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Brexit dämpft das Wachstum, Zuwanderer stimulieren es

 

Eins ist sicher, der Austritt Großbritanniens aus der EU wird einen beträchtlichen negativen Effekt auf das Wachstum in unserem Land haben: Im zweiten Halbjahr 2016 und ersten Halbjahr 2017 wird das reale BIP wohl um etwa einen halben Prozentsatz niedriger ausfallen als ursprünglich gedacht. Es handelt sich um einen Einmal-Effekt. Andererseits hat die EU-Kommission am Dienstag ein Arbeitspapier veröffentlicht (An Economic Take on the Refugee Crisis, Institutional Paper 33, July 2016), in dem sie schätzt, dass das deutsche BIP durch die Flüchtlinge und die anderen Zuwanderer von außerhalb der EU real um 0,4 bis 0,8 Prozent zunehmen wird. Die beiden Effekte heben sich kurzfristig also in etwa auf.

Durch die britische Volksabstimmung hat sich das Pfund gegenüber dem Euro kräftig abgewertet – von zuvor 0,77 auf heute 0,84 je Euro, oder um 8,3 Prozent –, und es sieht zusätzlich danach aus, dass es nun auf der Insel zu einer Rezession kommen wird, zur ersten seit 2009. Im vergangenen Jahr betrug der deutsche Überschuss in der Handelsbilanz mit Großbritannien 51 Mrd. Euro. Durch den wahrscheinlichen Anstieg der (nunmehr verbilligten) Einfuhren aus Großbritannien und den noch wahrscheinlicheren Einbruch der Exporte dorthin dürfte sich der Überschuss um vielleicht 15 Mrd. Euro vermindern – das entspricht rund 0,5 Prozent des deutschen BIP und damit der erwähnten Wachstumseinbuße von 0,5 Prozentpunkten. Dabei handelt es sich nur um die Erstrundeneffekte: Da auch die anderen europäischen Länder durch den Brexit Wachstumseinbußen erleiden, dürfte der negative Gesamteffekt größer sein.

Dass die Flüchtlinge das deutsche Wachstum stimulieren, hat vor allem mit den zusätzlichen Ausgaben des Staates zu tun, für das zusätzliche Personal in den Ausländerbehörden, für Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Unterbringung, dann aber auch für den Bau von Sozialwohnungen, die sprachliche und berufliche Förderung und für monatliche Barmittel. Im Frühjahr hatte die EU-Kommission geschätzt, dass sich die direkten Zusatzausgaben in den besonders betroffenen Ländern wie Schweden und Deutschland 2015 und 2016 kumulativ in einer Spanne von 0,1 bis 0,6 Prozent des BIP bewegen dürften. In dem Arbeitspapier wird allerdings eingeräumt, dass es am Ende eher teurer als billiger sein wird.

Mit anderen Worten, die Zuwanderer zwingen die Regierungen zu einer expansiveren Finanzpolitik als geplant, vor allem die deutsche. Das ist fiskalisch leicht zu verkraften. Es geht nicht um Beträge, die in irgendeiner Weise die Bonität des Schuldners Staat beeinträchtigen werden. Der Finanzminister betont unermüdlich, dass es auch weiterhin bei seiner schwarzen Null bleiben wird; vor einigen Tagen konnte er zudem erstmals eine zehnjährige Anleihe begeben, die keinen Kupon trägt, mit einem Emissionskurs von 100,48 und einem Rückzahlungskurs von 100 (sie notiert heute bei 100,82, was einer Rendite von minus 0,08 Prozent entspricht). An dem Dreifach-A-Rating der Bundesrepublik an den Kapitalmärkten wird sich durch die Flüchtlinge nichts ändern, selbst wenn die Ausgaben fünfmal oder zehnmal höher ausfallen sollten.

Im Grunde handelt es sich bei den Ausgaben für die Zuwanderer nicht um staatlichen Konsum, sondern um Investitionen in das deutsche Humankapital. Geld, das für die rasche Integration ausgegeben wird, ist gut angelegtes Geld. Von daher könnten die Ausgaben gefahrlos viel höher sein. Anders ausgedrückt, es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, den Zuzug aus dem Ausland zu erleichtern – dadurch vermindert sich das Durchschnittsalter der Bevölkerung, die Erwerbsbevölkerung nimmt zu, die Renten werden sicherer und das Renteneintrittsalter kann künftig weniger rasch steigen als ohne die Neuankömmlinge.

Grafik:Bevölkerung und Beschäftigung in Deutschland seit 1991

Es fragt sich, wie viele Zuwanderer das Land angesichts der latent xenophoben Tendenzen aufnehmen kann. Gibt es so etwas wie ein Optimum? Rund zwei Millionen Zuwanderer ausländischer Herkunft wie im vergangenen Jahr sind offenbar zu viel, obwohl am Ende wegen der gleichzeitigen Fortzüge netto „nur“ 1,1 Millionen übrig blieben, wovon rund 28 Prozent auf Nichtdeutsche EU Bürger entfielen, nur sie haben unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und können die Sozialsysteme in Anspruch nehmen. À propos „Sozialsysteme“: Es ist wohl ähnlich wie in Großbritannien – die „Ausländer“ zahlen dort, wie es heißt, offenbar mehr ein als sie herausbekommen, sie sind also keine Last, jedenfalls nicht in ihrer Gesamtheit. Nur die neuen Zuwanderer kosten in den ersten Jahren netto etwas.

In Deutschland sterben jährlich fast 200.000 mehr Menschen als Babys geboren werden, und die durchschnittliche Anzahl der Kinder, die eine Frau hierzulande zur Welt bringt, liegt bei 1,2 und damit weit unter der Marke von 2,1, die für eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl nötig ist. Ohne Zuwanderung würde sich das Land immer mehr in eine Rentnerrepublik verwandeln. Der Arbeitsmarkt ist seit Jahren sehr aufnahmefähig, so dass es bei gutem Willen und dem nötigen finanziellen Engagement nicht lange dauern dürfte, selbst Analphabeten aus dem Nahen Osten und Afrika in Brot und Arbeit zu bringen. Freie Stellen gibt es auch für Menschen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Leider laufen die Integrationsmaßnahmen nur schleppend an.

Also: wie viele dürfen kommen? Wenn ein Prozent der Bevölkerung so etwas wie ein Richtwert ist (damit würde das Geburtendefizit in etwa ausgeglichen), reden wir über rund 830.000 Zuwanderer netto pro Jahr. Angenommen, es kämen bis auf Weiteres jährlich gut 300.000 Menschen aus der EU zu uns, dann bliebe für die Zuwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland ein Nettokontingent von rund 500.000. Sollte es in den EU-Nachbarländern eines Tages konjunkturell besser laufen als hierzulande, würden entsprechend weniger EU-Bürger zuwandern, was dann den Spielraum für Nicht-EU-Bürger und die Zuweisung von Flüchtlingen im Rahmen einer einheitlichen EU Flüchtlingspolitik erhöhen würde. 200.000 pro Jahr, wie neuerdings vielfach vorgeschlagen, ist jedenfalls viel zu wenig.

Zuwanderung ist kaum ein echtes Risiko. Sie ist vielmehr eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten.