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Warum die deutsche Wirtschaft nicht in Fahrt kommt

 

Deutschland gilt zurzeit als der starke Mann Eurolands, mit einer wahrscheinlichen Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts von 1,5 bis 2 Prozent in diesem Jahr. Aber nur im Vergleich zu der Schwäche der Anderen sind das gute Zahlen, objektiv gesehen sind sie mickrig. Selten waren die Rahmenbedingungen so günstig wie jetzt, aber dass sich daraus ein robuster und selbst tragender Aufschwung entwickelt, ist bislang noch nicht zu erkennen. Was passiert, wenn die Zinsen, der Wechselkurs des Euro und die Ölpreise eines Tages wieder steigen, oder wenn Chinas Wachstum einbricht?

Grafik: Effektiver Wechselkurs des Euro für Deutschland

Bis auf die Finanzpolitik stehen alle Ampeln hierzulande auf Grün:

  • Der Euro hat so stark abgewertet, dass die Wirtschaft superwettbewerbsfähig ist, ablesbar am zunehmenden Anteil am Welthandel und einem Leistungsbilanzüberschuss, der auch 2015 trotz der relativ guten Konjunktur weiter steigen wird, auf voraussichtlich acht Prozent des BIP.
  • Die Leitzinsen liegen bei 0,05 Prozent, nach Abzug der erwarteten Inflationsrate von über 1,5 Prozent ergibt sich daher ein Realzins von minus 1,5 Prozent – die Banken bekommen von der EZB noch mehr Geld geschenkt als in der Vergangenheit; der Euribor mit einer Laufzeit von drei Monaten, für die private Wirtschaft der wichtigste Geldmarktsatz, bewegt sich bei minus 0,02 Prozent und befindet sich daher inflationsbereinigt noch tiefer im roten Bereich als der Refinanzierungssatz der EZB.
  • Am langen Ende der Zinskurve kann sich der Bund für 0,7 Prozent verschulden, die Banken für rund ein Prozent, und wenn ein Haushalt eine Festzinshypothek mit einer Laufzeit von 15 Jahren aufnehmen möchte, muss er dafür nur etwa 2,4 Prozent an Zinsen zahlen, „real“ also weniger als ein Prozent – das sieht ebenfalls wie ein Geschenk an die Schuldner aus.
  • Am Aktienmarkt können Unternehmen sehr günstig Kapital aufnehmen; die Anleger bewerten ihre Aktien zurzeit mit dem 18-fachen ihrer Gewinne vom letzten Jahr – sie sind zudem überzeugt, dass die Gewinne der DAX-Unternehmen 2015 noch einmal um knapp 30 Prozent zulegen werden.
  • Seit Mitte 2014 sind zudem die Ölpreise der Sorte Brent von 112 Dollar auf heute 52 Dollar gesunken – in Euro gerechnet sind sie ebenfalls stark gesunken, nämlich um 42 Prozent, wodurch sich, wenn es dabei bleibt, die jährliche Rechnung für Energieimporte um etwa 50 Milliarden Euro oder 1,7 Prozent des BIP reduziert! Die Kaufkraft hat sich dramatisch zugunsten des Energieimporteurs Deutschland verändert – die Käufer von Energie sind wohlhabender geworden, ohne dass sie dafür eine Stunde mehr arbeiten müssen.
  • Am Arbeitsmarkt ist die Boomphase inzwischen wohl vorbei, dennoch bedeutet der Mix aus einem Beschäftigungsanstieg um etwa 0,5 Prozent und Lohnerhöhungen in der Größenordnung von drei Prozent angesichts einer Inflationsrate von nur 0,3 Prozent, dass die Arbeitnehmer real deutlich mehr Geld in der Tasche haben als im vergangenen Jahr – der private Konsum, die bei Weitem wichtigste Nachfragekomponente, kann daher kräftig expandieren, zusätzliche Schulden sind nicht nötig (auch wenn das aus konjunktureller Sicht wünschenswert wäre).

Die Bundesbank schreibt in ihrem neuen Monatsbericht, dass sich die gesamtwirtschaftliche Aktivität im zweiten Quartal verstärkt ausgeweitet haben dürfte. Das ist angesichts der obigen Liste und dem mehr als mäßigen Anstieg des realen BIP um 0,3 Prozent im Winterquartal keine gewagte Aussage. Vermutlich werden 0,5 bis 0,7 Prozent herauskommen. Warum aber nicht einmal eine Reihe von Quartalszahlen von ein Prozent oder mehr? Es fehlt ja nicht an freien Produktionskapazitäten.

Woran es fehlt, ist eine finanzpolitische Wachstumsstrategie. Angesichts der gewaltigen Defizite in der Infrastruktur und im Bildungswesen, frage ich mich, wie lange der Staat noch untätig bleiben möchte. Die Märkte betteln förmlich darum, ihm Geld für lange Fristen und zu historisch einmaligen Konditionen leihen zu dürfen. Für Investitionen in Humankapital und Sachkapital darf sich der Staat verschulden – sie erhöhen tendenziell die Wachstumsrate des Produktionspotenzials und damit die Steuereinnahmen. Es ist gegenüber künftigen Generationen verantwortungslos, dass in diesem Jahr erneut ein gesamtstaatlicher Haushaltsüberschuss von fast ein Prozent des BIP anvisiert wird.