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Globalisierung, oder das Ende der Gemütlichkeit

 

Zwar ist eigentlich schon alles über die Globalisierung gesagt worden, nur noch nicht von jedem – um mal eine Anleihe bei Karl Valentin zu machen. Das Thema ist zu verlockend und zu aktuell, um es nicht in diesen Blog zu behandeln. Meine Schlussfolgerung vorneweg: Globalisierung ist was Gutes, es profitieren die wirtschaftlich aufstrebenden Ländern ebenso wie die alten Industriestaaten. Aber wer nicht agil darauf reagiert, hat schlechte Karten, denn die Globalisierung hat auch ihre dunklen Seiten. Hier ist die Politik gefordert, denn der Markt allein wird nicht in der Lage sein, die Entwicklung in eine akzeptable Richtung zu lenken.

Zunächst die Definition des Begriffs: Im neuen Economic Outlook der OECD heißt es lapidar, dass es sich dabei um einen Prozess handelt, bei dem die inländischen Märkte für Produkte, Kapital und Arbeit zunehmend mit den Märkten im Ausland verschmelzen. Am Ende wird aus den vielen Nationalökonomien eine Globalökonomie.

Der Prozess läuft schon seit Jahrtausenden, seit es die Seidenstraße gibt oder das Reich Alexander des Großen oder seit noch viel früher. Durch die industrielle Revolution hat er sich deutlich beschleunigt und beherrscht seitdem das internationale Wirtschaftsleben. Autarkie wurde gelegentlich als eine defensive Strategie versucht, erwies sich aber stets als Sackgasse. Das haben selbst Chinas oder Vietnams Kommunisten erkannt.

Wirtschaftswachstum pro Kopf

Es geht zur Zeit um die Integration von Regionen in die Weltwirtschaft, in denen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. Da die Pro-Kopf-Einkommen dort bei weniger als einem Zehntel des Pro-Kopf-Einkommens der OECD-Länder liegen und es den Menschen als Folge der drastisch gesunkenen Kosten für Reisen und Information zunehmend klar wird, wie schlecht es ihnen im Vergleich geht, haben sie sich mit großer Energie auf die Aufholjagd gemacht. Von der Dynamik und der Anzahl der Länder und Menschen her, die sich an diesem Prozess beteiligen, hat es so etwas noch nicht gegeben.

Im Westen wird das als Globalisierungsschock empfunden. Viele ängstigen sich zu Recht, dass sie nicht mithalten können und ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen verlieren werden. Sie würden am liebsten das Rad zurückdrehen und die Grenzen dichtmachen. Das wird nicht gehen. Die Antwort muss sein, die Herausforderung anzunehmen und als Chance für mehr Wohlstand zu begreifen. Da die Globalisierung einhergeht mit einer ungleichmäßigeren Verteilung der Einkommen – wie das stets in Phasen starken Wachstums der Fall ist – muss darauf geachtet werden, dass die Verlierer angemessen entschädigt und, noch wichtiger, Hilfe zur Selbsthilfe bekommen.

Übrigens sollte man die neue Einkommensdisparität zwischen hochqualifizierten und weniger qualifizierten, oder zwischen mobilen und weniger mobilen Menschen nicht allein der Globalisierung anlasten, auch der heutige wissensintensive Fortschritt ist eine wichtige Ursache. Mit anderen Worten, auch ohne den Druck der internationalen Konkurrenz dürfte der Unterschied zwischen reich und arm größer werden, so lange die jüngste Welle technischen Fortschritts nicht abebbt und so lange der Staat nicht korrigierend eingreift.

Zunächst sollte man feststellen, dass es positiv ist, wenn Milliarden Menschen der Armut entkommen, so wie es jetzt der Fall ist. Die Einkommen in den Entwicklungsländern steigen seit Jahren rascher als die in den Industrieländern. Dem lieben Gott würde das gefallen. Wir müssten China, Indien, Indonesien oder Brasilien auch keine Entwicklungshilfe geben, weil es ihnen neuerdings auf spektakuläre Weise gelingt, sich am eigenen Schopf aus dem Elend zu ziehen. Es ist im Augenblick sogar so, dass die Entwicklungsländer als Gruppe netto Kapital in die OECD exportieren – wir brauchen daher weniger zu sparen und können lustig konsumieren. Um genau zu sein: Statt „wir“ sollte man „USA, Großbritannien und Spanien“ sagen. Deutschland gehört ja neben Japan, den OPEC-Ländern, China, Russland, Schweden, Norwegen, den Niederlanden und der Schweiz zu den Ländern, die ihre großen Überschüsse an Ersparnissen ebenfalls exportieren.

Zu den Gewinnern der Globalisierung gehören weiterhin alle, denen eine niedrige Geldentwertung nutzt, also vor allem die Besitzer von festverzinslichen Wertpapieren, wie etwa Lebensversicherungen, oder Rentner, die von ihren Zinsen leben. Die Inflation beträgt nämlich trotz des seit Jahren ungewöhnlich raschen Wachstums der Weltwirtschaft und der Explosion der Ölpreise im OECD-Bereich nur 1,7 Prozent und im Rest der Welt rund 4 Prozent. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Löhne in den aufholenden Ländern wegen des Überangebots an Arbeit nur sehr langsam steigen, was sich unmittelbar auf die Löhne der Arbeiter und Angestellten bei uns auswirkt. Betroffen sind vor allem diejenigen, die Güter und Dienstleistungen produzieren, die der chinesischen oder indischen Konkurrenz ausgesetzt sind.

Zudem wird in den „emerging economies“ nicht nur kräftig gespart, es wird auch nicht minder kräftig investiert, so dass die Kapazitäten ähnlich rasch expandieren wie die Nachfrage. Da ja meist die modernste Technik installiert wird, nimmt die Produktivität mit hohem Tempo zu, was ebenfalls die Kosten, und damit die Inflation, dämpft – dort und überall.

À propos Produktivität: Paul Samuelson hat in einer Arbeit aus dem Jahr 2004 argumentiert, dass die Produktivität in den Entwicklungsländern so rasch zunehmen kann, dass die komparativen Vorteile, die der Westen bei der kapitalintensiven Produktion hat, verschwinden. Wenn die Kostenrelation von Arbeit zu Kapital erst einmal gleich ist, entfällt der seit Ricardo als zentral geltende Grund für die internationale Arbeitsteilung – alles würde in den Ländern produziert, in denen die absoluten Kosten am niedrigsten sind. Weil sich das aber bislang noch nicht empirisch belegen ließ, ist die Furcht vor einem Ende der internationalen Arbeitsteilung vermutlich unbegründet. Jedenfalls brummt der Welthandel nach wie vor.

Unseren Verbrauchern wird meist nur gelegentlich bewusst, dass sie zu den Hauptgewinnern der Globalisierung gehören, etwa dann, wenn wieder einmal die Preise für Wein, Obst, Flugreisen, T-Shirts, Handys, DVD-Player oder Telefongespräche gesunken sind, oder wenn Lidl einen gut gefüllten Werkzeugkasten für 19 Euro 99 anbietet. Ihr Lebensstandard erhöht sich einfach dadurch, dass die Einfuhrpreise langsamer steigen als die Ausfuhrpreise. Erfreulicherweise ist das in Deutschland ein stabiler langfristiger Trend. Niemand sollte ein so großes Interesse am freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital haben wie die Verbraucher.

Vergessen sollten wir auch nicht, dass die Realzinsen bei uns tendenziell durch das Kapitalangebot der Schwellenländer sinken, wodurch wiederum, ceteris paribus, die Menge an lohnenden Investitionsprojekten zunimmt. Der Kapitalstock und damit die Produktionsmöglichkeiten und unser künftiger Wohlstand steigen rascher. Auch das Eigenheim, das zusätzlich gebaut werden kann, vergrößert den Kapitalstock. Freuen wir uns!

Nun aber zu den dunklen Seiten der Globalisierung: Sie geht zulasten der nicht so gut oder „falsch“ qualifizierten Erwerbstätigen bei uns, und sie geht bisher zulasten der Umwelt. Sie führt auch dazu, dass einst rückständige, aber immer noch vor-demokratische Länder in den Besitz von modernen Waffensystemen kommen und uns bedrohen können.

Arbeiten, die von Ausländern billiger und genauso gut verrichtet werden können, werden tendenziell verlagert, gehen also hier verloren. Das führt bei uns zu einem Überangebot an Arbeit im Bereich einfacher Tätigkeiten, so dass dort die relativen, oft auch die absoluten Löhne sinken. Betroffen sind sogar diejenigen, deren Jobs nicht verlagert werden können, beispielsweise Friseure, Taxifahrer, Bademeister, Wachpersonal, Putzhilfen, Krankenschwestern, oder Verkäufer. Als Gruppe können diese Leute ihre Lage nur durch stärkere Gewerkschaften, also eine Einkommensverteilung zulasten der besser Verdienenden verändern, oder durch Druck auf den Staat mit dem Ziel, dass er die sozialen Transferleistungen aufstockt. Beides ist allerdings leichter gesagt als getan.

Für den Einzelnen geht es darum, nur solche Berufe zu erlernen, die von der Globalisierung profitieren oder eine spätere Umorientierung ermöglichen, jedenfalls wenn Jobsicherheit oberste Priorität hat. Fremdsprachenkenntnisse, Auslandsaufenthalte, Phantasie, die Fähigkeit zu denken und sich anzupassen, systematisch und intensiv zu arbeiten, Unkonventionelles zu wagen dürften die Trümpfe sein, mit denen man in der heutigen brave new world sein materielles Dasein sichern kann. Es ist weitgehend aus mit der Gemütlichkeit, oder genauer: mit der schönen Kombination von entspannter Arbeit, Jobsicherheit und gutem Einkommen.

Fragt sich, ob unsere Politik die richtigen Prioritäten setzt. Eine der Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung muss sein, wirksame Anreize für Umschulungen, lebenslanges Lernen und – in Grenzen – regionale Mobilität zu setzen. Die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre zielten in diese Richtung. Es reicht aber noch nicht. Alle Politiker sollten verpflichtet werden, sich mal vor Ort anzusehen, wie die Skandinavier Arbeitslose durch Fordern und Fördern in neue Jobs vermitteln.

Der Staat kann auch durch seine Ausgaben- und Abgabenpolitik beitragen, den Globalisierungsschock abzumildern. Ein probates Mittel scheint mir die Umweltpolitik zu sein. Immer noch steigt der Verbrauch von Erdöl weltweit um 2 Prozent pro Jahr. Die Faustformel lautet: 5 Prozent Wachstum des globalen BIP gleich 2 Prozent zusätzlicher Ölverbrauch. Wenn wir die weitere Ruinierung der Umwelt verhindern, und uns gleichzeitig weniger abhängig machen wollen von Ölimporten, müssen die Preise für Energie drastisch erhöht werden, angefangen bei Diesel, Heizöl und Kerosin.

Soweit dadurch die Transportkosten erhöht werden, verlangsamt das den Prozess der internationalen Arbeitsteilung, federt also den Schock etwas ab. Es ist nicht plausibel, dass Flugreisen oder Luftfracht immer billiger werden. Hier sollte eine Zusammenarbeit innerhalb der EU angestrebt werden. Aber auch wenn das nicht möglich sein sollte, handelt es sich auch unilateral um eine sinnvolle Politik, weil wir dadurch die Terms of Trade verbessern und so unser verteilbares Einkommen erhöhen können. Das ist wirksamer als jede Förderung sogenannter alternativer Energien. Lassen wir den Marktmechanismus entscheiden, Welche Art von Energie, und wie viel davon, verbraucht werden soll – nachdem der Staat die Rahmenbedingungen, also die Umweltziele, gesetzt hat.

Zollerhöhungen sind ein weiteres Mittel, mit dem sich das Tempo der Globalisierung vermindern lässt. Schutzzölle gelten in der Ökonomie als legitim, wenn sie dazu dienen, Strukturanpassungen zu ermöglichen. Im 19. Jahrhundert haben sie angesichts des anfangs meilenweit überlegenen britischen Angebots entscheidend zur Industrialisierung Deutschlands beigetragen. Wichtig ist natürlich, dass bei der Einführung solcher Zölle gleich mitbeschlossen wird, wann sie auslaufen. Das Problematische an Zöllen ist bekanntlich, dass sie der Einstieg in einen wohlstandszerstörenden Protektionismus sein könnten. Bisher sind wir mit unserem ziemlich freien Handel sehr gut gefahren und sollten daher in der EU nicht als Erste mit solchen Vorschlägen aufwarten.