Von den Ökonomen des Internationalen Währungsfonds, der EU-Kommission, der OECD, des Sachverständigenrats oder der deutschen Forschungsinstitute wurde in den vergangenen Monaten wieder einmal vorhergesagt, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessern wird, und zwar sowohl international als auch im Inland: Das Wachstum beschleunigt sich, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Haushaltsdefizite der Staaten vermindern sich, und da die Inflation wieder anzieht, gibt es kein Deflationsrisiko mehr. Wie üblich, sind die Analysten der Banken in dieser Jahreszeit besonders optimistisch; sie sagen voraus, dass die Gewinne der Unternehmen im kommenden Jahr um rund zehn Prozent steigen werden und die Anleger daher nicht viel falsch machen können, wenn sie ihre Aktienbestände aufstocken. Ich möchte noch einmal erleben, dass sie einen Rückgang der Gewinne und Kurse prophezeien. Sie sind offenbar strukturell dazu gar nicht in der Lage.
Allen „offiziellen“ Prognosen ist gemeinsam, dass es keine Wende zum Schlechteren geben wird, also keine Rezession. Genau das könnte aber passieren.
Ein wichtiger Frühindikator ist in dieser Hinsicht der Welthandel. In der Einleitung zum letzten OECD Economic Outlook schreibt Chefvolkswirtin Catherine Mann, dass dieser seit Ende 2014 real zu stagnieren scheine, wenn er nicht sogar schrumpfe. In der Vergangenheit seien so niedrige Zuwachsraten stets mit einer globalen Rezession einhergegangen. Wenn ich sie beim Wort nehme, rechnet sie aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen den Veränderungen von globalem Sozialprodukt und Welthandel mit einer Rezession.
In den Tabellen im hinteren Teil des Outlook ist davon allerdings nichts zu finden: Das reale BIP der Welt wird danach 2016 gegenüber 2015 um 3,3 Prozent steigen, verglichen mit einer Zuwachsrate von 2,9 Prozent im jetzt zu Ende gehenden Jahr. Das sieht nicht nach Rezession aus. Gleichzeitig wird erwartet, dass der Welthandel 2015 um 2,0 Prozent und 2016 um 3,6 Prozent expandieren wird. Die genannten anderen Institutionen warten mit ähnlichen Prognosen auf. Es ist ein Konsensbrei – Wunschdenken und Extrapolation von Trends verhindern, dass die Dinge so gesehen werden wie sie sind.
Wie also steht es um den Welthandel wirklich? Ich schaue mir dazu gern den Baltic Dry Index an, den führenden Index für die Frachtraten von Containerschiffen und Stückgutfrachtern. Trendmäßig, wenn auch stark schwankend, sinkt er seit Mitte 2009, dem unteren konjunkturellen Wendepunkt der globalen Wirtschaft. Sein jetziger Wert ist so niedrig wie seit mindestens drei Jahrzehnten nicht mehr; er liegt um 95 (!) Prozent unter dem Höchstwert, den er unmittelbar vor Beginn der Finanzkrise erreicht hatte. Ein so starker Verfall der Transportkosten kann nur bedeuten, dass die Nachfrage nach Schiffskapazitäten sehr schwach ist, der internationale Handel also rückläufig ist.
Nicht nur die Frachtraten, auch die Preise der international gehandelten Waren sind stark gefallen. Einfuhren und Ausfuhren haben sich laut OECD nach den leichten Rückgängen in den Jahren 2013 und 2014 im Jahr 2015 dramatisch verbilligt, in der Größenordnung acht bis 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Betroffen von diesem Preiseinbruch waren sowohl der Außenhandel der reichen OECD-Länder als auch der grenzüberschreitende Handel im Rest der Welt. Die rückläufigen Preise sind ein weiteres Indiz dafür, dass sich sowohl die Nachfrage nach Exporten als auch nach Importen erstmals seit langer Zeit stark abgekühlt hat, der Welthandel also vermutlich eine Pause eingelegt hat.
Zu einem erheblichen Teil spiegeln die obigen Zahlen den rapiden Strukturwandel wider, der zurzeit in China stattfindet. Gemessen in sogenannten Kaufkraftparitäten ist das Land inzwischen größer als die USA; es ist heute der bedeutendste Importeur der meisten Rohstoffe (einschließlich Erdöl) und für viele Länder in Asien der mit Abstand wichtigste Kunde. Dass jetzt von den chinesischen Wirtschaftspolitikern versucht wird, die Wirtschaft weniger abhängig von der Industrie und Infrastrukturprojekten zu machen und den Schwerpunkt des Wachstums auf den privaten Konsum und Dienstleistungen zu verlagern, bedeutet nicht nur, dass sich das BIP-Wachstum des Landes nachhaltig vermindern wird, sondern auch, dass der neue Fokus auf die Binnennachfrage zulasten des Außenhandels geht. Der wichtigste Teilnehmer am Welthandel zieht sich zurück.
Das gilt im Übrigen ebenso für Länder, die auf Rohstoffexporte angewiesen sind, also für Brasilien, Australien, Kanada, Russland, Südafrika, die Golfstaaten, Argentinien, Venezuela, Nigeria, um nur einige zu nennen. Angesichts des Rückgangs der meisten Rohstoffpreise um die Hälfte und mehr, erleben sie gerade einen sogenannten Terms-of-Trade-Schock. Das ist der technische Ausdruck dafür, dass ihre Realeinkommen eingebrochen sind – um ihre Einfuhren zu bezahlen, müssen sie jetzt doppelt so viel exportieren wie noch vor einem oder zwei Jahren. Sie werden notgedrungen nicht mehr so viel importieren können wie bisher.
Wenn es also tatsächlich nicht gut um den Welthandel steht, dürften die von der OECD für 2016 für das reale BIP vorhergesagten 3,3 Prozent nicht erreichbar sein. Vielleicht kommen am Ende nur zwei Prozent heraus. Ist das schon eine Rezession? Das hängt natürlich davon ab, wie man die definiert. Solange die Zuwachsrate positiv ist, haben wir es nicht mit einer echten Rezession zu tun, könnte man meinen. Aber dann hätte es nach meinem Wissen nach dem zweiten Weltkrieg außer im Krisenjahr 2009 noch nie eine globale Rezession gegeben.
Angemessener ist für mich ein anderer Ansatz: Wenn sich die Lücke zwischen dem, was tatsächlich produziert wird und dem, was ohne übermäßige Anspannung der Ressourcen Kapital und Arbeit produziert werden kann, stark vergrößert, lässt sich das als eine Rezession bezeichnen. Die durchschnittliche Zuwachsrate der Weltwirtschaft lag in den zehn Jahren von 2003 bis 2012 trotz des schweren Rückschlags der Jahre 2008/2009 bei nicht weniger als vier Prozent. Dieser Wert stellt so etwas wie das mittelfristige Potenzialwachstum dar. Wenn das so ist, bedeutet eine Zuwachsrate von zwei Prozent, dass 2016 für die Weltwirtschaft ein Rezessionsjahr sein wird. Jedenfalls wird es sich so anfühlen.
Wenn es so kommen sollte, lassen sich einige andere offizielle Prognosen nicht mehr aufrechterhalten. Insbesondere dürfte es 2016 kaum zu einem Anstieg der internationalen Inflationsrate kommen; die OECD erwartet 1,5 Prozent, nach 0,8 Prozent im Jahr 2015. Es wäre zudem unwahrscheinlich, dass die durchschnittliche Arbeitslosenquote global tatsächlich von 6,8 auf 6,5 Prozent zurückgeht, wie es die OECD zuletzt prognostiziert hat, oder dass die staatlichen Defizite in Relation zum BIP von 3,3 auf 2,8 Prozent sinken werden.
Nicht zuletzt wären alle Gewinnprognosen und damit die Prognosen für die Aktienkurse nach unten zu revidieren. Andererseits wären die Rentenmärkte weniger überbewertet, als das zurzeit von den meisten Analysten unterstellt wird. In den USA könnten sich Bonds von soliden Emittenten erneut zu den Rennern der Saison entwickeln. Und der Ölpreis würde weiter fallen – er liegt schließlich immer noch weit über den sogenannten Grenzkosten der Produzenten in der Golfregion oder in Russland und hat daher noch Spielraum nach unten. In Märkten mit vollkommenem Wettbewerb bestimmen die Grenzkosten den Marktpreis.
Ob der Welthandel tatsächlich stagniert oder sogar fällt, und ob der Zusammenhang zwischen Welthandel und globalem BIP weiterhin stabil ist, ob also meine Grundannahmen stimmen, muss sich noch weisen. Bisher spricht aber wenig dagegen. Eine neue Rezession kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Wäre nicht ohnehin wieder einmal eine fällig?