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Expertenwissen im postfaktischen Zeitalter

 

Logo: Wirtschaftsdienst - Zeitschrift für WirtschaftspolitikExklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Die Wahl Donald Trumps, der Brexit und der Erfolg populistischer Parteien zeigen eine tiefsitzende Skepsis gegenüber Experten und Eliten und deren komplexen Erklärungen der politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge. Den Ökonomen wird vorgeworfen, sich in Detailfragen zu verlieren und ein unrealistisches Menschenbild zu pflegen. Auch die Wahrnehmung, dass Ökonomen die Finanzkrise nicht rechtzeitig haben vorhersagen können, hat am öffentlichen Bild der Ökonomen gekratzt. Wie diagnostizieren die Ökonomen die Problematik? Sind sie sich fehlgeleiteter Schwerpunktsetzungen und missverständlicher Kommunikation bewusst – oder gar selbst von nicht offengelegten Ideologien bestimmt? Was schlagen sie als Ausweg aus der Misere vor? Die Diagnose der Teilnehmer am Zeitgespräch in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienst ist gar nicht so unterschiedlich, die Ansatzpunkte unterscheiden sich jedoch durchaus.

So wurden die Kampagnen für den Brexit und auch für die US-Wahl ja durchaus mit vielen ökonomischen Argumenten geführt – aus Sicht der meisten Ökonomen aber mit den falschen: Vor allem die Abwendung von Globalisierung und Freihandel stehen dabei im Mittelpunkt, diese Haltung richtet sich gegen die Kernaussagen der volkswirtschaftlichen Lehre, die globale Arbeitsteilung als wesentliche Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand ansieht. Am Beispiel des Brexit wird deutlich, dass die Brexiteers auch gar nicht mehr den Rat von Experten suchten, sondern sehr selbstbewusst Expertenwissen für irrelevant erklärten und lieber auf den „gesunden Menschenverstand“ bauen wollten – eine Beobachtung, die durchaus von internationalen Befragungen gestützt wird: Viele der Befragten hielten nicht Regierung, Medien oder Experten für glaubwürdig, sondern Bekannte und Freunde.

Woran kann das liegen? Die Wissenschaftler der Stiftung für deutsche und internationale Politik Lars Brozus und Oliver Geden beschreiben zunächst einmal das Verhältnis von Politikberatern und Politik: Zum einen hat die zunehmende Komplexität der Welt Experten durchaus in eine Stellung mit ausgeprägter Definitions- und Deutungsmacht gebracht. Dennoch versucht die Politik ihre Handlungsautonomie zu bewahren. Gesucht wird der Rat vor allem bei Experten, von denen erwartet wird, dass sie den politischen Vorstellungen des Ratsuchenden entsprechen – dies wird nicht zuletzt gestützt durch die finanzielle Abhängigkeit bestimmter Lehrstühle von ihren Geldgebern oder von Mitteln, die durch die Gutachtenvergabe zufließen: „In der sozialen Realität von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind von Experten erarbeitete Lösungsvorschläge und Handlungsempfehlungen daher selten politisch neutral, und seien sie auch noch so wissenschaftlich begründet.“

Aida Ćumorović und Reint Gropp vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle sehen vor allem die unterschiedliche zeitliche Perspektive von Wissenschaftlern und Politikern als Problem an. Während die einen eine langfristige Perspektive einnehmen, denken die anderen nur in Vierjahreszeiträumen. Erschwerend wirkt eine asymmetrische Wahrnehmung bei den Wählern: „Positive Entwicklungen werden gerne der eigenen Leistung zugeschrieben, negative gerne dem Staat angehängt.“

Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie sieht die Probleme im Kern der ökonomischen Wissenschaft, die wesentliche Fragen ausblendet: „Fragen z.B. von Macht, der historischen, politischen und gesellschaftlichen Einbettung ökonomischer Realität …“. Vor allem der methodologische Individualismus, d.h. die Betrachtung von dezidiert individuellen Entscheidungen, hilft nicht dabei Massenphänomene zu erklären. Auch das tief verankerte liberale Weltbild der Ökonomen entspricht häufig nicht der wahrgenommenen Realität der Wahlbürger. Zudem „blendet [moderne Wirtschaftswissenschaft] durch ihre Mathematisierung und Formalisierung ihren genuin sozial- und kulturwissenschaftlichen Charakter aus.“

Das sieht Karl-Heinz Paqué von der Universität Magdeburg und ehemaliger Finanzminister in Sachsen-Anhalt ganz ähnlich. Er erkennt bei den Ökonomen ein „technokratisches Denken“ und sieht dessen Nachteile: „Modelle müssen zwangsläufig bestimmte Aspekte der Realität ausblenden, und wenn es sich um politisch wichtige Aspekte handelt, kann dies einen modellbasierten wirtschaftspolitischen Rat fast völlig entwerten.“ Die Medien sind im Übrigen nicht ganz unschuldig an dem Erscheinungsbild der Ökonomen, da sie einfache Botschaften komplexen vorziehen und zudem Expertenmeinungen zuspitzen.

Unterscheidet sich die deutsche Politikberatung von anderen? Lars P. Feld, Mitglied des Sachverständigenrates für Wirtschaft, sieht das deutsche Modell einer unabhängigen Beratung als Vorbild für andere. So verlor in den USA der Council of Economic Advisors als Teil der Administration an Bedeutung und die Schweizer Kommission für Konjunkturfragen, die in die Gremien eingebunden war, wurde sogar ganz abgeschafft.

Wie können Ökonomen für ein besseres öffentliches Verständnis wirtschaftspolitischer Fragen sorgen? Dazu betont jeder der Teilnehmer andere Aspekte – in der Gesamtsicht meinen sie aber das Gleiche – bessere Kommunikation:

  • Wichtig ist es für beide Gruppen, mehr über die Organisationskultur der anderen zu erfahren, dazu nützlich ist ein regelmäßiger Austausch in Akademiker-Praktiker-Diskussionen (Brozus/Geden).
  • Die Ökonomen sollten in ihrer Kommunikation mit der Öffentlichkeit eine verständlichere Sprache nutzen (Ćumorović/Gropp).
  • Die Ökonomen sollten ihre Grundannahmen transparenter machen, mehr Selbstreflexion üben, expliziter mit dem Wertegerüst ihrer Forschung umgehen, andere an der Gewinnung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse teilhaben lassen und einen Methoden- und Theoriepluralismus zulassen (Schneidewind).
  • Die Ökonomen sollten ihren Fokus stärker auf die tatsächlichen Auswirkungen ihrer Forschung richten, beispielsweise inwieweit sie in Gesetzentwürfe umgesetzt werden kann. Dazu ist es erforderlich raus aus der fachlichen Enge zu kommen und sich tatsächlich auch politisch zu engagieren (Paqué).
  • Neben Unabhängigkeit und Transparenz spielt die Reputation der Berater eine große Rolle. Ihre Glaubwürdigkeit und Legitimität würde verspielt, wenn sie Gefälligkeitsgutachten abgeben würden. Wichtig ist der Wettbewerb der verschiedenen wirtschaftspolitischen Positionen (Feld).

Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich das aktuelle Zeitgespräch aus der April-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:

Expertenwissen im politischen Prozess – Nutzen, Grenzen und Gefahren, in: Wirtschaftsdienst 4/2017 (mit folgenden fünf Beitragen: „Experten, Politik und Populismus“ von Lars Brozus und Oliver Geden; „Verbesserung von politischer Beratung und Wirtschaftspolitik“ von Aida Ćumurović und Reint E. Gropp; „Von der Reparatur-Ökonomik zur Orientierungswissenschaft“ von Uwe Schneidewind; „Das Elend der Experten – Politik braucht mehr Beteiligung, nicht mehr Beratung“ von Karl-Heinz Paqué; „Die Rolle von Wettbewerb, Mandat und Selektion in der wirtschaftspolitischen Beratung“ von Lars P. Feld)