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Völlig losgelöst

 

Tut mir leid, ich muss nörgeln. Die Rekordjagd an den Börsen geht mir entschieden zu weit. In den vergangenen Wochen habe ich mich erstmals wieder an die „goldenen Zeiten“ 1999 und 2000 erinnert gefühlt. Damals schoss mir fast täglich das Lied „Völlig losgelöst“ durch den Kopf, ja dieser Neue-Deutsche-Welle-Song. Jetzt tut er das wieder. Schrecklich.

Es es geht einfach zu schnell und zu glatt. Überall neue Rekorde, beim Dow Jones, beim MSCI World – und auch der Dax stünde längst über 8.000 Punkten, wenn er nicht die Deutsche Telekom im Index hätte. Sie notierte im März 2000, als der Dax erstmals die 8.000 überwand, bei schlappen 103 Euro – und stellte damals das Index-Schwergewicht.

Ich bin zur Zeit weit entfernt davon pessimistisch auf die Weltwirtschaft zu blicken. Aber der Kursrausch an den Börsen ist eindeutig übertrieben. Die Zinsen am langen Ende steigen – und zwar ganz gehörig. Der Euro notiert auf Rekordniveau gegenüber Dollar und Yen. Der Ölpreis steigt wieder. Und auch die Arbeitnehmer wollen zumindest etwas von den Produktivitätsfortschritten im eigenen Geldbeutel landen sehen. Völlig zurecht übrigens und zur Stabilisierung des heimischen Aufschwungs auch unbedingt nötig. Nur: Aus Aktionärssicht bedeuten alle vier Entwicklungen: Die Rekordmargen der Unternehmen geraten unter Druck. Dass die Börse das ignoriert, ist ein schlechtes Zeichen.

Der zunehmend leichtsinnige Umgang mit dem Risiko ist auch schön an der Schwäche der US-Konjunktur abzulesen sowie der latenten Gefahr einer Stagflation (also anziehende Inflation bei stagnierender Wirtschaft in Amerika). Auch diese fundamentalen Bedenken werden einfach so zur Seite gewischt, ganz zu schweigen von den spekulativen Carry trades im Yen, die fröhliche Urstände feiern.

Last but not least machen mir die Aussagen von befreundeten Investmentbankern Sorge: Sie arbeiten zur Zeit wieder 7/7 Tage und mindestens 20/24 Stunden. Es brummt beim Geschäft mit Fusionen und Übernahmen, bei Börsengängen, Teilplatzierungen und was es sonst noch so alles schöne an Investmentbankdienstleistungen gibt. Wenn ich frage, warum sie gerade wieder keine Zeit auf ein Bier haben, kommt immer häufiger die Antwort: Alle wollen noch vor der Jahreshälfte ihre Deals durchhaben. Denn die zweite Hälfte dürfte an den Märkten schwieriger werden.

Zugegeben, das alles sind nur Beobachtungen. Die Hausse nähert die Hausse und mich würde es nicht wundern, wenn der Dax schon bald in Richtung 8.000 marschiert. Nur beruhigend und fundamental gerechtfertigt ist das alles nicht mehr. Das ist der große Unterschied zwischen heute und den vergangenen vier Jahren steigende Kurs. Bislang ging das fundamental immer noch irgendwie auf. Heute aber: Völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff schwerelooos ….

Sell in May and go away!, um einen alten Klassiker zu zitieren.