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Langfristig sind wir alle tot

 

Vorgestern war Deutschlands Wirtschaft mausetot, so von 2003 bis zum Ende des Wahlkampfes im vergangenen Jahr. Erinnern Sie sich noch an die Plakate der CDU? Eingetüncht in den Pessimismus eines Hans-Werner Sinn, in die irrwitzigen Behauptungen des Kieler Institutes für Weltwirtschaft, der neoliberalen Kaderschmiede für unsere tonangebenden Ökonomen? Zu verkrustet zum Wachsen, das Potenzial der Volkswirtschaft auf ein Prozent pro Jahr nach unten revidiert. Nie wieder zu mehr Wachstum in der Lage. Deshalb: Sparen, sparen, sparen. Denn natürlich wachsen uns die Staatsausgaben über den Kopf, wenn die Neuverschuldung hoch, das Wachstum mickrig ist. Deshalb: Reformieren, reformieren, reformieren. Natürlich ist das Umlageverfahren der gesetzlichen Rente in höchster Gefahr, wenn es nie mehr Wachstum, nie mehr Lohnsteigerungen gibt. Erinnern Sie sich noch an die Leitartikel meiner tonangebenden Kollegen, die im Wahlkampf geschrieben worden sind? Ohne brutalste Strukturreformen ist dieses Land nicht mehr zu retten. TINA – there is no alternative.

Das alles ist erst 15 Monate her. Gestern dann die Überraschung, oh goodness, die Wirtschaft wächst ja schneller als ein Prozent. Na gut, das ist die Konjunktur. An der Struktur der Wirtschaft hat sich nichts geändert, da geht nicht mehr als ein Prozent, aber natürlich gibt es dann und wann einen kleinen konjunkturellen Aufschwung über ein Prozent. Erinnern Sie sich noch, wie oft die FAZ im ersten Halbjahr das Ende vom Aufschwung verkündet hat, nachdem sie ihn zunächst völlig verschlafen hat? Das alles ist erst sechs Monate her.

Und heute? Heute lautet das heißeste Thema: Produktivitätsschub. Ehrlich! Michael Heise gebührt das Lob, sich an die Spitze der Debatte gesetzt zu haben. Der Chefvolkswirt von Deutschlands größtem Finanzkonzern, der Allianz, kam gestern mit einem Workingpaper raus: „Auf dem Weg zu mehr Wachstum. Produktivität und Produktionspotenzial in der deutschen Wirtschaft.“ Darin heißt es: Zyklische und strukturelle Verbesserungen wirken in Deutschland zusammen. Das Wachstumspotenzial, das schon 2007 mit 1,8 Prozent deutlich höher ist als bisweilen geschätzt, dürfte bis 2010 auf deutlich mehr als 2 Prozent (genauer: 2,3 Prozent) steigen. Und das alles ohne weitere Reformen, aber auch ohne Schritte zurück.

Ist das nicht verrückt? Wie passt das zu den Leitartikeln vom Herbst 2005, zu dem Geschwätz bei Sabine Christiansen?

Wir haben im Blog schon öfter die Meinung vertreten, dass die Berechnungen des Wachstumspotenzials an Scharlatanerie grenzen, zumindest solange keine Vollbeschäftigung herrscht. Solange unterausgelastete Kapazitäten in einer Volkswirtschaft vorhanden sind, muss die Wirtschaftspolitik Wachstum erzeugen helfen, und zwar in der kurzen Frist. Unsere Ökonomen aber, die nur die lange Frist kennen, wollten alles auf einmal und haben mit ihren Regeln (Stabipakt etc.) unnötig lange die Wirtschaft klein gehalten, Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit verdammt. Sie wollten die Konsolidierung der Staatsfinanzen um jeden Preis, ganz unabhängig von der Konjunktur. Sie wollten den Sozialstaat abbauen („nicht finanzierbar“), sie wollten die Macht der Gewerkschaften brechen („Kartell“) und das Demografieproblem der Jahre 2015 bis 2030 lösen. Als dann die Dynamik der deutschen Wirtschaft endlich völlig erstickt war, so in den Jahren 2003 bis 2004, haben sie die ganz große Keule rausgeholt. Ein Prozent Wachstum für alle Zeiten. Das bedeutete natürlich weitere brutale Reformen, denn mit einem Prozent Wachstum kann der Kapitalismus nicht richtig funktionieren.

Jetzt ist das Wachstum zurück, die Dynamik wieder entfacht und selbst Hans-Werner Sinn muss einräumen, dass alles noch viel besser ausschaut, als noch vor zwei Monaten gedacht. Die Kieler, die noch im September ihre Wachstumsprognose für 2007 auf ein Prozent gesenkt haben, mussten sie vor zwei Wochen auf 2,1 Prozent erhöhen und überlegen inzwischen auch, das Produktionspotenzial wieder nach oben zu heben.

Was lehrt uns das? Wer nur langfristig denkt und argumentiert, vergeht sich am Kapitalismus. Das wusste bereits John Maynard Keynes, der den berühmten Satz geprägt hat: In the long run we are all dead. Und Deutschlands Wirtschaft wäre fast tot gewesen. Nur aufgrund der wahnsinnig boomenden Weltwirtschaft – Amerika und seinem alten Fed-Chef, dem größten Notenbanker aller Zeiten, Alan Greenspan, sei Dank – kam das Wachstum zurück, jetzt greift es auf das Inland über und tritt einen sich selbst verstärkenden Prozess los. Und natürlich kann Deutschland mit drei Prozent und mehr wachsen – bei soviel arbeitslosen Menschen. Sie alle können doch einen Job bekommen, wenn nur die Nachfrage stark genug ist.

Ich bin sehr optimistisch, halte ein Produktivitätswunder in Euroland für möglich, wie ich unlängst in der ZEIT geschrieben habe. Ein goldenes Jahrzehnt für Euroland, das der vergangenen Dekade in Amerika in nichts nachstehen muss.

Meine Wünsche für 2007, damit das goldene Jahrzehnt Wirklichkeit wird: Ein Europäische Zentralbank, die cool bleibt, die die wachsende Produktivität sich entfalten lässt, europäische Finanzminister, die eine neutrale Finanzpolitik betreiben und nicht wie Steinbrück eine restriktive und natürlich endlich wieder Lohnerhöhungen für alle, die über die Inflation hinaus gehen, und damit die Dynamik in die Haushalte zurückbringen.

A happy new year!