Obwohl die meisten normalen Menschen eigentlich nicht an ihn glauben, so gibt es ihn doch: den rational seinen Eigennutzen verfolgenden Wirtschaftsmenschen, den „Homo Oeconomicus“. Der bevölkert nicht nur die Lehrbücher der Ökonomen und bietet die Grundlage für unzählige wirtschaftspolitische Vorschläge. Er lebt auch unter uns. Japanische Forscher haben ihn etwa 2014 in einem Vorort von Tokio gefunden: Individuen, die konsequent ihren Eigennutz verfolgen, nicht mit anderen kooperieren, wenn sie sich keinen Vorteil davon versprechen; überdurchschnittlich intelligent und rational sind; ihre Impulse unter Kontrolle haben und – kein Wunder – ökonomisch erfolgreich sind.
Wie haben die Forscher den Homo Oeconomicus entdeckt? Er hat ja zumeist keine besondere Farbe oder einen charakteristischen Geruch. Identifiziert haben sie ihn mit den mittlerweile in der Verhaltensökonomie gängigen Experimenten. 446 zufällig ausgesuchte Menschen haben die Forscher miteinander um reale Geldeinsätze spielen lassen. In zwei Spielen hatten die Probanden die Wahl, sich kooperativ oder egoistisch-rational zu verhalten. Der Einsatz wurde ihnen geschenkt, und was sie am Ende jedes Spiels noch in der Tasche hatten, durften sie behalten.
Beide Spiele gingen jeweils nur über eine Runde und die Spieler hatte keine Möglichkeit, zu erkennen, wer ihr Gegenüber ist. Die Idee bei diesen anonymen Einrundenspielen: Die Handlungen der Akteure haben keine sozialen Konsequenzen. Wer sich konsequent egoistisch verhält, muss nicht den Zorn der anderen ertragen; gleichzeitig gibt es aber auch von niemandem Anerkennung für Großzügigkeit und gute Zusammenarbeit.
Egoismus ohne Konsequenzen
Am Anfang des ersten Spiels, dem sogenannten Diktatorspiel, bekamen die Probanden ihren Geldeinsatz und dazu die Information, dass ihr anonymer Spielpartner kein Geld erhalten hat. Dann durften sie als Diktator darüber entscheiden, ob, und wenn ja, wie viel sie dem Spielpartner vom ihrem Geld abgeben. Klar, wer hier rational seinen Eigennutz verfolgt, behält seinen ganzen Einsatz für sich. Und weil die jeweiligen Spielpartner keine Sanktionsmöglichkeiten haben, hat der Egoismus des Diktators keine Konsequenzen.
Im zweiten Spiel – dem Gefangenendilemma – erhält nicht nur einer, sondern beide (wieder anonyme) Spielpartner Geld. Wenn sie dem Anderen etwas davon abgeben, wird der Betrag, den dieser erhält, von der Spielleitung verdoppelt. Bekommen beide am Anfang je 10 Euro, könnten sie also beispielsweise am Ende je 20 Euro in der Tasche haben. Das wäre dann der Fall, wenn jeder bereit ist, dem anderen sein gesamtes Geld zu überlassen.
Wie verhält sich hier der rationale Homo Oeconomicus? Da beide Spieler nicht wissen, wie viel Geld der jeweils andere abgibt, behält der Egoist einfach sein Geld für sich und vermeidet das Risiko, am Ende mit weniger oder Nichts dazustehen. Ist der andere Spieler kein Egoist und gibt kooperativ etwas oder alles von seinem Geld ab, kann der Egoist bis zu 30 Euro einstreichen. Der kooperative Spieler erleidet dagegen den Verlust, den der Egoist zu vermeiden sucht.
In beiden Spielen – dem „Diktatorspiel“ und dem „Gefangenendilemma“ – haben sich insgesamt 16 Prozent der 446 untersuchten Vorortbewohner astrein egoistisch verhalten: Es gibt ihn also wirklich, den Homo Oeconomicus. Aber er bildet eben nur die Ausnahme. Die große Mehrheit der Probanden – 84 Prozent – haben sich nicht so verhalten. Der Homo Oeconomicus scheint also kein typischer Vertreter der Gattung Mensch zu sein. Über ein Viertel der Mitspieler – 28 Prozent – haben sich sogar durchgängig kooperativ verhalten: Sie haben im Diktatorspiel im Durchschnitt 50 Prozent ihres Geldes abgegeben, ohne den Begünstigten zu kennen; und im Gefangenendilemma ihr Geld dem anderen gegeben. Das heißt, zumindest in diesem Experiment haben sich mehr Menschen altruistisch als egoistisch verhalten. Der Rest – mit 56 Prozent über die Hälfte der Probanden – hat sich in einem Spiel mal kooperativ, im anderen mal egoistisch verhalten, also mal genommen und mal gegeben.
Fairness und Normen
Diese Ergebnisse sind keine japanische Eigenart. Egal, wo man solche Experimente durchführt: Die rationalen Egoisten sind immer in der Minderheit. In einem Überblick zu verschiedenen Experimenten mit ganz unterschiedlichen Menschen hat der Verhaltensökonom Armin Falk festgestellt, dass die Egoisten nie in der Mehrheit sind. Die meisten Menschen waren zumeist kooperationswillig, ohne ihren blanken Eigennutzen zu maximieren.
Weitaus häufiger als dem Homo Oeconomicus sind die Forscher dem sogenannten Homo Reciprocans begegnet, dem bedingten Kooperierer. Der handelt nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir. Wenn du mir etwas gibst, gebe ich dir etwas; wenn du mir nichts gibst, gebe ich dir nichts. Diese Menschensorte hat ein Gespür für Fairness und soziale Normen – und zwar teilweise so stark, dass sie bereit ist, die reinen Eigennutzenmaximierer für deren Verhalten zu bestrafen, selbst wenn damit Kosten für sie verbunden sind.
Das zeigt sich in einem anderen typischem Experiment aus dem Spielkasten der Verhaltensökonomen, dem sogenannten Ultimatum-Spiel. Wie im Diktatorspiel erhält nur einer der beiden Mitspieler, Spieler A, eine Geldsumme, von der er dem anderen, Spieler B, etwas abgeben kann. Anders als beim Diktatorspiel hat B hier aber die Möglichkeit, auf A zu reagieren und dessen Geldangebot abzulehnen. In diesem Fall würden beide Spieler leer ausgehen.
Wäre B jetzt ein Homo Oeconomicus, würde er jedes noch so kleine Angebot annehmen, weil wenig immer noch besser als nichts ist. Und A würde zwar etwas Geld anbieten, weil B ihn ja ganz ohne Kosten bestrafen kann, wenn A gar nichts abgibt. Aber A würde so wenig wie möglich anbieten. Bei diesem Experiment – das mit Tausenden Menschen aus vielen verschiedenen Kulturkreisen durchgeführt wurde – stellt sich aber heraus, dass die meisten Menschen das Angebot von A ablehnen, wenn es in etwa unter einem Viertel der Gesamtsumme liegt (Je nach Kulturkreis unterscheidet sich die Schwelle). Sie verzichten also lieber auf das Geld, als sich gefühlt unfair behandeln zu lassen.
Aus der Sicht des individualistischen Egoisten hat dieses Verhalten überhaupt keinen Sinn, weil B nichts davon hat. Aus der Sicht der Gesellschaft ist es aber sehr sinnvoll: Indem Menschen bereit sind, Kosten für die Bestrafung von egoistischem Verhalten auf sich zu nehmen, erhöhen sie für die ganze Gruppe die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle Gruppenmitglieder kooperativ verhalten. Und das wirkt: Spielen die Probanden mehrere Runden des Ultimatumspiels miteinander, steigen die Summen, die die jeweiligen A’s anbieten. Sie wissen, dass sie alles verlieren, wenn sie sich nicht an die sozialen Regeln halten und ihr Angebot zu niedrig ist.
Soweit, so gut. Aber was folgt daraus? Richtig interessant wird es, wenn man schaut, was geschieht, wenn der ökonomische und der reziproke Mensch innerhalb von Gruppen aufeinander treffen. Dann stellen sich ganz merkwürdige Dinge ein: Da gibt es Gruppen, in denen niemand mit niemandem zusammenarbeitet, obwohl der Großteil der Menschen eigentlich kooperativ gesinnt ist und nur eine Minderheit rein egoistisch. Umgekehrt kann es Gruppen geben, in denen alle zusammenarbeiten, obwohl die meisten rein egoistische Motive haben und nur eine Minderheit kooperativ ist.
Strafe wirkt
Das haben die Forscher mittels spezieller Kooperationsexperimente mit mehr als zwei Probanden herausgefunden: Die Probanden erhalten wieder Geld und können sich entscheiden, ob sie es behalten oder etwas davon in einen gemeinsamen Topf geben wollen. Zur Summe, die insgesamt im Topf landet, geben die Wissenschaftler noch etwas dazu, so dass der Topf ein bisschen größer ist als die Summe der individuellen Beiträge. Aus diesem gemeinsamen Topf erhalten dann alle etwas zu gleichen Teilen. Man kann sich das als Steuern oder eine Art Versicherung vorstellen. Dieses Spiel haben die Leute über mehrere Runden gespielt und konnten sehen, wer etwas gibt und wer nicht.
Wenig verwunderlich hat sich gezeigt, dass die Egoisten wieder gar nichts abgeben. Wären also alle Egoisten, wäre der gemeinsame Topf immer leer. Die Reziproken haben aber in der ersten Runde erst mal einen Teil ihrer Ursprungssumme in den gemeinsamen Topf geworfen mit der optimistischen Erwartung, dass auch andere sich so verhalten. Weil die Egoisten aber konsequent gar nichts abgeben, wird der Topf zwar nicht leer sein, aber kleiner, als die Optimisten am Anfang dachten. Weil sie sich als Homines Reciprocansis nach dem Verhalten der anderen richten, haben sie in der nächsten Runde dann weniger in den Topf geworfen als in der ersten Runde; der Topf war aber wiederum weniger gefüllt als erwartet usw. Nach einigen Runden gab dann niemand mehr etwas in den Topf. Keiner verließ sich mehr auf die anderen, ganz so, als ob alle reine Egoisten wären. Solche Ergebnisse sind in ganz verschiedenen Varianten von Kooperationsspielen herausgekommen: Trotz vieler Kooperationswilliger und nur weniger Egoisten bricht die gesamte Kooperation zusammen.
Das alles ändert sich aber, wenn die Gruppenmitglieder plötzlich die Möglichkeit erhalten, die Egoisten zu bestrafen. Das können sie tun, indem sie dafür bezahlen, dass den Egoisten Geldbeträge abgezogen werden. Sie müssen also einen Eigenbeitrag leisten, um ihre Fairnessnorm durchzusetzen – was sie auch meistens tun.
Mit dieser Strafmöglichkeit ändert sich das Verhalten der Gruppenmitglieder trotz gleicher Gruppenzusammensetzung plötzlich massiv: Da meist eine Mehrheit bereit ist, die Egoisten zu bestrafen, geben diese mehr Geld in den gemeinsamen Topf als sie ohne Strafe abgeben würden; weil alle wissen, dass die Nichtzusammenarbeit bestraft wird, geben auch alle mehr – die optimistische Kooperationserwartung hat eine Grundlage, so dass die Kooperation steigt und dann konstant hoch bleibt.
Das Wunderbare daran: Die Kooperation kann auch dann über lange Zeit hoch sein, wenn es relativ viele Egoisten gibt und nur wenige genuin Kooperationswillige. Es sind also oft die Regeln – hier die Möglichkeit der Bestrafung durch Geldentzug –, die darüber entscheiden, ob eine Gruppe zusammenarbeitet oder nicht und nicht unbedingt die individuelle Einstellung der beteiligten Menschen zum Wert der Zusammenarbeit.
Welche Regeln gelten?
Was hat das für Konsequenzen für die reale (Wirtschafts-)Welt? Offensichtlich sind diese Ergebnisse etwa für das Steuersystem interessant. Kommen immer mehr Menschen offen mit Steuerhinterziehung davon oder rühmen sich sogar öffentlich keine Steuern zu zahlen wie vor den Wahlen etwa der jetzige US-Präsident Donald Trump, unterwandert das die Bereitschaft aller, überhaupt Steuern zu zahlen. Das kann dann zu höherer Steuerhinterziehung führen. Dann ist aber weniger Geld für öffentliche Güter wie Schulen oder Infrastruktur da.
Selbst auf dem freien Markt kann der arge Egoismus Schwierigkeiten bereiten: Kunden sind bereit, höhere Preise zu zahlen, wenn sie dafür höhere Qualität erhalten. Senkt ein Unternehmer aber die Qualität in der Absicht, bei gleichen Preisen seinen Gewinn zu erhöhen, verliert er das Vertrauen seiner Kunden. Wenn das zu viele Anbieter machen, leidet die Qualität aller Produkte, die Käufer bleiben aus und die Gewinne sinken. Davon hat auf lange Sicht niemand etwas. Ähnlich auf dem Arbeitsmarkt: Zahlen Arbeitgeber höhere Löhne, empfinden die Arbeitnehmer das als fair und sind auch bereit, mehr und besser zu arbeiten. Fallen die Löhne, dann fällt auch die Bereitschaft, mehr zu leisten als formal im Arbeitsvertrag steht – die Effizienz der Wirtschaft sinkt.
Insgesamt scheint der Homo Reciprocans also ein sympathischer Zeitgenosse zu sein. Unter den richtigen Bedingungen kooperiert er und ermöglicht menschliche Zusammenarbeit, die ein Haufen Egoisten à la Homo Oeconomicus nicht zustande bringen würde. Er hat aber auch eine dunkle Seite, wie Armin Falk warnt: Rache und Vergeltung sind dem Homo Oeconomicus egal, weil sie kostspielig und zeitraubend sind – nicht aber dem Homo Reciprocans.
Das Motto des Homo Reciprocans – „So du mir, so ich dir“ – kann nämlich auch in das Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ umkippen und in Krieg und Verderben enden. Dem Homo Reciprocans ist die Einhaltung sozialer Regeln zwar wichtig, es kommt aber eben auch darauf an, welche Regeln gelten. Der Homo Reciprocans ist also kein Altruist, auch wenn er sich unter den richtigen Rahmenbedingungen so verhalten kann. Er ist aber ein weitaus interessanterer und vielschichtiger Zeitgenosse als sein kalt kalkulierender, egoistischer Cousin aus den Ökonomielehrbüchern und den Vororten Tokios.