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Ökonomen verstehen die Welt nicht mehr

 

Das könnte eine Übertreibung sein – vermutlich haben die Ökonomen die Welt überhaupt noch nie richtig begriffen. „Angesichts der enormen und andauernden strukturellen Änderungen lässt sich … durchaus die Meinung vertreten, dass wir die wirtschaftlichen Abläufe heute womöglich noch weniger verstehen als in der Vergangenheit.“ Das jedenfalls sagt die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem jüngste Jahresbericht. Er sollte für alle, die sich für Markoökonomik interessieren eine Pflichtlektüre sein. Der Duktus des Berichts ist entsprechend stets abwägend, aber die Bank scheut trotzdem nicht vor pointierten Analysen und klaren Empfehlungen zurück. Das einleitende Kapitel und die Schlussbemerkungen haben es in sich.

Keinen der Wendepunkte der Wirtschaftgeschichte des vergangenen Jahrhunderts haben die Ökonomen vorhergesagt, weder der Depression der dreißiger Jahre oder die Inflation der Siebziger, noch die darauffolgende Disinflation oder Japans nicht enden wollende Deflation. Vor jedem Einbruch gab es eine lange Periode hohen nicht-inflationären Wachstums, die die Analysten regelmäßig für den Beginn einer neuen Ära hielten, in der die alten Zyklenmuster nicht mehr gelten würden.

Trotz des reichen historischen Anschauungsmaterials könnte das Verständnis der wirtschaftlichen Prozesse heute noch unterentwickelter sein als in der Vergangenheit – sagt die BIZ. Niemand hat beispielsweise eine unbestrittene Vorstellung darüber, wie Inflation aus dem Zusammenspiel von Kapazitätsauslastung, Produktivität, Löhnen, Einfuhrpreisen, Geldmenge und Erwartungen entsteht, abgesehen davon, dass auch unklar ist, wie hoch denn die Wachstumsraten von Kapazität und Produktivität wirklich sind. Es kommen immer wieder neue wichtige Faktoren ins Spiel, von denen niemand so recht weiß, welchen Einfluss sie auf das weitere Geschehen haben werden, beispielsweise die rapide Verbreitung des technischen Fortschritts durch die neuen Medien, die immer niedrigeren Transportkosten, die ungewohnte Rolle der Banken, die versuchen, möglichst alle Risiken auf die übrigen Marktteilnehmer abzuwälzen, das explosionsartige Wachstum der derivativen Finanzinstrumente, bei denen niemand mehr einen Überblick hat, wie die Risiken letztlich verteilt sind, oder die Unabhängigkeit wichtiger Notenbanken von ihren Regierungen, wodurch es das liebgewonnene Gelddrucken durch den Ankauf von Staatsschulden nicht mehr gibt. Es fehlen die Präzedenzfälle. Nur, dass die Gesetze des Marktes nicht mehr gelten, das sollte man besser nicht annehmen.

Zur Zeit sieht es mal wieder danach aus, als ob eine neue Ära begonnen hätte – was die BIZ entsprechend stark beunruhigt:

– das reale Wachstum der Weltwirtschaft war selten so hoch wie gegenwärtig und nicht nur das, auch viele einst arme Länder nehmen an dem Aufschwung teil;

– trotz der lang anhaltenden und gleichzeitig sehr kräftigen Expansion sowie der Explosion der Rohstoffpreise ist die Inflation nach wie vor moderat;

– die Realzinsen und Risikoprämien aller Art sind ungewöhnlich niedrig;

– die gewaltigen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen werden problemlos finanziert; Krisen an den Devisenmärkten sind bisher ausgeblieben.

Jede dieser Entwicklungen für sich genommen ist sehr positiv, aber dass sie alle gleichzeitig stattfinden, ist geradezu sensationell. Woher kommt das, und kann das so weitergehen? Die Antworten sind: Wir wissen es nicht wirklich, und es wird so nicht weitergehen. Die Anzahl der plausiblen Szenarien, der möglichen Interaktionen von Faktoren, die eine Krise oder sogar einen Kollaps des Systems auslösen können, ist schier unbegrenzt. Ich beschreibe im Folgenden die drei wichtigsten Ungleichgewichte, die von der Politik beseitigt werden müssen, oder wo die Marktkräfte das über kurz oder lang besorgen werden. Je länger die Anpassungsprozesse aufgeschoben werden, desto gefährlicher wird es.

Im Zentrum stehen, wie immer, die Entwicklungen in den USA: die hohe Konsumneigung und die niedrige Sparquote der Haushalte, das rekordhohe Verhältnis von Hauspreisen zu Mieten – also die Immobilienblase -, die gefährliche Abhängigkeit von Kapitalimporten durch das Defizit in der Leistungsbilanz sowie der schuldengetriebene Boom der Unternehmensfusionen und Private Equity-Transaktionen bei einem relativ schwachem Wachstum der Sachinvestitionen und des Kapitalstocks. Steigende Zinsen und stagnierende Gewinne angesichts hoher Kapazitätsauslastung und einer beginnenden Lohninflation passen auf Dauer nicht zusammen. Gefährlich auch, dass die Standards bei der Kreditvergabe in den letzten Jahren angesichts des sonnigen Umfelds und des berühmten Greenspan Puts stark gesenkt worden sind. Die USA müssten einen Shift von der Inlandsnachfrage zur Auslandsnachfrage hinkriegen – bekommen haben sie das genaue Gegenteil: die Verwendung der reichlich sprudelnden Kapitalimporte für den Wohnungsbau, anstatt weniger Konsum oder Investitionen in die Teile des Kapitalstocks, von denen die internationale Wettbewerbsfähigkeit abhängt. Die BIZ vermutet, dass die Abwertung des Dollars aus diesen strukturellen Gründen unnötig stark ausfallen wird.

Eine Anomalie ist weiterhin, dass China, eines der ärmsten Länder der Welt, zum größten Nettokapitalexporteur geworden ist. Das ist das Ergebnis einer außerordentlich expansiven Geldpolitik im Gefolge der massiven Interventionen zugunsten des Dollars. Die Währungsreserven nehmen um etwa 30Mrd. Dollar pro Monat zu. Sie haben inzwischen mehr als 1.200 Mrd. Dollar erreicht und damit weit mehr als aus irgendwelchen Vorsichtsgründen erforderlich wäre. Bisher gilt das aus chinesischer Sicht als ein akzeptabler Nachteil, weil das Hauptziel, eine dauerhaft hohe Wachstumsrate des realen Sozialprodukts und damit ein rasches Aufschließen zu den reichen Ländern, ja offenbar erreicht wird. Zudem nimmt ja auch der private Verbrauch real mit Raten von mehr als 5 Prozent zu – vielen geht es besser, was will man mehr? Das Problem besteht pointiert formuliert darin, dass die Chinesen arbeiten und die Amerikaner konsumieren. Ein solcher Zustand lässt sich nur extrapolieren, wenn sich die Amerikaner immer mehr gegenüber den Chinesen verschulden. Wir sind aber bereits an dem Punkt angelangt, wo sich die chinesischen Kapitalgeber nicht mehr mit dem Ansammeln von US Treasuries zufrieden geben, sondern bessere Renditen verlangen. Wenn sie jetzt anfangen, Aktien statt Bonds zu kaufen, also Sachvermögen zu erwerben, werden sich die protektionistischen und xenophobischen Tendenzen in den USA verstärken. Mit anderen Worten, hier steuern wir auch schnurstracks auf die Krise zu.

Der schwache Yen ist ein anderes erstaunliches Phänomen dieser Tage. Da niemand ernsthaft zu befürchten scheint, dass die Bank von Japan die Zinsen so stark anheben wird, dass es wehtut, sind nicht etwa die gewaltigen Überschüsse in der Leistungsbilanz, sondern die japanischen Kapitalexporte der Treiber des Yen-Kurses. Obwohl die Wirtschaft schon seit vielen Quartalen real mit Raten von 2 ½ bis 3 Prozent wächst, die Rohstoffpreise sich in den letzten drei oder vier Jahren vervielfacht haben und die reale Abwertung immer weiter geht, verharren die Inflationsraten bei Null. Wo sollen sie denn hinfallen, wenn es wieder einmal zur Rezession kommt, oder wenn es bei den Ölpreisen zu einem Crash kommt, oder wenn der Yen mal wieder richtig aufwertet? Die BIZ meint, dass die Zentralbank trotz dieses erheblichen Deflationsrisikos mit der „Normalisierung“ der Zinsen fortfahren sollte. Bis das bei dem jetzigen Tempo geschafft ist, kann allerdings fast noch ein halbes Jahrzehnt ins Land gehen. Ich denke nämlich, dass auch in Japan der „neutrale“ Zins bei etwa 4 Prozent liegt. Die sogenannte Carry Trades dürften für’s Erste attraktiv bleiben. Damit vergrößert sich aber ständig der Korrekturbedarf, also das Ungleichgewicht an den Devisenmärkten. Der Yen ist jedenfalls beim nächsten größeren Realignment der Wechselkurse der Aufwertungskandidat Nummer 1. Warum derweil der japanische Aktienmarkt nicht besser läuft, bleibt für mich ein großes Rätsel.

Unser Euroland ist in einer ziemlich glücklichen Lage. Die Wirtschaft expandiert zügig, aber nicht zu zügig, die Inflation ist da, wo sie sein sollte, die Leistungsbilanz ist ausgeglichen, der Wechselkurs ist geradezu aufreizend stabil, und abgesehen von dem milden mediterranen Immobilienboom (der aber schon wieder im Abklingen ist) gibt es auch keine Asset Price Bubbles. Die EZB strafft seit eineinhalb Jahren die Zügel, so dass die Zinsen jetzt in der Nähe ihres Normalniveaus angelangt sind. Sie steht nicht unter Druck, sie weiter erhöhen zu müssen, obwohl das aus heutiger Sicht immer noch wahrscheinlich ist.

Wenn die Glocke schlägt und es schließlich zur unvermeidlichen Korrektur der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte kommt, wird Euroland eher ein passiver Zuschauer als ein Akteur sein. Angesichts der Safe Haven-Attribute unserer Wirtschaft wird sich eine starke Aufwertung des Euro nicht vermeiden lassen. Deswegen, und weil die Anpassungsprozesse wegen der starken Stellung der Zentralbanken im wirtschaftspolitischen Prozess eher deflationär als inflationär wirken dürften, sind europäische Staatsanleihen die Investments of last resort. Ihre realen Renditen sind schon heute sehr attraktiv.

Im Übrigen besteht die beste Vorsorge gegen die kommenden Probleme im Außenhandel darin, die inländische Nachfrage etwas stärker zu stimulieren und so den Aufschwung auf ein breiteres Fundament zu stellen. Selbst die BIZ kommt zu einem solchen Schluss.