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Der Mindestlohn ist zu niedrig

 

Die Katastrophe am Arbeitsmarkt ist bisher ausgeblieben – der Mindestlohn von 8,50 Euro scheint verkraftbar zu sein. Da spätestens seit vergangenem Herbst klar ist, dass er im Januar kommen würde, hätten schon damals die Entlassungen beginnen müssen. Haben sie aber nicht. Vielmehr hat die Anzahl der Jobs in den sechs Monaten bis zum Februar um nicht weniger als 193.000 zugenommen und damit im selben Rhythmus wie in den Jahren zuvor.

Ich gebe zu, dass es für ein abschließendes Urteil noch viel zu früh ist und die gute Konjunktur verdecken könnte, was sich vor Ort bei Friseuren, Kellnern, Verkäufern, Taxifahrern, dem Sicherheitspersonal oder Altenpflegern an Schrecklichem tut, trotzdem fühle ich mich bis jetzt bestätigt: Der Mindestlohn war die richtige Maßnahme zur rechten Zeit. Nur: Er ist zu niedrig und sollte daher in den nächsten Jahren schrittweise angehoben werden, etwa auf 14 Euro.

In den USA, wo gerade darüber diskutiert wird, den seit vielen Jahren bei 7,25 Dollar festgemauerten Mindestlohn zu erhöhen, läuft gerade eine Kampagne für eine Anhebung auf 15 Dollar. Robert Reich, der frühere Arbeitsminister in der Clinton-Regierung und heutige Professor in Berkeley, hält selbst das für eher zu wenig („Why the minimum wage should really be raised to $15 an hour„).

Tabelle: Mindestlohn im internationalen Vergleich

Wer heute 170 Stunden im Monat zum Mindestlohn von 8,50 Euro jobbt, kommt auf einen Bruttoverdienst von 1.445 Euro. Das sind gerade einmal 35 Prozent des durchschnittlichen Bruttolohns eines Arbeitnehmers in Deutschland im Jahr 2014 von 24,30 Euro. Eine Familie lässt sich davon nicht ernähren, sodass der Steuerzahler für den Rest einspringen muss. Bei 14 Euro ergäben sich immerhin 2.380 Euro brutto.

Mit anderen Worten, ein deutlich höherer Mindestlohn entlastet die Sozialkassen und ermöglicht es, die Beiträge und Steuern zu senken, kommt daher der Allgemeinheit zugute. Die Subventionierung der Geringverdiener würde vom Staat auf die Unternehmen verlagert, die daher zumindest in der ersten Runde – bevor die Anpassungsprozesse in Gang kommen – zu den Verlierern bei dieser Umverteilung gehören. Soweit sie in der Lage sind, die höheren Arbeitskosten auf ihre Kunden zu überwälzen, würde die Allgemeinheit auf diesem Umweg doch zur Kasse gebeten. Flächendeckend wird den Firmen das jedoch nicht gelingen, weil sich die meisten von ihnen in einem scharfen Wettbewerb befinden. Es wird ihnen letztlich an die Gewinne gehen. Auch darauf können und werden sie reagieren: Die hohen Löhne zwingen sie dazu, die Produktivität zu steigern, so wie das in Deutschland zum Nutzen aller jahrzehntelang der Fall war, und wie wir es heute in der Schweiz, dem Land mit dem höchsten Lebensstandard, beobachten können.

Keine Frage, per saldo würde die Lohninflation anziehen. Das trägt tendenziell dazu bei, die Deflationsrisiken zu vermindern und ist daher genau das, was der Arzt zurzeit verschreiben würde.

Warum? Selten hat es Inflation gegeben ohne Lohnsteigerungen, die deutlich über die Produktivitätsfortschritte hinausgingen. Allein Geld zu drucken und die Zinsen auf Null zurückzufahren, wie es die EZB zurzeit macht, ist ein Schuss in den Ofen, solange die Bevölkerung noch damit beschäftigt ist, sich zu entschulden und jedenfalls mehrheitlich keine Lust hat, neue Schulden aufzunehmen, egal wie günstig die Konditionen auch sein mögen. Erst wenn die Leute die Aussicht haben, dass ihre Lohneinkünfte demnächst kräftig und nachhaltig steigen und ihre Arbeitsplätze einigermaßen sicher sind, dürften sie sich aus ihrer Reserve locken lassen. Geldpolitik ohne Flankenschutz durch die Lohnpolitik ist ziemlich wirkungslos. Da kommt ein deutlich höherer Mindestlohn wie gerufen.

Eine Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten von Geringverdienern stimuliert außerdem die Konjunktur auf sehr wirksame Weise. Wer heute nicht in der Lage ist zu sparen, wird sein zusätzliches Einkommen mehr oder weniger komplett ausgeben. Durch den kräftigen Anstieg des Mindestlohns geht daher die gesamtwirtschaftliche Sparquote zurück (die Ausgabenquote steigt) und es wird wahrscheinlicher, dass die Binnennachfrage endlich in Schwung kommt. Dadurch wiederum gewinnen die deutschen Einfuhren an Dynamik, der geradezu obszön große Außenbeitrag schrumpft und die Partnerländer, vor allem die im Süden und Osten Europas, können mehr exportieren. Es fällt ihnen entsprechend leichter, ihre Schulden zu bedienen. Das stabilisiert den Euro und freut die deutschen Gläubiger. Zudem verbessert eine gute – oder verbesserte – Konjunktur die Haushaltslage des Staates und trägt indirekt dazu bei, dass die Realzinsen für längere Laufzeiten sinken. Gut für die Investitionen!

Ich will nicht übertreiben, was die positiven Effekte eines hohen Mindestlohns angeht, aber tendenziell geht es in die Richtungen, die ich hier skizziert habe. Die deutschen Unternehmen sind super-wettbewerbsfähig und haben dicke Polster gegen potenzielle Risiken gebildet. Ein Mindestlohn von 14 Euro wird sie nicht umwerfen, zumal sie ja mit einem Anstieg ihrer Umsätze rechnen können und wegen der schlechten Auslastung ihrer Kapazitäten Spielräume bei der Produktivität haben. Die Aktienanalysten erwarten übrigens, dass die börsennotierten Unternehmen ihre Gewinne in diesem Jahr gegenüber 2014 um etwa 30 Prozent steigern werden. In einem Aufschwung ist das der normale Lauf der Dinge. Dadurch verbessert sich aber auch die Verhandlungsposition der Gewerkschaften und nimmt der Vorstellung eines Mindestlohns von 14 Euro ihren Schrecken.

All das mag der Friseurin in Mecklenburg-Vorpommern, die ihren Job los ist, weil sie möglicherweise zu teuer geworden ist, nicht viel helfen. Sie steht auf der Verliererseite beim unvermeidlichen Strukturwandel, den der neue Mindestlohn in Gang setzt. Andererseits ist es per saldo wünschenswert, wenn der Niedriglohnsektor schrumpft und die Arbeitskräfte in Branchen abwandern, die produktiv sind und hohe Löhne zahlen können.

Insgesamt dürfte ein Mindestlohn von 14 Euro nachhaltig zu einer gerechteren Einkommensverteilung beitragen, die Konjunktur stimulieren – vor allem die Binnennachfrage und die Importe –, Deflationsrisiken vermindern und den Euro stabilisieren. Bisher hat noch niemand zeigen können, dass 8,50 Euro irgendwie schädlich sind. Schädlich ist allein, dass dieser Betrag zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist.