden), steigt der Rubelkurs dennoch, würden auch die Importzölle angehoben. Beides sind natürlich Handelsrestriktionen und nicht vereinbar mit einer Mitgliedschaft in der World Trade Organization (WTO), um die sich Russland seit 17 Jahren bemüht. Das macht aber nichts. Schutzzölle und andere Handelsrestriktionen sind legitime wirtschaftspolitische Instrumente für Länder, die extrem unter der Volatilität der Rohstoffpreise leiden.

Das würde es auch erleichtern, den Rubelkurs nach chinesischem Vorbild festzuschreiben. Ich schlage im Übrigen vor, nicht den Dollar, sondern den Euro als Referenzwährung zu verwenden. Mehr als drei Viertel des russischen Handels und der Kapitalströme entfallen auf die europäische Währungsunion. Die gegenwärtige Praxis, den Rubel an einen Korb aus Dollar (55 Prozent) und Euro (45 Prozent) zu binden, ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Da die Wirtschaft Russlands nur etwa 6 Prozent des aggregierten BIP der USA und Eurolands ausmacht, wird es nie gelingen, einen bestimmten Euro-Dollarkurs zu stabilisieren. Das wäre aber gelegentlich erforderlich, wenn der Rubelkurs des Korbes stabil gehalten werden soll. China hat sich für den Dollar entschieden, Russland sollte sich an den Euro hängen.

Zu welchem Umtauschkurs? Ich schlage eine einmalige Abwertung von heute 40,27 auf 50 Rubel je Euro vor. Damit wäre auf einen Schlag die jetzige Überbewertung beseitigt. Es würde attraktiver, wieder in Russland zu investieren. Das gilt auch für potentielle Direktinvestoren aus dem Ausland. Importe würden teurer, was der russischen Industrie mehr Luft zum Atmen lässt.

Bei einem festen Wechselkurs zum Euro wird die russische Geldpolitik de facto von der EZB gemacht, was aber nicht weiter schlimm ist, weil deren Entschlossenheit, die Inflation mittelfristig bei etwas unter 2 Prozent zu halten, glaubwürdig ist. Auf Jahre hinaus kann und wird die russische Inflationsrate um drei oder vier Prozentpunkte über der westeuropäischen liegen, ohne dass dies eine Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit bedeuten muss. So lange sich das Land im Aufholprozess befindet, nimmt die Produktivität viel stärker zu als im Euroraum, so dass die Lohnstückkosten selbst bei überproportional steigenden Löhnen nicht außer Kontrolle geraten müssen. Am Ende des Prozesses, also nach Jahrzehnten, wird die russische Inflationsrate mit der des Eurolands konvergieren.

Feste Wechselkurse erfordern allerdings Kapitalverkehrskontrollen. Bei einem nachhaltig fallenden Ölpreis und einer defizitären Leistungsbilanz könnten die Devisenreserven, so groß sie auch sind, sonst innerhalb kurzer Zeit aufgebraucht sein, so dass es dann erforderlich wäre, die Zinsen kräftig zu erhöhen, zu einer Zeit in der die Konjunktur womöglich nicht gut läuft. Das gilt es zu vermeiden. Umgekehrt: wenn die Erdölmärkte wieder einmal boomen, müsste die Zentralbank so viel Euro (gegen die Emission von Rubel) kaufen, dass es zu einer Liquiditätsschwemme käme. Auch das hätte unerwünschte pro-zyklische Effekte. China macht vor, wie die Kapitalströme so kontrolliert werden können, dass der Wechselkurs bei seinem Zielwert gehalten werden kann.

Im Falle Russlands sind private Nettokapitalexporte oft ein Problem. Sie spiegeln das Misstrauen einer kleinen reichen Oberschicht gegenüber dem Staat. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist so ungleichmäßig, dass jederzeit mit einer politischen Reaktion gerechnet werden muss. Dagegen sorgen die großen und kleinen „Oligarchen“ vor. Sie alle sind offenbar bemüht, ihre Schäfchen im sicheren Westen ins Trockene zu bringen. Angesichts des volatilen Rubelkurses gibt es für sie auch wenig Anreize, in Russland selbst zu investieren. Wenn es ihnen durch Kapitalverkehrskontrollen nicht so leicht gemacht würde, ihr Geld im Ausland anzulegen, müssten sie es notgedrungen zu Hause investieren, was normalerweise sowohl die Sparquote als auch die Investitionsquote in die Höhe treiben würde. Das würde das Wachstum des Kapitalstocks fördern und wäre daher wünschenswert.

Ich würde also darauf setzen, dass ein etwas unterbewerteter und gegenüber dem Euro unverbrüchlich fester Wechselkurs, Schutzzölle sowie Kapitalverkehrskontrollen die Investitionsquote und damit die Wachstumsrate des realen BIP nachhaltig erhöhen dürften. Es ist das Erfolgsrezept Chinas. Für Russland bedeutet es allerdings einen radikalen Abschied von der herrschenden Orthodoxie und ist wegen der zahlreichen Interessenkonflikte sicher nicht leicht durchzusetzen.