Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Vive la crise!

 

So hat Eric Le Boucher seinen Beitrag zur Euro-Krise überschrieben, den er am Freitag im französischen Wirtschaftsblatt Les Echos veröffentlicht hat. Der Autor war in den neunziger Jahren Korrespondent von Le Monde in Frankfurt. Er vertritt eine ähnliche Meinung wie ich, dass nämlich die gegenwärtige Eurokrise die einmalige Chance ist, den Euro dauerhaft zu festigen. Le Boucher zitiert eine empirische Studie von zwei „perfiden“ Volkswirten, Alessandra Bonfiglioli und Gino Gancia („Why reforms are so politically difficult?“, 14. Juni, voxeu.org), in der ziemlich schlüssig nachgewiesen wird, dass es für Politiker wahltaktisch weniger riskant ist als allgemein vermutet, wenn sie in einer Krisensituation die nötigen Reformen durchsetzen. Es müssen jedoch „echte“ Reformen sein, nicht Scheinreformen – „les électeurs ne sont pas des idiots qui se font berner par les atermoiements des gouvernements.“ (übers.: „die Wähler sind keine Idioten, die sich durch die Ausflüchte der Regierungen zum Besten halten lassen.“)

Besser noch, Krisen sollten vor allem als Chance wahrgenommen werden. Hat Brecht nicht mal gesagt „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“? Zum selben Ergebnis kommen offenbar auch die beiden perfiden Ökonomen: Die Politiker sollten ihre Angst überwinden und das tun, was nötig ist – durch mutige Taten lässt sich eher eine Wahl gewinnen als durch Rumlavieren.

Im konkreten Fall kommt Le Boucher zu dem Schluss, dass den Europäern einfach einmal klar gesagt werden muss, was Sache ist: „Euroland wird nicht überleben, wenn man nur auf Sparhaushalte setzt. Die Griechen müssen finanziell so unterstützt werden, dass ihre Wirtschaft wieder wächst. Dazu bedarf es eines gemeinsamen europäischen Haushalts, der um einiges größer ist als zurzeit. Man muss alles Nötige tun, wirtschaftlich und fiskalisch, damit der Euro dauerhaft glaubwürdig bleibt“ (meine Übersetzung).

Wenn es so weitergeht wie bisher, schleppen wir uns von einem Rettungspaket zum nächsten. In den Ländern der Peripherie wächst derweil der Hass auf die Gläubiger im Norden, und in den Gläubigerländern erhalten europhobe und nationalistische Parteien Zulauf. Das Europaprojekt könnte leicht scheitern. Das wäre furchtbar. Die Kosten wären im Übrigen höher als das, was jetzt im ungünstigsten Fall an Kosten auf uns zukommt. Hans Magnus Enzensberger hat in einem skeptischen Essay („Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“, Suhrkamp 2011) einige der Vorteile aufgezählt, die uns die EU und der Euro gebracht haben – bevor er auf die vielen Ärgernisse eingeht, insbesondere darauf, dass es mit der sogenannten Subsidiarität, nach der Entscheidungen so nah am Bürger getroffen werden sollten wie nur möglich, nicht weit her ist. Unter dem Strich bleibt aber: „…der Prozeß der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ökonomisch war er lange Zeit derart erfolgreich, daß bis heute alle möglichen und unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um Einlaß bitten.“ (S. 8) Dem könnte ich mühelos einige makroökonomische Argumente hinzufügen.

Wir müssen uns eingestehen, dass wir an einem kritischen Punkt angelangt sind, an dem Kleinmut nur schadet. Griechenland muss sich für eine Weile gewissermaßen entmündigen lassen. Genug der Lügen und Vertuschungen, was seinen Staatshaushalt und seine Schulden angeht. Eine Art europäischer Rechnungshof muss die Finanzpolitik des Landes für ein paar Jahre übernehmen, dabei nicht nur dafür sorgen, dass die Einnahmen ins Lot mit den Ausgaben gebracht werden, sondern dass endlich das Zahlen von Steuern nicht nur als etwas für Dumme gilt, und dass große Teile des staatlichen Vermögens privatisiert werden. Warum müssen Telefongesellschaften, die Post, Autobahnen und die Energieversorger im Eigentum der öffentlichen Hand sein, vor allem wenn das Land in seinen Schulden versinkt?

Ich stelle mir vor, dass man in etwa so vorgeht wie die jeweiligen Zentralregierungen gegenüber Berlin oder dem Saarland, oder gegenüber einem Bundesstaat wie Kalifornien, als die vor dem Konkurs standen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, diese nachgeordneten Gebietskörperschaften des Landes zu verweisen und ihnen zu empfehlen, wieder den Taler oder eine andere neue Währung einzuführen. Die „Sünder“ wurden für eine Zeit an die Kandare genommen und zu ihrem Glück gezwungen.

Im Gegenzug dürfen sie sich zu niedrigen Zinsen verschulden. Griechenland kann ohnehin nicht zu den jetzigen Konditionen an den Kapitalmarkt gehen. Da ständig Schulden fällig werden und die Defizite so schnell nicht verschwinden werden, müssen weiterhin Fremdmittel aufgenommen werden – die heutigen Zinsen von 15 bis 30 Prozent kämen jedoch einem Todesurteil gleich. Nein, es kann nur funktionieren, wenn sich die Euroländer als Gesamtheit zugunsten von Griechenland verschulden. Die Luxemburger EFSF (European Financial Stability Facility) unter der professionellen Leitung von Klaus Regling oder eine Nachfolgeorganisation träten als Emittent langfristiger Anleihen auf und gäben die Mittel unter strengen Auflagen an den griechischen Fiskus weiter. Die Zinsen würden wegen der Garantien der Mitgliedsländer und der sogenannten over-collateralization, also der Überdeckung, kaum höher sein als die Zinsen, die die Bundesregierung zu zahlen hat, also rund 3 Prozent plus, meinetwegen, einem Risikoaufschlag von bis zu einem Prozentpunkt, damit sich das Ganze auch aus der Sicht der Steuerzahlen in den Gläubigerländern lohnt und sich so besser vermarkten lässt.

Ein solches Modell ließe sich ohne weiteres auch bei anderen Wackelkandidaten umsetzen, da die Beträge, um die es geht, in Relation zum Sozialprodukt des Euroraums von fast 10 Billionen Euro überschaubar sind. Zudem handelt es sich ja nicht um Geschenke, sondern um Kredite, deren Verzinsung über den Kosten der Kapitalaufnahme liegt. Eine Umschuldung wäre nicht nötig, und eine Krise à la Lehman Brothers oder schlimmer würde vermieden. Der springende Punkt ist die teilweise und zeitlich begrenzte Übertragung der Finanzpolitik auf eine übergeordnete europäische Ebene. Finanzielle Hilfe ohne diese Bedingung ist rausgeworfenes Geld.

Letztlich läuft der Vorschlag auf die Etablierung eines europäischen Finanzministeriums hinaus. Wenn der Euro Bestand haben will, muss es dazu irgendwann ohnehin kommen. Darauf hatte übrigens Jean-Claude Trichet kürzlich in seiner Karlspreisrede hingewiesen. Die Gelegenheit ist günstig – als größter Gläubiger kann man den Prozess jetzt noch in die Bahnen lenken, die im Interesse der langfristigen Stabilität des Euro sinnvoll sind. Wer den Euro will, darf jetzt nicht knausrig sein, aber die andere Seite muss mitmachen, also die Haushalte nachhaltig sanieren. So kann es gelingen.