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Warum interessieren wir uns nicht für Opfer des antimuslimischen Rassismus?

Ich habe die Hoffnung, dass sich Juden und Muslime nicht durch die jüngsten Vorfälle gegeneinander aufbringen lassen. Zur Stunde findet in Berlin eine Demo gegen Beschneidungsverbote statt, bei der ein breites Spektrum von Gruppen vertreten ist – neben jüdischen und muslimischen auch christliche Unterstützer. Das ist ein gutes Zeichen.

Allerdings muss ich Sakine Subasi-Piltz Recht geben, die sich beklagt, dass die Opfer des antimuslimischen Rassismus in Deutschland trotz des Skandals um die NSU nicht genügend beachtet werden. Etwas stimmt nicht in der Wahrnehmung: Der Fall des Rabbiners Daniel Alter hat Entsetzen ausgelöst. Die häufigen Hass-Attacken gegen Muslime und ihre Einrichtungen finden kaum Aufmerksamkeit. Ich zitiere aus einem Post von Frau Subasi-Piltz:

„Als ich von dem Überfall auf den Rabbiner gelesen habe, war ich schockiert und beschämt darüber und habe, ich gebe es zu, auch nichts dazu gesagt. Ich habe beschämt darauf gewartet, dass andere einen Solidaritätsakt beginnen, dem ich anschließen kann. So kam es dann auch.
Als in den Medien darüber geschrieben wurde, dass Muslime sich mehr solidarisieren könnten, habe ich dieser Kritik aus meiner ganz persönlichen Perspektive in verschiedenen Internetforen Recht gegeben. Ich fand auch die Presseerklärung Ali Kizilkayas nicht ganz richtig und hätte mir von ihm noch mehr versöhnliche Worte gewünscht, als sich zu beklagen. Das war Fehl am Platz.

Doch seit einigen Tagen versuche ich auch die Aufmerksamkeit auf ebenso aktuelle Fälle von antimuslimischem Rassismus zu lenken. Ich schreibe Autor_innen an, die sich über die mangelnde Solidarität unter Muslimen gegen Antisemtismus beklagen und fordere von Ihnen, sich bitte mit auch mit Muslimen gleichermaßen zu solidarisieren. Mir geht es nicht darum, die Opfer auf der muslimischen Seite gegen die Opfer auf der jüdischen Seite aufzuwiegen. Jeder Fall ist einer zu viel, zumal diese Debatte nicht in der Hinsicht geführt werden sollte, Muslime gegen Juden aufzuwiegeln. Es geht eher darum, die Gesamtgesellschaft anzusprechen und die mehrheitsgesellschaftlichen Akteure aufzufordern, sich sensibler gegen Rassismus in Deutschland zu positionieren, egal gegen wen er gerichtet ist und die Probleme von Rassismus nicht den Minderheiten in die Schuhe zu schieben. Gerade wenn es um Antisemitismus unter Muslimen geht, erwarte ich eine Sensibilität, die auch den antmuslimischen Rassismus in Deutschland berücksichtigt. Doch schon wie in dem Fall von Marwa El-Sherbini, die letztendlich aufgrund ihres Kopftuchs in einem Dresdner Gerichtssaal ermordet wurde, interessieren sich die Medien der Mehrheitsgesellschaft nicht für muslimische Opfer.

In den letzten Tagen und Wochen sind aber gerade Muslime vermehrt wieder Opfer rechtsextremer und antimuslimischer Gewalt geworden. Hier eine Chronologie der mir bekannten Fälle:

30.07.2012 Woltmershausen/ Bremen: Brandanschlag auf türkische Familie, nach dem rassistische Äußerungen getätigt wurden. Die Nachbarschaft hat sich zusammengetan, um einen Brandanschlag zu verüben.

27.08.2012 Herzogenrath: „geht in Euer Land zurück … mit Eurem Scheißkopftuch.“ Zwei türkischstämmige Frauen werden in einem Park brutal zusammengeschlagen. Sie kommen gerade aus dem Krankenhaus. Der Ehemann von einer der Frauen liegt mit Krebs im Krankenhaus. Sie wollen sich ausruhen und werden von drei Personen zusammengeschlagen. Eine der Frauen muss auf die Intensivstation eingeliefert werden und überlebt den Vorfall nur knapp.

31.08.2012 Betzdorf: In die Wohnung einer türkischen Familie wird eingebrochen. Mit Pistole und Eisenstange gehen zwei Männer auf die Familie mit fünf kleinen Kindern zwischen 2 und 9 Jahren los. Der Vater der Familie lässt geistesgegenwärtig seine Handykamera laufen, auf der der Überfall und die schreckliche Angst der Familie nicht zu übersehen und vor allem nicht zu überhören ist. Die Einbrecher, richten die Pistole, bevor sie gehen, auf alle, sogar auf die Kinder…

Ende August: Angriff auf DITIB Moschee im Odenwald/ Breuberg

02.09.2012 Berlin: Ein junger Mann wird von zwei Rechtsradikalen (die am gleichen Abend an einem Neonazi-Treffen in Berlin-Schöneweide teilgenommen hatten) attackiert und flüchtet in eine Imbissstube (diese wehren gemeinsam die Täter ab)

02.09.2012 Haiger: versuchter Brandanschlag auf IGMG Moschee

03.09.2012 Hanau: versuchter Brandanschlag auf IGMG Moschee
(Zusammengestellt von Elif Arikan, Initiatorin der Facebookgruppe „Rechtsextreme Gewalt und Übergriffe – Antmuslimischer Rassismus“)

Als ich das Video von dem Einbruch und dem Einschüchterungsversuch bei der Familie Korkusuz gesehen habe, konnte ich zwei Tage kaum noch klar denken. Die Hilferufe und Angstschreie der Kinder und auch der Eltern, gingen mir nicht aus dem Ohren. Auf der anderen Seite hören die Artikel nicht auf, die (…) Antisemitismus bei Muslimen beklagen und dabei Muslimen mehr oder weniger pauschal eine Art Verlogenheit gegenüber Rassismus in den eigenen Reihen vorwerfen. Dabei noch kein Wort der aufrichtigen Anteilnahme zu den Übergriffen auf Muslime, die auch gerade passiert sind.

Doch der antisemitische Übergriff auf den Rabbiner scheint für einige nützlich zu sein, ob nun direkt politisch oder emotional unbewusst. Denn gerade als sich Muslime und Juden begannen anzunähern, ja sogar gemeinsame Aktionen durch zu führen, welche eine der wenigen positiven Konsequenzen der unsäglichen Beschneidungsdebatte ist, werden Konflikte zwischen Juden und Muslimen geschürt. In den Medien geschieht dies, in dem jüdische Opfer groß gemacht werden, während muslimische fast gar nicht erwähnt werden. Zudem wird das Problem des Antisemitismus den Muslimen zugeschoben. Und während Muslime und Juden verletzt und betroffen sich gegenseitig Vorwürfe machen, zieht sich die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft aus der Verantwortung.“

 

Zeig Deine Kippa! Juden müssen sichtbar bleiben, auch wenn sie angegriffen werden

Mein Kurzkommentar aus der ZEIT von morgen:

Der Rabbiner Daniel Alter wurde letzte Woche in Berlin-Friedenau vor den Augen seiner Tochter von vermutlich arabischstämmigen Jugendlichen zusammengeschlagen. »Bist du Jude?«, hatten sie ihn gefragt, nachdem sie seine Kippa gesehen hatten. Es kann hierzulande gefährlich werden, als Jude erkennbar zu sein.

Das ist ein schrecklicher Satz. Aber er stimmt – trotz der Renaissance des Judentums in Deutschland, von der die neuen Synagogen in unseren Städten zeugen.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin rät Eltern, ihre Kinder nicht mit Kippa in der Stadt herumlaufen zu lassen. Nicht nur vor dem einheimischen Hass der Neonazis, auch vor dem importierten islamisch eingefärbten Antisemitismus müssen sich Juden in manchen Quartieren in Acht nehmen. Die islamischen Verbände und die Moscheegemeinden müssen sich endlich damit auseinandersetzen, statt reflexhaft auf die verbreitete Islamfeindlichkeit zu verweisen, die auch schlimm sei. Manche muslimische Jugendliche wachsen in einer Monokultur auf, berieselt von judenfeindlicher Propaganda. Der Jude, den sie schlagen, ist vielleicht der erste, den sie je getroffen haben.

Solche Abschottung muss bekämpft werden, am besten von Juden, Christen, Muslimen und Atheisten gemeinsam. Denn auch die Mehrheit ringt schwer mit religiöser Differenz. Es entspricht nicht dem Selbstbild des liberalen Deutschland, doch unsere engherzigsten gesellschaftlichen Debatten kreisen ums Anderssein, das sich in Kopftüchern, Moscheebauten und Beschneidungen manifestiert. Eine religiös bunte Gesellschaft braucht aber ein entspanntes Verhältnis zur Sichtbarkeit des anderen.

Darum wäre es fatal, wenn Juden in Deutschland ihre Kippot nun unter Basecaps verstecken würden. Ein »Kippa-Flashmob« in Berlin, bei dem Hunderte – auch Nichtjuden – solidarisch mit Käppchen flanierten, war das richtige Zeichen.

Wenige Tage nach dem Angriff sagte Daniel Alter bei einer Demo – die Wange noch verbunden –, er habe zwar »das Jochbein gebrochen bekommen, aber meinen Willen, mich für den interreligiösen Dialog und die Verständigung von Völkern und Nationen einzusetzen, haben diese Typen nicht gebrochen«.

Daniel Alter ist ein Held. Er hat sich um ein besseres Deutschland verdient gemacht, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.

 

Wie wir mit Breivik fertig werden

Das Osloer Urteil ist der bewundernswerte Sieg einer modernen Gesellschaft über den Hass, der in ihrer Mitte entsteht.

Wie die norwegische Gesellschaft angesichts des Grauens kühlen Kopf und liberale Werte bewahrt, zeigt an diesem Freitag die Urteilsverkündung im Osloer Gerichtssaal 250.

Richterin Wenche Arntzen nimmt in bestimmter, manchmal gar harscher Weise das erste psychiatrische Gutachten auseinander, in dem Breivik als nicht schuldfähig qualifiziert wurde. Breivik ist schuldfähig, führt Antzen aus. Er wird zu 21 Jahren Haft verurteilt, die er nicht in der Psychiatrie, sondern in isolierter Sicherheitsverwahrung verbringen wird. Voraussichtlich wird er nie wieder die Freiheit sehen, denn im Anschluss an seine Haft wird Breivik, der nie Reue gezeigt hat, weggeschlossen bleiben.

Breivik ist also nach Ansicht des Gerichts nicht geistesgestört. Hat er demnach das Urteil bekommen, das er wollte? Insofern ja, als er sich vehement gegen das psychiatrische Gutachten verwehrt hatte, das nun auch die Richterin verwirft. Aber es zeichnet das Gericht aus, dass es sich von diesen Umständen nicht hat beeindrucken lassen. Selbst wenn Breivik es so gewollt hat, darf das keine Rolle für die Urteilsfindung spielen.

Breivik sieht sich hier einer Justiz gegenüber, die ihn nicht als Irren abtut, sondern seine Gedankenwelt und seinen Hass auf „Multikulturalismus“ ernst nimmt – und seine daraus resultierenden Verbrechen klar und kühl verurteilt. Das ist richtig so. Das geistige Konstrukt, das ihn zu seinen Taten motivierte, ist schließlich nicht irgendeine Fieberphantasie. Er hat lediglich Bestandteile zusammengeführt, die in der digital vernetzten Szene der Islamhasser seit Jahren frei herumflottieren. Die Botschaft der Richterin Arntzen ist: Wir werden mit Dir fertig. Wir wissen, wie Du tickst und was Dich zu Deinen Taten getrieben hat. Wir sind stark genug, auch wenn es schwerfällt, Dir ins Auge zu schauen und Dir zu sagen, dass Du ein erbärmlicher Verbrecher bist. Deine Anmaßung beeindruckt uns nicht. Wir lassen uns von Dir nicht verrückt machen. Deine Taten sind monströs, aber Du bist kein Monster. Und wir müssen Dich nicht zu einem Freak erklären, um mit Dir leben zu können. Die Auseinandersetzung mit dem Ungeist, für den Du stehst, wird eine politische sein, keine psychiatrische.

Die Richterin lässt nichts übrig von dem Versuch, den Angeklagten zu einem Freak zu erklären. Sie gesteht zu, dass er Persönlichkeitsstörungen habe, dass er eine narzisstische Person sei. Aber sie lässt sich nicht beeindrucken von den Passagen seines Manifests über „Tempelritter“, die den Psychiatern als Indiz für mangelnde Schuldfähigkeit galten.

Sie verurteilt ihn infolgedessen als einen persönlichkeitsgestörten, politischen Verbrecher, der seine Taten sehr wohl verstehen kann – so wie er sie auch kaltblütig und professionell planen konnte. Und wie recht sie damit hat, zeigt sich am Ende des Prozesses, als Breivik sagt, er erkenne das Gericht nicht an, weil es von „Multikulturalisten“ seinen Auftrag erhalten habe. Als er dann die „militanten Nationalisten“ in Europa adressieren will, dreht die Richterin ihm das Mikrofon ab.

Der ganze Auftritt von Wenche Arntzen strahlt das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Gesellschaft aus, die dem politisch Bösen furchtlos Auge in Auge gegenübertritt. Für die Gerichtspsychiatrie allerdings ist dieser Tag ein herber Schlag. Sie hat sich als unfähig erwiesen, einen (politischen) Wahn und Hass zu erfassen, den leider auch viele teilen, die nicht (oder noch nicht) wie Breivik zur Bluttat bereit sind.

Deutschland hat allen Grund, diesen Prozess genau zu betrachten: Wir haben es nicht geschafft, die politischen Serienmörder des NSU vor Gericht zu stellen. In der Auseinandersetzung mit ihrem politischen Wahnsystem hätten sich uns ähnliche Fragen gestellt wie den Norwegern durch Anders Breivik. Was hätten wir mit Böhnhardt und Mundlos gemacht, die keine Manifeste geschrieben haben, deren Handeln aber nicht weniger „irre“ ist als das des Norwegers?
In Oslo ist an diesem Freitag ein Sieg der Zivilisation und der modernen Gesellschaft über den Hass, der in ihrer Mitte entsteht und sich gegen sie selbst richtet, zu beobachten. Dieser Hass kann viele Formen annehmen: Faschismus, Antisemitismus, Linksterrorismus. Heute ist eine seiner virulentesten Formen der Hass auf den neuen Anderen, den Einwanderer, den Moslem.

Nein, Breivik wird nicht bekommen, was er gewollt hat. Nun droht ihm ein Leben in drei isolierten Hafträumen, mit Fitnessgeräten, Büchern und einem Computer – aber ohne Internetzugang. Vor allem Letzteres ist für ihn ein wesentlicher Teil der Strafe, denn sein Hass speist sich aus den Ideen, die er über das Internet gefunden und aus denen er sein Manifest zusammengesampelt hat. Im Internet wollte er sich nun auch seiner Taten rühmen, sich als Tempelritter gegen den Multikulturalismus inszenieren. Das ist einer der bisher vernachlässigten Aspekte dieses Terrorismus: Er wäre ohne den Echoraum der Islamhasser-Foren nicht denkbar gewesen. Weil diese Foren weiter höchst aktiv sind, wird uns Breiviks Erbe, auch wenn er hinter hohen Mauern verschwunden ist, weiter beschäftigen müssen.

 

Wer Neonazi-Kameradschaften verbietet, muss auch Islamhasser im Blick haben

In den Kommentaren zum Verbot der Neonazi-Gruppe „Kameradschaft Aachener Land“ und zur Razzia in der Dortmunder Rechtsextremisten-Szene ist zu lesen, dies zeige, dass es sich nicht um ein rein ostdeutsches Problem handele.

Dah! Echt? Guten Morgen. Mich erfüllt das Vorgehen der Behörden in NRW mit einer besonderen Genugtuung, weil ich aus der betroffenen Gegend komme und daher weiß, dass das Aachener Land lange schon ein brauner Hotspot war. In den siebziger und achtziger Jahren war dort die mittlerweile verbotene Wikingjugend aktiv, deren „Bundesführer“ am Ort in Stolberg wohnte. In den Steinbrüchen um die Stadt herum wurden  „Wehrsport-Übungen“gemacht.   Seine beiden Söhne ginge auf das Goethe-Gymnasium, auf dem auch ich bis zur 11. Klasse war. Einer von ihnen ist heute ein Anwalt der Nazi–Szene in Berlin.

Die beiden Naraths ließen schon in ihrem Aufzug keinen Zweifel daran, wes Geistes Kind sie waren. Sie trugen Klamotten, die minimale Abweichungen zur Hitlerjugend aufwiesen. Vor den Ferien verteilten sie Schülerzeitungen, die witzig aufgemacht waren („Gäck“), aber knallharte Hetze gegen „Ausländer“ enthielten. Wir gründeten gegen diese Umtriebe einen „Antifa-Arbeitskreis“. Wir brachten eine Gegenzeitung heraus, für die ich meine ersten  Artikel schrieb. Das Wort Antifa, das wir arglos gewählt hatten, setzte bei meinem Vater schlimme DDR-Assoziationen frei, aber er unterstützte mich dennoch trotz oder gerade wegen seiner konservativ-katholischen Überzeugungen: Dieser Dreck durfte und musste bekämpft werden. Man hatte als zweifacher Ostflüchling – erst aus Westpreußen vor den Russen,  dann aus der DDR vor dem Kommunismus  –  alles verloren, weil Hass und Hetze gesiegt hatten.

Ich muss gestehen, ich habe bis vor einigen Jahren gedacht, dieser Neonazi-Irrsinn sei eine Episode in der Nachkriegsgeschichte gewesen, eine folgenlose Nachzuckung des Ungeists, mit dem die Deutschen abgeschlossen hatten. Ich glaube das immer noch in dem Sinne, dass der Neonazismus politisch nicht mehr wirkfähig ist in die Mitte hinein

Aber dass es das alles immer noch gibt, dass eine neue Generation von Rechtsradikalen nachgewachsen ist, die heute mehr Straftaten begeht und gewaltbereiter ist als damals   –  das ist schon irritierend.

Bei der Kameradschaft aktiv war  Manfred Rouhs, zunächst in meiner Heimatstadt Stolberg, dann  zeitweilig in der schönen Stadt Eschweiler, wo ich Jahre zuvor auf der Liebfrauenschule Abitur gemacht hatte.  Herr Rouhs saß später für „pro Köln“ im Stadtparlament der Domstadt. Er ist bis heute federführend bei der „Bürgerbewegung pro Deutschland“, die erst am letzten Wochenende in Berlin – glücklicher Weise erfolglos – versucht hat, mit Mohammed-Karikaturen die Moscheebesucher im Ramadan zu Gewalttaten zu provozieren. Herr Rouhs steht für den Versuch  der Rechtsextremen, sich an die „Islamkritik“ anzuhängen.

Insofern war es konsequent, dass seine Truppe wenige Tage nach der Mordtat von Anders Breivik vor der norwegischen Botschaft demonstrierte. Breivik ist der Held dieser Leute. Er ist für die islamhetzerischhe Rechtsextremen  das, was Andreas Baader  für die Linksextremen  der Siebziger war. Einer, der  endlich schließt, wo andere nur quatschen.  Mit dem Unterschied, dass  Breivik auch noch Meinhof sein will, der Manifeste  liefernde Kopf der (in seinem Fall imaginäre)  Bewegung.

 

Morgen  fliege ich nach Oslo, wo das  Urteil  in seinem  Fall erwartet wird.

 

 

Worum es (mir) in der Beschneidungsdebatte geht

Noch ein paar unsystematische Gedanken zu einer längst nicht abgeschlossenen Debatte:

Wer sich gegen das Verbot eines elementaren Rituals ausspricht, sieht sich dieser Tage leicht als „religiöser Eiferer“ angegriffen, wie ein bekannt und bekennend agnostischer Kollege mir erstaunt erzählte, der das Kölner Urteil in einem Artikel kritisiert hatte. Er hatte noch nie so viele wütende Leserbriefe bekommen.

Vielleicht muss man das noch einmal klarstellen: Das Recht auf die religiös begründete (Vorhaut-)Beschneidung zu verteidigen bedeutet nicht, diese Praxis für „gut“ oder gar „für alle Zeiten bindend“ zu erklären. In meinem persönlichen Fall möchte ich in Anspruch nehmen, dass meine Haltung zu diesem Brauch (würde ich es durchführen lassen, bin ich selber beschnitten – ja, dergleichen wird derzeit gerne erfragt) absolut irrelevant für meine Position ist. Es kommt darauf an, ob man erstens die Sache als schädlich für die Betroffenen betrachtet und ob man anderen Leuten abnimmt, dass es für sie ein wichtiges, unverzichtbares Ritual ist, eine Glaubenspflicht. Erstes ist m.E. nicht der Fall (Komplikationen notwithstanding), zweites ist der Fall, und darum glaube ich, dass die Knabenbeschneidung weiter erlaubt sein soll.

Darf der Gesetzgeber dabei Vorgaben machen? Natürlich. Darf er es verbieten, wie manche fordern: Nein.

Es ist völlig legtitim, ja es ist begrüßenswert, wenn nun Menschen, die sich durch die Beschneidung geschädigt fühlen, das Wort ergreifen. Das gilt für Stimmen wie den hier in Kommentaren bereits zitierten Ali Utlu, der das Ritual als schmerzhafte Demütigung erinnert und von Beeinträchtigungen danach spricht. Und es gilt auch für Eltern – muslimische, aber auch jüdische – die das Ritual als Belastung empfinden und es ihren Söhnen am liebsten ersparen wollen. Necla Kelek hat damit in der muslimischen Community angefangen, ich hatte in meinem ersten Beitrag darauf hingewiesen, und für die jüdische Seite lässt sich auch feststellen, dass es bei nicht-traditionalistisch lebenden jungen Leuten oft Unbehagen gibt und einen Wunsch nach neuen Lösungen. Die Darstellung eines solchen Gewissenskonflikts markiert übrigens das Ende meiner letzten größeren Reportage über Juden in Deutschland.

Was mich nach wie vor, oder sagen wir lieber, jeden Tag mehr, entsetzt ist die Unfähigkeit oder wenigstens der Unwille weiter Teile der Debattierenden, diese beiden Elemente zusammenzudenken: Respekt für Religionsfreiheit UND Offenheit für Bedenken, Änderungswünsche, Klagen. Warum soll das nicht zusammen möglich sein? Es ist, glaube ich, NUR in Kombination machbar. Nur wer sich nicht kriminalisiert fühlt, wird offen debattieren können.

Statt dessen erleben wir Tag für Tag, dass die Beschneidung als „barbarisches Ritual“ in Kommentaren und Leitartikeln vorgeführt wird. Den einsamen Höhepunkt hat für mich Volker Zastrow von der FAS erreicht, der es schaffte, auf subtile Weise Beschneidung in einen Zusammenhang mit Pädophilie und Kindesmißbrauch zu rücken. Dass es das Gleiche sei, sagt er zwar nicht rundheraus, aber dass, wer sich gegen diese Formen „sexueller Gewalt“ wende, eben auch die Beschneidung verbieten müsse, ist die Pointe des Leitartikels.

So sehen sich nun Beschnittene mit einer Kampagne konfrontiert, die sie zu einer neuen Opfergruppe definieren will. Wer nicht einsehen will, dass er traumatisiert ist, wie etwa Hanno Loewy hier in der „Jüdischen Allegemeinen“, für den stehen Kronzeugen der Anklage bereit, die das Gegenteil bezeugen. Wer dann noch verstockt darauf besteht, er sei zufrieden mit seinem in den Augen der Mehrheit verstümmelten Penis, bestätigt damit nur, wie tief das Trauma sitzen muss.

Die Orgasmusfähigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen wird in Abrede gestellt, und kaum einer findet das schräg. Ich muss dieser Tage viel an Tisa Farrows unsterblichen Satz in Woody Allens „Manhattan“ denken: „Ich hatte endlich einen Orgasmus, aber mein Doktor sagt, es sei der falsche.“ So geht es heute Juden und Muslimen: Da stehen sie mit ihren unbemützten Schlongs, und der wohlmeinende Doktor beugt sich drüber: Tut uns leid, mag sein, dass ihr mit diesem Ding Orgasmen habt, aber es sind nicht die richtigen. Wir haben euch außerdem im Verdacht, dass eure Selbstbefriedigung abendländisch-christlichen Maßstäben nicht genügt. Und das alles kommt im Ton einer heiligen Mission daher, den semitischen Penis vor dem Messer zu retten. White man’s (rsp. woman’s) burden, neu verstanden.

Politisch interessant ist die Klärung der Fronten im „islamkritischen“ Lager zwischen PI und DADG. Bei PI ist man wütend auf die Juden, die es einem unmöglich machen, auf die Muslime einzudreschen. DADG distanziert sich zunehmend von dem islamophob-antisemitischen Diskurs. Infolge dessen emanzipiert sich die radikaler werdende rechtspopulistische Szene von der „proisraelischen“ Haltung (die ich immer für ein Fake gehalten habe). Wenn die Juden dem Moslembashing im Wege stehen, müssen sie eben auch dran glauben. Für „so etwas“ gibt es hier keinen Platz, das ist die Botschaft.

„So etwas“? Juden und Muslime finden sich durch diese Debatte im selben Boot, in den Augen der Mehrheit zwei Varianten derselben patriarchalisch-„barbarischen“ Wüstenreligion, die einfach nicht sublimieren will und stur weiter das Blut ihrer Söhne vergießt. Bei der Frage des Schächtens wird sich diese Konstellation wiederholen, dann anhand des Leids der Tiere. Interessant zu sehen, was daraus folgt für den Dialog.

Vorerst überwiegt eine tiefe Verunsicherung. Und das auch bei den nicht besonders Frommen, ja sogar bei den am wenigsten Frommen am meisten. Die Frommen wissen ja eh immer schon woran sie sind und beobachten die Mehrheit mit Verdacht. Am meisten getroffen sind aber diesmal viele moderne, moderate, ja sogar areligiöse Juden und Muslime.

Mir geht es auch so. Ich bin fassungslos über die Wut dieser Debatte.

Ich habe keinen Hund in diesem Kampf, wie man so sagt. Ich habe zum Besten an der Religion ein Verhältnis ähnlich dem eines Opernliebhabers, der selber kein Instrument spielt, und doch die Musik verehrt. Das weiß Gott viele Schlechte an der Religion, das oft genug auf diesem Blog Thema ist, wer wollte es leugnen? Darum geht es nicht. Religionsfreiheit ist in unserer Welt eine Frage, die oft genug über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheidet. Sie sollte auch für religiös Unmusikalische etwas Heiliges sein.

Es wäre eine bizarre Pointe, wenn Deutschland seine Lektion aus der eigenen totalitären Geschichte dahin treiben würde, Menschen- und also Kinderrechte derart zu definieren, dass jüdisches und muslimisches Leben hier unmöglich würde. Ist bei der Reeducation etwas schief gegangen?

 

(Korrektur, 28.7.2012: Es war nicht Mia, sondern Tisa Farrows, die in Manhattan den oben zitierten Satz sagt. Danke für die Hinweise darauf. Der eigentlich passende Satz kommt von Woody Allen in der Replik: „Ich hatte nie falsche Orgasmen. Auch die schlechtesten waren Volltreffer.“ JL)

 

 

Gewissensqualen eines muslimischen Batman-Fans (im Ramadan)

Aman Ali aus Columbus, Ohio, der in New York lebt und arbeitet, ist ein großer Batman-Fan. Er hat die letzten beiden Filme nach stundenlangem Anstehen am Premierenabend gesehen. Wie hatte er sich auf „The Dark Knight Rises“ gefreut! Doch dann erfuhr er, dass die Premiere am ersten Abend des Ramadan stattfinden sollte.

 

Islamophobie und Antisemitismus, vereint gegen Beschneidungen

Gestern habe ich hier eingeräumt, dass mir die Unterscheidung zwischen Islamophobie und Antisemitismus nicht mehr einleuchtet:

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche.

Mit jedem Tag der unsäglichen Beschneidungsdebatte sehe ich dies bestätigt. Sergej Lagodinsky hat auf Facebook auf diese Karikatur aus dem Berliner Kurier aufmerksam gemacht. Man beachte die Nase im Original Stürmer-Stil:

Und dann ist da der Kommentar von Michael Stürzenberger auf PI, mit dem endlich für alle sichtbar die „proisraelische“ Kostümierung der islamfeindlichen Rechtsradikalen gefallen ist:

Dem Christentum steht es gut zu Gesicht, durch Jesus einen “neuen Bund” geschlossen zu haben, was zu einer Relativierung des Alten Testamentes geführt hat. Dem Judentum kann man zubilligen, dass seine Schriften heutzutage meist nicht mehr wörtlich genommen werden, was auch zu der einzigen Demokratie im Nahen Osten, dem modernen Israel, geführt hat. Wenn sich aber jüdische Verbände und Organisationen beispielsweise so an die uralte Vorschrift der Beschneidung klammern, zeigen sie damit, dass sie sich in diesem Punkt nicht vom Islam unterscheiden. So etwas hat nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nichts zu suchen.

Den Bestrebungen verschiedener Bundestagsparteien, nun ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die religiös begründete Beschneidung von Jungen straffrei stellt, sollte daher unbedingt entgegengewirkt werden. Durch solche Maßnahmen wird auch dem Islam und seiner Scharia immer mehr Einfluß in unserer Gesellschaft verschafft, was zielstrebig in Richtung islamischer Gottestaat führt.

Juden raus – wenn sie sich an die „uralte Vorschrift der Beschneidung klammern“. Gut, dass man es endlich schriftlich hat.

 

 

Die Komiker-Nation Deutschland debattiert Beschneidungen

«Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation.»
Das hat die Kanzlerin mal was richtig erkannt.

Die Muslime hätte sie allerdings gerne einbeziehen können. Tut sie aber bezeichnender Weise nicht. Denn Ausgangspunkt der Debatte war ja der Fall eines vierjährigen Muslims. Dass die Oberstaatsanwältin, die den Fall in Köln vor Gericht brachte, auch gegen einen weißbärtigen Mohel vorgegangen wäre, kann ich mir nicht vorstellen. Noch fällt es schwer, sich auszumalen, dass wir demnächst wegen Körperverletzung einen Rabbiner in der Synagoge verhaften.

Nein, wohl eher nicht. Aber einem syrischstämmigen Arzt kann man eben schon mal die Instrumente zeigen. Es fällt in Deutschland einfach leichter, Muslime über ihr „Barbarentum“ zu belehren als Juden.

Jedenfalls noch.

Nun hat man es aber mit der Rabbinerkonferenz und dem Zentralrat der Juden in schönster Einheit mit den islamischen Verbänden zu tun bekommen, und da hört dann der Spaß auf. Eine rechtliche Klärung muss nun her, um Juden das Verbleiben hier zu ermöglichen. Recht hat sie, die Kanzlerin.

Davon dürfen dann die Muslime, die den Anlass für das irre Theater gegeben haben, gerne mit profitieren, ohne dass die Kanzlerin sich nun freilich als deren Schutzpatronin erwischen lassen will.

Deutschland. Zum Auswandern schön.

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche.

Heute morgen im Deutschlandfunk hören zu müssen, wie wohlmeinende deutsche Ärzte gleich zwei Weltreligionen freundliche Angebote machen, sich endlich bitte, bitte auf das zivilisatorische Niveau des Kölner Landgerichts hinaufhieven zu lassen, das war dann doch sehr erhellend. Jüdische Teilnehmer verwahrten sich gegen die Unterstellung, sie seien traumatisiert. Es half nichts. Der deutsche Therapeut wußte es besser.

Leserbriefschreibern und Kommentatoren quillt der gesunde Menschenverstand aus den Tasten, dass es keine, aber auch gar keine akzeptable Begründung für die „Verstümmelung“ von Knaben durch Vorhautentfernung gebe.

Religiöser Analphabetismus wird mit erstaunlichem Stolz als Common Sense spazieren geführt. Irre, was man so alles an Vergleichen hört: Abtreibung, Ohrfeige, kosmetische Ohrenkorrektur… Das großmütige Angebot, man könne Beschneidung verbieten, aber straffrei lassen, wie eben die Abtreibung. Und dem Vorschlagenden fällt gar nicht mehr auf, dass damit eine Ritualhandlung aufgrund eines religiösen Gebots, die der Aufnahme eines neuen Lebens in die Gemeinschaft dient (und der Feier des Bundes mit Gott), auf die gleiche Stufe mit der Beendigung menschlichen Lebens gestellt wird. Und wie das wohl bei den Betroffenen ankommt, dass ihre Handlung mit einer Tötung verglichen wird.

Ach was, es geht womöglich gar nicht um die Juden und die Muslime. Es ist wieder einmal eine – diesmal knisternd pornographisch aufgeladene –  Orgie der Selbstbestätigung ausgebrochen. Der faszinierte Blick auf den beschnittenen Schlong lässt uns in Gewissheit erstarren, dass wir aufgeklärten Mehrheitsmenschen den Längsten haben.

Mit heiligem Ernst beschäftigt sich ein Land wie Deutschland zwei Wochen lang mit anderer Leute Geschlechtsorganen. Man fasst es nicht. Andererseits: Deutsche wollen die Unversehrtheit jüdischer und muslimischer Penisse per Gesetz garantieren. Irgendwie ein Fortschritt, oder? Wäre da nicht die peinliche Pointe, dass zu diesem Zweck die Eltern und die Ärzte, die an „barbarischen Bräuchen“ festhalten, kriminalisiert werden.

Alle sollen so werden wie wir. Darum gehts es letztlich. Ja, warum auch nicht: Es gibt ja nun wirklich keinen Grund, anders zu sein oder anderes zu glauben, denn wir sind das zwar nicht das auserwählte, aber das aufgeklärte Volk. Indem wir ihre Religion kriminalisieren, geben wir den Juden und den Muslimen eine Chance, sich endlich nach Jahrtausenden von ihren archaischen Praktiken zu distanzieren.

Wir Deutschen sind die Guten: Eine Komiker-Nation im Einklang mit sich selbst.

Komisch nur, dass keiner lacht.

 

 

Die Beschneidung der Religionsfreiheit

Wie um alles in der Welt sind wir denn bloß hierhin gekommen? Ein deutsches Landgericht urteilt, dass das Recht des Kindes auf Unversehrtheit über dem Recht der Eltern steht, aus religiösen Gründen die Beschneidung eines Sohnes vornehmen zu lassen – und innerhalb von Wochen ist von einer der „vielleicht schwersten Attacken auf jüdisches Leben in Europa in der Post-Holocaust-Welt“ die Rede – so der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt.

Dabei war der Fall eines muslimischen Jungen der Anlass für die Rechtssprechung gewesen. Ein Kölner Arzt hatte im November 2010 den vierjährigen Sohn eines aus dem Irak stammenden Paares beschnitten. Es war, wie Yassin Musharbash in der ZEIT dargelegt hat, zu (durchaus üblichen) Nachblutungen gekommen. Die Mutter war dadurch in Panik geraten, hatte in verwirrtem Zustand um Hilfe gerufen und war mit ihrem Sohn in die Notaufnahme gekommen, wo die kaum des deutschen mächtige Frau Angaben machte (oder so verstanden wurde), dass ihr Sohn „in einer Wohnung mit der Schere“ beschnitten worden sei. Es kam zur Anklage gegen den Arzt, die in erster Instanz niedergeschlagen wurde, in zweiter Instanz aber kam es dann zu dem Urteil mit den folgenschweren Sätzen über den Vorrang der Unversehrtheit.

Beschneidung als Körperverletzung: Aus einem Urteil in Sachen eines vierjährigen Muslims ist nun eine „Attacke auf das jüdische Leben“ geworden. Juden und Muslime erklären vereint, sie sähen ihre Religionsfreiheit gefährdet und gar die Zukunft jüdischen beziehungsweise muslimischen Lebens auf Messers Schneide, wenn dieser unpassende Wortwitz hier erlaubt sei. Aus einer Verkettung von Missverständnissen ist ein Kulturkampf geworden.

Ich glaube nicht, dass das Kölner Urteil Auswirkungen auf eine Jahrtausende alte Praxis haben wird, die konstitutiv für die beiden Religionsgemeinschaften ist. Allein die Anmaßung der treibenden Oberstaatsanwältin und des Landgerichts ist freilich atemberaubend. Das heißt eben nicht, dass es unter den Betroffenen keine Diskussion um diese Praxis gibt. Necla Kelek hat in ihrem Buch über türkische Männer eine extrem scharfe Kritik der Beschneidungsrituale in der Türkei formuliert. Ich teile nicht ihre Folgerungen, aber ihr Impuls, eine Debatte über Männlichkeitsriten anzuregen, ist berechtigt. Junge Juden, die nicht fest in der Orthodoxie verhaftet sind, machen es sich oft auch nicht leicht, wenn sie Eltern werden. Allerdings entscheiden sich die meisten doch für die Beschneidung als Zeichen für den Bund, als Zeichen dafür, dass die jüdische Geschichte weitergeht.

Es gibt übrigens eine eigene Tradition von jüdischen Beschneidungswitzen. Einen besonders drastischen von Oliver Polak habe ich schon einmal in der ZEIT zitiert: „Warum sind jüdische Männer beschnitten? Weil eine jüdische Frau nichts anfasst, was nicht mindestens um 20 Prozent reduziert ist.“ Berühmt ist auch folgende Episode aus der Comedy-Serie „Seinfeld„, in der die Bedenken gegen die Beschneidung auf geniale Weise thematisiert werden. (Allerdings wird auch hier das Kind dann eben doch beschnitten.)

Aber eine interne Debatte um das Für und Wider ist das eine. Und eine über Gerichte und Meinungsumfragen geführte Debatte der Mehrheit über die vermeintlich rückständig-barbarische Minderheit ist etwas anderes. In der deutschen Debatte, die durch das Kölner Urteil aufgekommen ist, irritiert der bierernste Ton der Belehrung und der herablassenden Umerziehung der „archaischen Religionen“, die einfach nicht bereit sind, ihre blutigen Rituale weiter symbolisch zu sublimieren. (Manchmal glaube ich einen Nachhall von dem protestantischen Zetern über die unbelehrbaren Katholen zu hören, die an die Wandlung von Wein zu Blut und Brot zu Fleisch glauben.)

Der aufgeklärte Vorbehalt gegen die Juden – und daraus abgeleitet auch gegen die in ihrer Ritualverhaftetheit verwandten Muslime – ist plötzlich wieder da. Wie anders ist zu erklären, dass breite Mehrheiten hierzulande das Kölner Urteil für richtig halten? Unser Recht soll also jüdische und muslimische Jungen vor einer barbarischen Praxis schützen, der sie ihre „verstockten“ Eltern unterwerfen? Wir kriminalisieren einen religiösen Ritus, der konstitutiv für die Zugehörigkeit zu den beiden abrahamitischen Bruderreligionen ist?
Abenteuerlich, und undenkbar in Gesellschaften, die nicht wie unsere derart vom Gespenst der religiös-kulturellen Homogenität heimgesucht werden. Undenkbar in den USA oder Kanada – Ländern, in denen es weit verbreitet war oder ist, Jungen auch ohne religiöse Gründe zu beschneiden. Dort wird diese Praxis zwar inzwischen in Frage gestellt, doch niemand käme auf die Idee, religiös begründete Beschneidungen zu kriminalisieren.
Es ist eine beängstigende Verspießerung unseres öffntlichen Lebens festzustellen, eine Verspießerung im Zeichen selbstgefälliger Pseudoaufgeklärtheit, die religiöses Anderssein unter der Flagge des Kinderschutzes und der Menschenrechte (im Fall Schächten/Halal: Tierschutz) zu erdrücken droht.
Die Rabbiner hätten nicht gleich das H-Wort bemühen müssen, aber im Kern haben sie recht: Wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt, ist jüdisches (und muslimisches) Leben in Deutschland bedroht. Schon jetzt ist Schaden entstanden: 70 Jahre nach der Schoah wird in Deutschland traditionelles jüdisches (und muslimisches) Leben kriminalisiert, und der Bürger nickt wohlgefällig mit dem Kopf dazu. Als wäre es nicht Aufgabe des Rechts, die Minderheit vor dem Absolutismus der Mehrheit zu schützen.

 

 

Streitgespräch mit einem Salafisten und einer liberalen Muslimin

Mit der Kollegin Özlem Topçu zusammen habe ich ein Gespräch zwischen einem Salafisten und einer liberalen Muslimin moderiert. Aus der ZEIT von heute, S. 4:

Lamya Kaddor, 35, ist Lehrerin für Islamkunde an einer Schule im niederrheinischen Dinslaken. Sie ist Mitbegründerin des Vereins Liberal-Islamischer Bund und Autorin von Büchern wie »Der Koran für Kinder und Erwachsene« und »Muslimisch, weiblich, deutsch«.
Abdurrahman Malik heißt eigentlich anders, ist Anfang 20, Student und bekennender Salafist. Seinen richtigen Namen möchte er aus Angst vor Morddrohungen aus der extremistischen Salafistenszene nicht nennen. Wir treffen die beiden in einem Duisburger Hotel zum Gespräch. Malik weigert sich, Lamya Kaddor mit Handschlag zu begrüßen.

 

DIE ZEIT: Herr Malik, Salafisten werden mit Intoleranz, Gewalt und Terror in Verbindung gebracht. Warum sind Sie Teil dieser Bewegung?

Abdurrahman Malik: Für mich ist das Wort »Salafist« kein Schimpfwort. Es geht auf die Muslime der ersten Stunde zurück, die im Islam großes Ansehen genießen. Salafisten orientieren sich stark an Koran, der Sunna, der Lebensweise des Propheten Mohammed und Religionsgelehrten, zumeist aus Saudi-Arabien. In der deutschen Debatte assoziiert man den Begriff mit gewalttätigem Extremismus. Diese Pauschalisierung lehne ich ab, genauso wie die radikal-militanten Salafisten und ihre Ideologie.

ZEIT: Warum haben Sie diese rückständigste Form des Islam gewählt?

Malik: Was heißt rückständig? Die Gesetze meiner Religion umzusetzen ist für mich kein Hardcore-Islam. Der Islam ist eine Gesetzesreligion, und ich befolge die Gesetze.

ZEIT: Frau Kaddor, die Salafisten dominieren im Moment das Islambild in Deutschland, sie verteilen Korane und demonstrieren gegen Islamkarikaturen – teilweise gewalttätig. Sie versuchen mit Ihrer Arbeit, ein liberales Islambild zu vermitteln. Stehlen Ihnen die Fundamentalisten die Show?

Lamya Kaddor: Sie machen mir meine Arbeit kaputt. Ich will den Islam weiterdenken und dabei auch zu neuen Schlüssen kommen. Das bedeutet: weniger Dogma und mehr Spiritualität. Die Salafisten machen das zunichte, weil sich dank ihrer Auftritte die Diskussion nun vor allem darum dreht, ob Muslime generell rückständig und gewaltbereit sind. Ich fühle mich um mindestens 20 Schritte zurückgeworfen.

Abdurrahman Malik* (Name geändert) und Lamya Kaddor                     Foto: Michael Dannemann für DIE ZEIT

ZEIT: Sind Salafisten nicht spirituell?

Kaddor: Jede unorthodoxe Form, Gott näherzukommen, sehen Salafisten als Ketzerei an. Sie sagen, es habe mit der »reinen Lehre« nichts zu tun. Das erschreckt mich. Sie tun so, als kennten sie allein die Wahrheit. Doch kein Mensch kann das für sich in Anspruch nehmen – nur Gott. Ich komme aus einem konservativen Elternhaus, aber es gab dort keinen Zwang. Meine Eltern haben meinen beiden Schwestern und mir das Kopftuch empfohlen, aber uns nicht unter Druck gesetzt. Ich kannte als Kind schon etliche Koranverse. Aber mir reichte das nicht, irgendwann kamen die Fragen: Warum machen wir das so? Wozu all diese Regeln? Es fehlten zeitgemäße Antworten. Für Salafisten sind bereits Fragen tabu, sie überlassen alles den Gelehrten. Was Scheich XY sagt, ist Gesetz.

ZEIT: Halten das nicht auch viele Mainstream-Muslime so?

Kaddor: Ja, aber das kritisiere ich eben: Warum soll jemand, der Tausende Kilometer weit entfernt ist, uns in Deutschland sagen, was wir zu tun haben? Die Fixierung auf einen Gelehrtenspruch verhindert, dass man seinen eigenen Verstand einschaltet.

Malik: Moment mal: Auch Salafisten können zu eigenen Schlüssen kommen. Ja, es gibt eine starke Abhängigkeit von den Religionsgelehrten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht die Verhältnisse zum Beispiel in Saudi-Arabien kritisieren. Warum darf eine Frau dort nicht Auto fahren, wenn Aischa, die Ehefrau des Propheten, auf einem Kamel geritten ist? Für mich passt das nicht zusammen. Da unterscheiden Frau Kaddor und ich uns nicht wesentlich.

Kaddor: Doch! Weil ihr euch solche Fragen überhaupt noch im Ernst stellt. Der Einfluss dieses engherzigen Verständnisses von Religion macht mir Angst. Warum beispielsweise dürfen Frauen Ihrer Meinung nach nicht vorbeten?

Malik: Die Gelehrten haben so geurteilt – diskutabel ist es aber.

Kaddor: Da sind meine Schüler weiter. Ich habe im Unterricht mal gefragt, ob jemand Probleme hätte, wenn ich ein gemeinsames Gebet leiten würde. Die Jungs meinten: Kein Problem.

Malik: Wenn Sie es theologisch begründen können – o.k. Ich bin auch nicht für eine Geschlechter-Apartheid. Mann und Frau können ganz normal miteinander umgehen, sich beim Gespräch in die Augen sehen. Die Grenze ist die Berührung.

Kaddor: Sie sind ja richtig gemäßigt! Ein strenger Salafist würde eine Frau nicht mal ansehen.

Malik: Ich nenne es reformatorisch-konservativ.

ZEIT: Das müssen Sie unseren Lesern erklären.

Malik: Reformatorisch-konservativ bedeutet: Wir richten uns nach dem Koran und der Sunna, aber wir wählen nicht, anders als die Hardcore-Salafisten, die strengste Variante der Auslegung, sondern versuchen, liberalere Standpunkte zu vertreten, ohne die Rechtsquellen zu ignorieren oder zu um-gehen, was wir Liberalen wie Ihnen vorwerfen.

Kaddor: Sie haben aber einen massiven Missionsanspruch.

Malik: Missionsanspruch, ja, aber zieht das Gewalt nach sich? Die salafistische Szene hat sich kollektiv – mit Ausnahme der Radikal-Militanten – gegen die jüngsten Ereignisse in NRW aus-gesprochen.

ZEIT: Sicherheitsbehörden sehen aber eine besondere Nähe der Salafisten zu Gewalt und Terror. Alle Dschihadisten, die sich von Deutschland aus aufgemacht oder in Deutschland zugeschlagen haben, hatten Kontakt zu salafistischen Netzwerken. Sie selbst werden von Glaubensbrüdern bedroht.

Malik: In der salafistischen Szene gibt es einen klaren ideologischen Bruch zwischen Moderaten und Radikal-Militanten, die Ge-walt gegen Muslime wie Nichtmuslime legitimieren und mit Al-Kaida sympathisieren. Wenn sich moderate Salafisten dagegen-stel-len, werden sie im schlimmsten Fall mit dem Tod bedroht – was auch mir passiert ist. Und wenn ich in letzter Zeit Zorn verspürte, dann nicht wegen liberalen Muslimen oder Nichtmuslimen, sondern wegen der Radikal-Militanten, die mei-ne Religion in den Dreck ziehen. Mit diesen »Brüdern« verbindet mich gar nichts.

ZEIT: Dennoch haben Gewalttäter geistige Führer, die sie anstiften. Ist jemand wie Frau Kaddor in Ihren Augen eine richtige Muslima?

Malik: Es gibt liberale Muslime in Frau Kaddors Verein, die ich aus meinem theolo-gischen Verständnis heraus zu Nichtmuslimen erklären müsste, da sie in einigen Punkten fundamental von der Glaubenslehre abweichen.

Kaddor: Woher nehmen Sie sich das Recht, darüber zu urteilen? Das kann nur der Allmächtige.

Malik: Wenn Positionen vertreten werden, die mit dem islamischen Recht nicht kompatibel sind, ist die Sache klar. Beispielsweise wenn homosexueller Geschlechtsverkehr legitimiert wird, ohne jede theologische Begründung.

ZEIT: In der deutschen Gesellschaft sind gleichgeschlechtliche Beziehungen heterosexuellen gleich-gestellt. Wie lebt man mit der öffentlichen Toleranz der »Sünde« als deutscher Salafist?

Malik: Wir müssen es tolerieren und einen vernünftigen Umgang mit diesen Menschen finden. Zum einen hat die Scharia hier keine staatliche Rechtsgültigkeit, und zum anderen kommen auch die Rechtsschulen des Islam
zu verschiedenen Urteilen, von der Ermahnung bis hin zur Todesstrafe. Der Salafistenprediger Pierre Vogel hat sich in dieser Frage klar zur Ermahnung bekannt. Ich selbst sehe das anders.

ZEIT: Sie plädieren für körperliche Strafe?

Malik: Nach islamischem Recht, ja.

Kaddor: Dafür gibt es im Koran keine Regelung. Es steht noch nicht einmal eindeutig irgendwo geschrieben, dass man als Schwuler in die Hölle kommt. Gott erwähnt auch an keiner Stelle, was mit Frauen passiert, die kein Kopftuch tragen – woher also diese ständige Strafandrohung?

ZEIT: Das ist aber doch das Merkmal des Salafismus hierzulande. Wer kein Muslim wird, kommt in die Hölle.

Malik: Nach der islamischen Glaubenslehre werden Nichtmuslime das Seelenheil nicht -erreichen. Von Teilen der Salafisten wird dies aber als systematische Angstpädagogik verwendet.

Kaddor: Beispielsweise gegen Juden und Christen – für Sie doch Ungläubige, die in Hölle kommen.

Malik: Für mich sind Juden wie auch andere Nichtmuslime Ungläubige.

Kaddor: Warum? Mit welcher Begründung?

Malik: Der Islam erhebt wie jede andere Religion einen Wahrheitsanspruch, der von Andersgläubigen nicht anerkannt wird. Diese Einstellung ist nicht speziell salafistisch.

ZEIT: Wegen solcher Ansichten wirft der Bundesverfassungsschutz Salafisten vor, einen Gottesstaat errichten zu wollen, in dem Grundrechte unserer Verfassung nicht gelten.

Malik: Es sind religiöse Überzeugungen, die un-sere persönliche Meinung darstellen und aus -unserer Sicht besser für die Gesellschaft sind.

ZEIT: Muss nicht jeder Salafist einen islamischen Staat anstreben?

Malik: Nach meinem Verständnis sollte ein Mus-lim das tun, ja. Es beginnt mit der einfachen Arbeit in der Gesellschaft, wie die Muslimbruderschaft es auch getan hat. Wir müssen an der Basis anfangen. Wir können es nicht von oben mit Gewalt durchsetzen. Übrigens ist ein islamischer Staat und die Anwendung der Scharia kein Patentrezept dafür, dass alles besser wird. Siehe Iran.

Kaddor: Da gehen bei mir alle Lampen an, wenn ich so etwas höre.

Malik: Es ist eine Utopie, in Deutschland zumindest.

Kaddor: Utopie? Schauen Sie sich doch die sogenannten islamischen Staaten an – wo bitte fördern die »islamische Werte«? Nicht islamische Staa-ten, die die Menschenrechte achten, sind für mich »islamischer« als die angeblich schariakonformen Staaten, die sie mit Füßen treten.

ZEIT: Herr Malik, müssten Sie mit Ihrem Wunsch nach einem Schariastaat nicht nach Saudi-Arabien auswandern?

Malik: Ja, da ist etwas dran. Aber die Gelehrten sagen: Wenn ihr in einem nicht muslimischen Staat eure Religion frei ausleben könnt, dann müsst ihr nicht zurückkehren. Deswegen wehre ich mich immer dagegen, wenn gesagt wird, in Deutschland gebe es eine Islamhetze. Die Muslime können ihre Religion frei ausleben, wir können hier unsere Moscheen bauen, Frauen können Kopf-tücher tragen, auch wenn es gewisse Repres-sionen im Alltag gibt. Aber wir können hier -wesentlich besser und freier leben als in vielen muslimischen Staaten.

ZEIT: Wäre es dann nicht besser, Ihre Glaubensgenossen würden statt des Korans mal das Grundgesetz verteilen?

Kaddor: … einige Muslime machen das ja schon.

Malik: Ich habe nichts dagegen, denn man muss sich an die Gesetze des Landes halten. Das schreibt die Scharia klar vor.

Kaddor: Das ist ja die Ironie: Nach der Scharia muss er zwar die Demokratie achten – aber nur, weil er hier lebt.

ZEIT: Aber unser Grundgesetz schreibt ja auch vor, dass niemand wegen seiner Rasse, seines Geschlechts, seines Glaubens oder seiner Sexualität diskriminiert werden darf.

Malik: Dementsprechend haben wir uns auch daran zu halten.

Kaddor: Finden Sie nicht, dass wir Muslime Besseres zu tun haben, als über Kopftücher zu diskutieren? Es kann doch nicht bloß darum gehen, die Jugend durch Verbote und Strafen zu besonders frommen Muslimen zu erziehen!

Malik: Es fehlt an Bildung, da stimme ich zu. Aber auch an religiöser Bildung.

Kaddor: Ja, eben. Und da sollten wir uns zu-sammentun. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, die Globalisierung schreitet voran – und wir träumen uns eine kleine, muslimische Welt zusammen, die es so gar nicht gibt und nie gegeben hat.

Malik: Dem kann ich mich klar anschließen.

 

Die Fragen stellten Jörg Lau und Özlem Topçu