Wer ein Haus baut, will bleiben – zum Kölner Moscheestreit

Wer es schafft, sich mit ein und derselben Äußerung die Wut von Rechtsradikalen und den Hass von Islamisten zuzuziehen, der trägt das Etikett des »streitbaren Publizisten« offensichtlich zu Recht. Ralph Giordano, mit 84 Jahren immer noch unermüdlicher Mahner, hat mit seiner ­Intervention zum Moscheebaustreit in Köln die­ses erstaunliche Kunststück vollbracht: Die rechts­populistischen Moscheegegner von Pro Köln haben ihn verklagt, weil er sie die »lokale Variante des zeitgenössischen Nationalsozialismus« nennt. Zugleich bedrohten ihn mehrere Anrufer, die immer wieder »Allah, Allah« riefen, mit dem Tod.
Alles begann mit einem Streitgespräch, das Giordano auf Einladung des Kölner Stadtanzeigers mit Bekir Alboga führte, dem Dialogbeauftragten des türkeinahen Moscheeverbandes Ditib. Giordano forderte, die geplante repräsentative Ditib-Moschee in Köln-Ehrenfeld dürfe nicht errichtet werden, sonst drohten »Unfrieden und Unruhe«. Außerdem wolle er »auf deutschen Straßen keiner Burka-Verhüllten begegnen«. Auf dem Hinweg habe er »einen Anblick ertragen, der meine Ästhetik beschädigt hat – eine von oben bis unten verhüllte Frau, ein menschlicher Pinguin«.

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Die geplante Moschee in Köln-Ehrenfeld. Bild: Peter Oszvald. Tchorz Architekten

Flugs wurde Giordano in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt. Ausgerechnet Ralph Giordano, der als Jude im Versteck die NS-Zeit überlebte, der später den Deutschen die »zweite Schuld« der Verleugnung vorhielt, der früh gegen den Neonazismus auftrat, musste sich vom Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) sagen lassen, er lenke »Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen«.
Giordano beharrt zu Recht darauf, es müsse möglich sein, einen Moscheebau abzulehnen und gegen die Burka zu sein, ohne gleich als nützlicher Idiot des Rechtsradikalismus abgestempelt zu werden. »Wer einen Überlebenden des Holocaust auf diese Weise beschuldigt«, so Giordano, »der richtet sich selbst.«

Wohl wahr. Doch Ralph Giordano sollte die hilflosen Attacken seiner Gegner nicht als Indiz dafür nehmen, dass er selbst richtig liegt. Er hat die bedenkenswerten Elemente seiner Islamkritik unter so viel wütender Polemik versteckt, dass es schwer ist, sie überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. Gegen die Burka sprechen die Menschenrechte, nicht Regeln des guten Geschmacks. Wer die Bevölkerung über Sakralbauten abstimmen lassen will, wie Giordano es vorschlägt, der kann nicht nur weitere Moscheen, sondern auch neue Synagogen wie in Leipzig und München vergessen. Die gelten vielen hierzulande nämlich auch immer noch als »kulturfremd« (Giordano).

Giordano lehnt die Ehrenfelder Moschee ab, weil sie »ein falsches Signal« sei. Die Integration der Muslime sei »gescheitert«, eine Großmoschee aber suggeriere, sie sei gelungen. Die Erlaubnis zum Bau einer Moschee ist aber zum Glück kein Gnadenrecht, das die geneigte Mehrheit bei gelungener Integra­tion (Wie misst man sie?) verleiht, sondern eine Frage der Religionsfreiheit und des Baurechts.

Moscheen sind keine Signalanlagen der Integration – ebenso wenig wie die neuen Synagogen der wachsenden jüdischen Gemeinde. Aber zweifellos kann man an ihnen etwas ablesen. Die Kölner Moschee, gegen die Giordano streitet, ist das Zeugnis eines neuen Selbstbewusstseins. Und das ist kein Grund zur Sorge, sondern zur Hoffnung. Der Geist ihres Entwurfs lässt sich am besten in dem sprichwörtlich gewordenen Satz zusammenfassen, mit dem Salomon Korn einst das jüdische Gemeindezentrum in Frankfurt eröffnete: »Wer ein Haus baut, will bleiben.«
An dem Ort, an dem die Moschee entstehen soll, beten Muslime unbescholten schon seit Jahrzehnten. Das alte Ditib-Gebäude ist eine konvertierte Fabrik, wie so viele Moscheen in Deutschland. Für Gastarbeiter, die nicht wussten, ob sie bleiben würden, mochte das reichen. Nun aber streben deutsche Muslime nach einem würdigen Ort zum Beten. Und wie sie auf den Architekten ihrer Wahl kamen, spricht für ihren Integrationswillen: Die moderne katholische Kirche St. Theo­dor hatte es den Verantwortlichen von Ditib angetan. So luden sie Gottfried Böhm und seinen Sohn Paul zum Wettbewerb ein – also den größten Kirchenbaumeister der Gegenwart und seinen kongenialen Nachfahren. Deren Entwurf gewann den Wettbewerb, sodass nun Gottfried Böhm – der Pritzker-Preis-Gewinner und damit der am höchsten dekorierte deutsche Architekt – mit seinem Namen für die Moschee steht. Der Bau wird als Kuppel eine stilisierte Weltkugel tragen, die den Blick ins Innere erlaubt – ein Symbol der Weltoffenheit und Transparenz.

Dies ist das Signal von Ehrenfeld: Muslime wollen selbstbewusst in der deutschen Gegenwart ankommen, sie wollen aus Fabriketagen und Hinterhöfen in die Öffentlichkeit.
Wer ein Interesse an Reform und Einbürgerung des Islams hat, sollte das begrüßen. Ein Islam, der sich nicht versteckt, muss und will sich auch kritischen Fragen stellen.
Die Jury bestand in der Mehrzahl aus deutschen Experten, eine Premiere im Moscheebau. Auch die hohen Minarette hat die deutsche Jury für gut befunden. Ralph Giordano aber wettert gegen »islamophile Architektur« in Ehrenfeld, als würde sie subversiv von außen aufgezwungen. Für ihn steht fest, dass »erkennbar islamische Bauten eher zu weiterer Abkapselung beitragen als Integrationseffekte auszulösen«.

Stimmt das? Die Geschichte des Synagogenbaus im 19. Jahrhundert spricht dagegen: Als die Juden mit der Emanzipation selbstbewusst wurden, begannen sie in Deutschland verstärkt »orientalisch« zu bauen, wie Salomon Korn es in seinen Forschungen gezeigt hat. Sie kombinierten »morgenländische« und »neoislamische« Elemen­te mit der deutschen Gotik und Romanik, um gleichermaßen Anderssein und Dazugehören zu betonen. In der Blüte der deutsch-jüdischen Kultur sahen viele Synagogen aus wie eine Mischung aus Kirche und Moschee. Wäre dieser Teil der Architekturgeschichte nicht mit den abgebrann­ten Synagogen vergessen, würde das neue islamische Bauen in Deutschland vielleicht nicht mit solcher hysterischen Abwehr begleitet. (Man schaue sich bitte einmal hier die virtuelle Rekonstruktion der Kölner Hauptsynagoge an. Sie sah ganz und gar wie eine Moschee aus. Wie würde wohl heute ‚Pro Köln‘ dagegen hetzen?)

Es gibt Moscheeprojekte, die dubios finanziert werden. Es gibt welche, hinter denen undurchsichtige Gruppen stehen. Und es gibt welche, die nicht ins städtische Umfeld passen. Die Ehrenfelder Moschee aber kombiniert die Symbolik von Herkunft und Ankunft, deutscher Moderne und islamischer Tradition auf neue Weise. Sie kann ein Magnet fürs Viertel werden.
So scheinen es die politischen Parteien in Köln zu sehen, die sich alle hinter das Projekt gestellt haben – wenn auch die CDU durchaus mit Bauchschmerzen. Die rechtsextreme Bürgerbewegung Pro Köln, gegründet von einschlägigen NPDlern und Republikanern, versucht den Konsens für ihre volksnahe Profi­lierung zu nutzen. Mit mäßigem Erfolg: Ein Bürgerbegehren scheiterte, weil sich mehr als 7000 der von Pro Köln abgegebenen 23 000 Unterschriften gegen die Moschee als Fälschun­gen herausstellten.

Die etablierten Parteien müssen sich, da hat Giordano recht, den Vorwurf gefallen lassen, berechtigte Bedenken der Anwohner nicht aufgenommen zu haben, um den fragilen Moschee-Kompromiss nicht zu gefährden. Sie haben die Rechtsradikalen damit erst ins Spiel gebracht. Auch der Bauherr ist zu zögerlich mit den Kölnern ins Gespräch getreten. Warum bloß? Denn Ditib ist nicht irgendein kleiner Moscheeverein, sondern der bundesweite Dachverband von 870 Moscheen. Ditib vertritt einen moderaten Islam und ist eng mit der türkischen Religionsbehörde verbunden. In der Schäubleschen Islamkonferenz gilt Ditib als Pfeiler der Vernunft.

Bekir Alboga, Giordanos Sparringspartner bei dem Streitgespräch, ist Gesicht und Stimme der Organisation. Schon in der Mannheimer Moschee hat Alboga sich einen guten Namen gemacht, indem er als Imam das Gotteshaus für den interreligiösen Dialog öffnete. Der 44-jährige Gastarbeitersohn, der 1980 nach Deutschland kam, engagiert sich seit Jahren gegen häusliche Gewalt, Zwangsheirat und Ehrenmorde. Er lehnt die Burka als unislamisch ab. Alboga vertritt einen auf fromme Innerlichkeit setzenden Sufismus und ist eine treibende Kraft bei der Öffnung der Ditib für die deutsche Öffentlichkeit. Seit Jahren spricht er sich klar und hart gegen Terror im Namen Allahs aus. Bekir Alboga, ein Deutschtürke, der in Heidelberg Islamwissenschaft studierte, hat es nicht verdient, von Ralph Giordano heruntergemacht zu werden, er komme wohl aus »einem Kulturkreis, dem die kritische Methode völlig unbekannt ist«.

Es gibt nicht so viele Verbündete bei der Reformierung und Beheimatung des Islams in Deutschland, dass man einen Modernisierer wie Bekir Alboga derart vor den Kopf stoßen sollte.

 

Warum Westerwelle Außenminister bleiben darf – und warum er gehen müßte

Mein Text aus der ZEIT von heute, S.4:

Es gibt Solidaritätsadressen, die bei näherer Betrachtung von Schmähungen kaum zu unterscheiden sind. Guido Westerwelle hat sie nach seinem Sturz zu erdulden: Es gebe »historische Beispiele«, ruft der zaudernde Vatermörder Christian Lindner ihm zum Abschied hinterher, »wie man Großes leisten kann in einem Staatsamt, auch wenn man nicht Parteivorsitzender« sei. So soll das Paradox übersprungen werden, dass Westerwelle zwar nicht mehr gut genug ist, die FDP zu repräsentieren – wohl aber die Bundesrepublik Deutschland.

Das historische Vorbild Genscher, auf den Lindner anspielt, ist den Liberalen dieser Tage überraschend schnell bei der Hand, um Westerwelles Verbleib im Amt zu rechtfertigen. Mit dem Vergleich tut man ihm und sich keinen Gefallen: Genscher hatte elf Jahre Entspannungspolitik vorzuweisen – die KSZE-Schlußakte mit ausgehandelt und jenes ostpolitische Netzwerk aufgebaut, dass dann mithalf, die deutsche Einheit zu gewinnen. Als er 1985 die Parteiführung abgab, war das der Preis, den Genscher für den Coup der Wende von 1982 zu zahlen hatte. Seine historische Leistung war, die Kontinuität der Ostpolitik von Schmidt zu Kohl garantiert zu haben. Seine außenpolitische Bilanz stand nie in Frage, und für Kohl blieb er koalitionspolitisch unabdingbar. Darum musste er Minister – und Vizekanzler – bleiben.
Merkel aber braucht den um Parteivorsitz und Vizekanzlerschaft reduzierten Westerwelle jetzt eigentlich nicht mehr. Er darf trotzdem Minister bleiben – als der steinerne Gast am Kabinettstisch.

Deutschland könnte einen handlungsfähigen liberalen Außenminister gebrauchen in diesen Zeiten. Das zeigte sich erst letzte Woche wieder, als Westerwelle nach China reiste, um in Peking eine von Deutschland bezahlte Ausstellung über die »Kunst der Aufklärung« zu eröffnen. Dort sagte er den schönen Satz: »Die Freiheit der Kunst ist die schönste Tochter der Aufklärung.« Aber sein Freiheistlied tönte blechern, weil er zuvor hingenommen hatte, dass der Sinologe Tilmann Spengler aus der deutschen Delegation gestrichen wurde, weil er eine Laudatio auf den verhafteten Nobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten hatte. Damit nicht genug: Kurz nach Westerwelles Abreise wurde der Künstler Ai Weiwei verhaftet, der soeben angekündigt hatte, wegen der Repression in China in Deutschland ein Atelier zu eröffnen. Noch eine gezielte Demütigung Deutschlands – und damit auch ein beißender Kommentar zum Gewicht »wertegebundener« (Westerwelle) Außenpolitik. Erst zuhause protestierte Westerwelle gegen Ai Weiweis Verhaftung. Die chinesischen Freunde, mit denen zusammen Deutschland sich soeben in der Libyen-Frage enthalten hatte, betreiben eiskalt den Gesichtsverlust des »strategischen Partners« (Westerwelle). Willkommen in der multilateralen Welt.

Guido Westerwelle bleibt Außenminister? Man kann es auch so sagen: Außenminister, das ist nun das, was ihm bleibt.
Dabei hatte er hatte das Amt gewollt, weil er glaubte, dass es sich für den FDP-Parteichef so gehörte. Er wollte jenes Haus für die Partei zurückerobern, das einst ihre Bastion gewesen war, geprägt durch mehr als drei Jahrzehnte liberaler Außenpolitik der Scheel, Genscher, Kinkel. Nun hat die Partei ihn entsorgt, und das Amt verwandelt sich in eine Art politisches Abklingbecken, in dem Westerwelle einstweilen zwischenlagert. Das ist eigentlich gemeint, wenn die Parteifreunde sagen, er solle sich »voll auf sein Amt konzentrieren«. Als Westerwelle vor zehn Jahren seinen Amtsvorgänger Wolfgang Gerhardt besiseite schob, durfte der noch eine Weile Franktionsvorsitzender bleiben, bevor er zur Friedrich-Naumann-Stiftung weitergereicht wurde. Soll das Amt jetzt Westerwelles Naumann-Stiftung werden, mit fast 7000 Beamten der größte Thinktank der Welt?

Für die deutschen Diplomaten in der Welt und am Werderschen Markt in Berlin liegt in Westerwelles Konzentration aufs Amt eine gewisse Drohung, auch wenn sie das unter professioneller Loyalität verbergen. Die unterdrückte Enttäuschung über den zurechtgestutzten Chef wird nicht ohne Folgen bleiben. Als Parteichef und Vizekanzler brachte Westerwelle Gewicht mit. Doch bald wurde klar, dass man einen Innenpolitker bekommen hatte, für den das Außenamt immer eine abgeleitete Funktion behalten würde. Was Westerwele über Hartz 4 dachte, wußte bald jeder. Zur Eurokrise sind maßgebliche Gedanken nicht überliefert. Der Deal des Apparats mit Westerwelle hätte sein können: Du kannst von uns Glaubwürdigkeit und Seriösität bekommen – wenn Du dich beraten läßt. Kaum anzunehmen, dass das so noch gilt. Mit seinem Gewicht in der Koalition hätte er ein mächtiger Verstärker für die deutsche Diplomatie werden können. Nun aber drohen zwei Jahre Westerwelle unplugged.
Das Amt hat bisher noch jeden Chef zum Glänzen gebracht, nicht nur Selbstläufer wie Genscher und Fischer, sogar bekennende Anticharismatiker wie Kinkel und Steinmeier. Bei Westerwelle hat es erstmals nicht funktioniert. Und das ist merkwürdig: Kein Außenminister war je so unbeliebt, obwohl seine ganze Außenpolitik auf Popularität zielte: Er hat für ein konkretes Abzugsdatum aus Afghanistan gekämpft, für die Abrüstung der letzten US-Atomraketen in Deutschland, für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und gegen eine Beteiligung Deutschlands an der Libyen-Intervention. Die Angfänge dieser Politik reichen zurück in Westerwelles Oppositionszeit, als er 2006 gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon stritt, wo unter UN-Mandat (Unifil) verhindert werden sollte, dass die Hisbollah weiter mit Waffen gegen Israel versorgt werden konnte.

Es zeichnet sich eine Art liberaler Nationalpazifismus ab: Deutschland hält sich raus und zieht sich raus, wo immer es geht, im Zweifel auch auf die Gefahr hin, Freundschaften und Bündnisse zu gefährden, die bisher gerade für liberale und konservative Außenpolitiker als unverzichtbar galten. Es ist nicht so, dass Guido Westerwelle außenpolitisch keine Linie hat. Die Weigerung des Oppositionspolitikers, keine deutschen Matrosen zum Abfangen von Waffenlieferungen nach Nahost zu schicken, selbst als die Israelis das wollten, war ein Vorspiel seiner jüngsten Außenpolitik im Amt. Aus demselben Geist hat er sich nun früh gegen eine Flugverbotszone in Libyenfestgelegt. E hat ihn nicht irritiert, dass Aufständische und die Nachbarn wochenlang danach verlangten. Dass sich die engsten Verbündeten unter dem Eindruck von Gadhafis Radikalisierung von Skeptikern zu Interventionisten zu wandeln begannen, hat er offenbar nicht kommen sehen. Die Gefahr einer Isolierung zu erkennen, die Kanzlerin davor zu warnen und Gegenstrategien zu ersinnen, wäre aber die Aufgabe eines Chefdiplomaten gewesen.
Es gab durchaus, wie deutsche Diplomaten hinter vorgehaltener Hand berichten, Signale der treibenden Mächte Frankreich, USA und Großbritannien, dass man militärische Zurückhaltung der Deutschen akzeptiert hätte im Gegenzug für eine Ja-Stimme. Westerwelle behauptet aber weiterhin, Deutschland hätte sich den Forderungen nach militärischer Beteiligung nicht entziehen können und wäre auf eine »schiefe Ebene« gekommen. Mindestens so wichtig war eine innenpolitische Erwägung: durch die Enthaltung sollte eine Debatte über einen weiteren deutschen Militäreinsatz verhindert werden – kurz vor entscheidenden Wahlen. Die Debatte wurde verhindert, das Wahlkampfkalkül ist dennoch nicht aufgegangen. Und der außenpolitische Preis könnte hoch ausfallen.
Dabei schien Westerwelle im Februar endlich Tritt in seiner Funkiton zu fassen. Beherzt ergriff er das Freiheitsthema, das ihm der arabische Frühling frei Haus lieferte. Doch schnell wurde klar, dass bald war mehr vom deutschen Außenminister gefordert sein würde als Kaffeetrinken mit Bloggern in Tunis und touristische Abstecher auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Lage in Libyen eskalierte. Als Amerikaner und Franzosen sich angesichts des drohenden Falls von Bengasi entschlossen, den Diktator Gadhafi nicht gewähren zu lassen, kam es zur Kollision des Westerwelleschen Freiheitspathos mit seiner absoluten Entschiedenheit, sich rauszuhalten. Er nötigte seinen Beamten wider deren Ratschlag auf, sich bei der die Libyen-Resolution des Sicherheitsrates zu enthalten.

Im Oktober erst hatte er es als ersten großen Erfolg seiner Amtszeit gefeiert, dass Deutschland den nichtständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erlangt hatte. »Warum wolltet ihr eigentlich unbedingt hier hinein? Um euch zu enthalten?« – solchen Hohn müssen sich die deutschen Diplomaten nun anhören.
Deutschland verhält sich neutral angesichts der größten Freiheitsbewegung seit 1989? Westerwelles lautes Insistieren, der »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) müsse weg, macht die Sache nicht besser. Am letzten Freitag stand der deutsche Außenminister mit seinem chinesischen Kollegen Yang Jiechi gemeinsam vor der Presse. »Die libysche Sitiuation kann nicht durch militärische Mittel gelöst werden,« sagte er und verlangte eine »diplomatische Lösung« . Wie dieser Anspruch, ausgerechnet von Peking aus formuliert, wohl auf Franzosen, Briten, Amerikaner, Belgier und Schweden wirkt, die ihre Piloten über Libyen einsetzen, um Gadhafi in Schach zu halten? Die Vorstellung, dass sie am Ende den Deutschen das Verhandeln überlassen werden, ist abwegig.
Im Koalitionsvertrag haben sich Union und FDP zur »Idee des Westens als Grundlage und seinen Institutionen als Plattform deutscher Außenpolitik« bekannt. Der Westen müsse »zu mehr Geschlossenheit finden, um seine Interessen durchzusetzen und gemeinsame Werte zu bewahren.« Außenpolitiker der Union fragen sich unterdessen murrend, ob dieses Ziel noch gilt. Sie halten ihren Unmut gegen Westerwelle nur mühsam zurück, um den angeschlagenen Koalitionspartner nicht noch mehr in die Krise zu treiben.
Und mancher tröstet sich damit, dass Westerwelles Sturz als Innenpolitiker abermals eine Schwerpunktverlagerung der Außenpolitik ins Kanzleramt mit sich bringt. Es wird nun noch viel mehr auf die Kanzlerin ankommen.
Im Machtgefüge der Regierung war das Auswärtige Amt seit den Tagen Klaus Kinkels nicht so marginal wie jetzt. Der Unterschied: Damals konnte Deutschland sich das leisten. Die Einheit musste gestaltet werden, das Land war erst einmal mit sich selbst und der Beruhigung der Nachbarn angesichts seiner Größe beschäftigt.
Die Welt der asymmetrischen Kriege und humanitären Interventionen, der Währungskrisen und der amerikanischen Überdehnung, des Aufstiegs der Nichtwestler ist eine außenpolitische Dauerherausforderung. Heute ist Deutschland als Europas unbestrittenes Schwergewicht ständig gefordert. Es kommt darauf an, was in Berlin gedacht und entschieden wird – für Brüssel, Bengasi und Kundus.
Europa muss eine Haltung zum Aufstieg Chinas und anderer Nichtdemokratien finden – jenseits von Kotau und Überheblichkeit. Und der demokratischen Wandel in Arabien zu begleiten. Gute Themen für Liberale, eigentlich. Aber in beiden Fällen: Keine Enthaltung möglich. Außenpolitik ist heute Stresstest.
Dass Deutschland ihn mit einem entmachteten Außenminister bestehen kann, ist schwer vorstellbar.

 

„Der Euro ist kein Ziel“

Mit meiner Kollegin Alice Bota habe ich die Außenminister Tschechiens und Schwedens zum Gespräch über Europas Krise gebeten.  Aus dem Europa-Schwerpunkt der ZEIT von morgen, 8. Dezember 2011, S. 3.  Ort des Geschehens: Bonn, am Rande der Afghanistan-Konferenz.

Nils Daniel Carl Bildt, geboren 1949 in Halmstad, stammt aus einem dänischen Adelsgeschlecht und einer schwedischen Politikerdynastie. Bildt war als Journalist tätig, ehe er mit 24 Jahren Sekretär der Konservativen Partei wurde. Von 1991 bis 1994 war er Ministerpräsident. 1995 wurde er Balkan-Vermittler, 2006 kehrte er in die schwedische Politik zurück.

Karl von Schwarzenberg, geboren 1937 in Prag, stammt aus einer der ­ältesten Adelsdynastien Europas. 1948 verließ seine Familie enteignet die Tschechoslowakei. 1990 kehrte der Fürst zurück – als rechte Hand von Václav Havel. Seitdem macht Schwarzenberg Politik – seit zwei Jahren mit seiner Partei TOP 09.

Zwei Außenminister, die es auf drei Staatsbürgerschaften bringen und eine Stunde lang in zwei Sprachen über die Zukunft Europas reden, mal auf Deutsch, dann wieder auf Englisch, zwischendurch Nachrichten aus Schweden und Tschechien – geht es noch europäischer? Mitten im Interview schreibt Schwarzenberg etwas auf einen gelben Zettel und schiebt ihn den Journalisten zu. Darauf steht: »Im dritten Monat ist es sinnlos, vor der Gefahr zu warnen, schwanger zu werden.« Auch so kann man auf das blicken, was wir derzeit erleben.

 

DIE ZEIT: Herr Bildt, Herr Schwarzenberg, erleben Sie die heutige europäische Krise als dramatischsten Moment in Ihrem politischen Leben?
Karl Schwarzenberg: Dramatischer war für mich November/Dezember 1989. Aber es gibt keinen Zweifel, dass dies eine sehr ernste Situation ist. Wobei wir zwei ja in der merkwürdigen Lage sind, zwar begeisterte Europäer, aber beide nicht Mitglieder der Euro-Zone zu sein.
Carl Bildt: Auch aus meiner Sicht war 1989 am dramatischsten. Damals musste Europa neu anfangen, und wir wussten nicht, ob es gut geht.
ZEIT: Können Sie also als Mitglieder zweier Nicht-Euro-Länder etwas mit Angela Merkels Satz anfangen: »Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa«?
Schwarzenberg: Ich halte das für übertrieben. Der Euro ist zwar ein wichtiges Schlüsselprojekt, aber das europäische Projekt ist ein politisches, kein wirtschaftliches. Der Euro ist ein Instrument, kein Ziel. Auch wenn es den Euro nicht gäbe, würde Europa in veränderter Form überleben. Aber wir erleben zweifellos einen existenziellen Moment.
Bildt: Ich stimme Karl zu – wenn der Euro scheitert, dann wird es massive politische Folgen haben. Es wäre eine andere EU als heute. Aber es wäre immer noch eine. Allerdings bin ich mir sicher, dass in fünf Jahren der Euro eine stärkere Währung auf dem Weltmarkt sein wird als der Dollar.
ZEIT: Der jetzige EU-Gipfel gilt als Wegscheide für Rettung oder Zerfall der Euro-Zone.
Bildt: Ich halte die Erwartung an den Gipfel für übertrieben. Mir scheint akut fast wichtiger, was die Italiener an Reformen vorgestellt haben. Auf dem EU-Gipfel wiederum wird über das Langfristige beraten – welche Vertragsänderungen sind notwendig, damit das alles nicht wieder passiert?
Schwarzenberg: Ich bin bei den beabsichtigten Vertragsänderungen skeptisch. Wollen wir wirklich in einem Moment, da das Ansehen des europäischen Projekts an einem Tiefpunkt ist, neue Abstimmungen in den einzelnen Ländern wagen? Das finde ich sehr kühn.
ZEIT: Deshalb will Deutschland ja unbedingt die Vertragsänderungen: um sicherzugehen, dass der Weg der Reformen nicht verlassen wird.
Schwarzenberg: Es ist ein deutsches Dogma, wie es Morgenstern in seinem Spottgedicht ausgedrückt hat, »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«. Probleme durch neue Vorschriften zu lösen, das ist festgefügt in deutschem Denken. Leider hält sich die Wirklichkeit nicht immer an die Vorschriften.
Bildt: Es wäre schon toll, wenn die Regeln, die wir bereits haben, beachtet würden. Wäre das der Fall gewesen, hätten wir uns die Krise erspart.
Schwarzenberg: So ist es! Weiter„„Der Euro ist kein Ziel““

 

Warum das Jüdische Museum (zu Recht) so erfolgreich ist

In meinem Text für die Jubiläumsausgabe der Zeitschrift des Jüdischen Museums in Berlin habe ich darüber nachgedacht, warum Deutschland das Jüdische Museum braucht, auch wenn die „Gedenkphase“ der deutschen Nachkriegsgeschichte vorbei ist:

Wer nach zehn Jahren Gründe sucht, warum Deutschland ein Jüdisches Museum braucht, muss nicht lange wühlen. Zwei jüngere Debatten haben bewiesen, dass sich hierzulande immer noch vieles nicht von selbst versteht, was die deutsch-jüdische Geschichte betrifft – und das gilt für die rechte wie die linke Seite des politische Spektrums.
Im letzten Herbst hatte der neue Bundespräsident Christian Wulff zum Tag der Deutschen Einheit festgestellt, dass „auch der Islam“ inzwischen zu Deutschland gehöre, so wie „zweifelsfrei“ das Christentum und das Judentum. Eine Banalität, möchte man meinen.
Doch es folgten Wochen heftiger Debatte. Noch nie ist ein Bundespräsident für eine solche Aussage von Vertretern seiner eigenen Partei derart angegriffen worden. Grund dafr war nicht die Aussage über das Judentum, sondern Wulffs lässige rhetorische Geste der Inklusion gegenüber dem Islam.
Und nun passierte etwas Interessantes: In den folgenden Tagen war viel die Rede von der „christlich-jüdischen“ Tradition, auf der „unser Verständnis von Menschenrechten und Aufklärung“ beruhe. Die Muslime hätten dazu nichts beigetragen und könnten darum auch nicht in gleicher Weise „zweifelsfrei“ dazugehören.
Hier wurde ein vermeintliches deutsches christlich-jüdisches Erbe in Anschlag gebracht, um Muslime auszugrenzen. Die Rede von der „christlich-jüdischen Kultur“ war historisch immer fragwürdig. Doch hatte sie nach dem Krieg auch einen guten Sinn. Nie wieder sollten Juden als das nicht integrierbare andere schlechthin definiert werden, wie es jahrhundertlang üblich war. Doch in der Kritik an Wulffs Aussage ging es vor allem um die Markierung einer Differenz zu den Muslimen.
Die Juden rhetorisch zu umarmen, um die Fremdheit des Islams herauszustreichen, ist Geschichtsklitterung. Die kaum versteckte Botschaft an die Muslime kam gleichwohl an: Ihr gehört hier nicht her, ihr habt nichts beizutragen, ihr werdet fremd bleiben.
Gut, dass sich Vertreter des deutschen Judentums sofort gegen dieses Spiel verwehrt haben. Wenn führende Politiker dieses Landes heute so reden, als habe 2000 Jahre lang das schönste christlich-jüdische Werte-Einverständnis geherrscht, als hätten Christen und Juden zusammen in herrlichster Harmonie Toleranz und Aufklärung entwickelt, als hätten erst die einwandernden Muslime die schöne deutsch-jüdische Symbiose zerstört – dann ist eine Mission des Jüdischen Museums offenbar auch nach zehn Jahren nicht erfüllt: die spannungsreiche Geschichte der Juden in deutschen Landen in all ihrer Komplexität, Ambivalenz, Größe und Tragik so zu erzählen, dass sich eine „christlich-jüdische“ Instrumentalisierung gegen andere Minderheiten verbietet.
Kann es sein, dass die Politiker, die heute so leichtfertig mit der Formel umgehen, nie im Museum waren? Oder ist es möglich, dass sich bei ihnen einfach die Phrase von den „2000 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte“ festgesetzt hat, mit der das Museum anfangs überall beworben wurde?
Die zweite Debatte, die über den Stand der deutsch-jüdischen Dinge hierzulande erschaudern lassen kann, ist der Antisemitismus-Streit in der Linkspartei. Seit Jahren hat Gregor Gysi versucht, seine Partei zu einem Bekenntnis zum Existenzrecht Israels zu führen. In diesem Frühjahr häuften sich dann die Ereignisse, die auf einen tief sitzenden Antisemitismus bei manchen linken Funktionären – vor allem aus der Westlinken – zu deuten schienen, gipfelnd im Schal der Bundestagsabgeordneten Inge Höger, auf dem der Nahe Osten ohne Israel abgebildet war. Gysis Beschlussvorlage, in der die Linke-Fraktion sich zum Existenzrecht Israels bekennt und bei aller Kritik an Besatzung und Boykott von der Teilnahme an der Gaza-Flotille distanziert, löste wütende Reaktionen bei den „antizionistischen“ Kräften der Partei aus. Weiter„Warum das Jüdische Museum (zu Recht) so erfolgreich ist“

 

Ist Islamkritik ohne Islamophobie möglich?

Im folgenden ein (sehr langer) Beitrag über das Debattenjahr 2010, geschrieben für das Jahrbuch „Muslime in den Medien“. Regelmäßigen Lesern dieses Blogs werden einige Passagen bekannt vorkommen.

Die deutsche Debatte des Jahres 2010 ist bei aller Vielstimmigkeit von ei­nem einzelnen Buch geprägt, und das gilt nicht nur für die so genannte „Is­lamkritik“: Thilo Sarrazins Sachbuchbestseller „Deutschland schafft sich ab“.
Die merkwürdige Ironie dieses Erfolgs ist, dass Sarrazins Buch als Beitrag zur „Islamkritik“ in die Geschichte eingegangen ist. Dafür gibt es Gründe, etwa die Gegenwart von Necla Kelek, die auch als sogenannte „Islamkriti­kerin“ firmiert, bei der Vorstellung des Buchs in Berlin. Auch bereits die Diskussion vor Erscheinen des Buchs aufgrund von Sarrazins Interview mit „Lettre International“ im Herbst 2009 wird hier die Weichen der Re­zeption gestellt haben. Schon dieses Interview wurde weithin als Angriff auf Muslime und den Islam wahrgenommen.
Was das Buch selber angeht, ist die „islamkritische Rezeption“ aller­dings erklärungsbedürftig: Im März 2011 erklärt der Autor bei Gelegenheit eines Auftritts in der Evangelischen Akedemie Tutzing, eigentlich habe er „ja gar kein Buch über Muslime schreiben“ wollen, sondern – über den Sozi­alstaat. Und mit der Zuwanderung beschäftige er sich entsprechend auch erst ab Seite 256.
Das ist sachlich richtig, macht die Aufregung um Sarrazin aber noch rätselhafter: Alles ein großes Missverständnis? Sind die Muslime selber schuld, wenn sie sich angesprochen fühlen? Polemisch gesagt: Typisch isla­mische Ehrbesessenheit und Neigung zum Beleidigtsein? Und was die vielen Hunderttau­sende Käufer angeht, haben die dann auch alles missverstanden?
Das Ansehen des Islams und der Muslime ist auf einem Tiefpunkt, wie immer neue Umfragen belegen. Sarrazin aber hat, wenn man seine Äu­ßerungen in Tutzing ernst nimmt, daran weder Anteil, noch profitiert er davon, denn eigentlich geht es ihm ja nur um „den Sozialstaat“? Warum bloss hört das Publikum „Islam“, wenn der Sozialstaat gemeint ist?
„Islamkritik“ ist eine Art Beruf geworden. Seyran Ateş, Autorin meh­rerer Bücher, die sich mit Geschlechterfragen und den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft befassen, verbittet sich mittlerweile, so bezeichnet zu werden: Sie ist selber gläubige Muslimin und möchte nicht als jemand rubriziert werden, der etwas „gegen den Islam“ hat. Ihre Auseinandersetzung mit dem Missständen, die religiös rechtfertigt werden, will sie nicht als religionsfeindlich missverstanden wissen. Ateş hat guten Grund zu dieser Distanzierung: Was hierzulande weithin als „Islamkritik“ läuft, hat sich von der notwendigen intellektuellen, historischen, theologischen, politischen Auseinandersetzung mit einer Weltreligion immer weiter entfernt – und ist zur Stimmungsmache gegen einen Bevölkerungsteil verkommen. Es muss nicht so bleiben. Vielleicht kann es auch gelingen, zur Sachlichkeit zurückzukehren. Vielleicht kann man die Übertreibungen unserer Debatte auch wieder einfangen. Derzeit sieht es leider nicht so aus.
Das ist für mich das vorläufige Ergebnis eines aufgeregten Debattenjahres.
Zu Beginn des Jahres erregte Wolfgang Benz großes Aufsehen mit seiner These von den Parallelen zwischen Islamkritik und Antisemitismus. In sei­nem Stück in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar heißt es:
„Die unterschwellig bis grobschlächtig praktizierte Diffamierung der Musli­me als Gruppe durch so genannte ‚Islamkritiker‘ hat historische Paralle­len. (…)
Der Berliner Antisemitismusstreit war vor allem eine Identitätsdebatte, eine Auseinandersetzung darüber, was es nach der Emanzipation der Ju­den bedeuten sollte, Deutscher zu sein und deutscher Jude zu sein. Derzeit findet wieder eine solche Debatte statt. Es geht aber nicht mehr um die Emanzipation von Juden, sondern um die Integration von Muslimen.“
Damit hat Benz in meinen Augen ganz einfach recht. Seine Kritiker hielten ihm entgegen, er setze Antisemitismus und Islamkritik gleich. Benz sugge­riert aber nirgends, dass ein Holocaust an Muslimen drohe oder dass Musli­me in Deutschland ähnlichen Formen der Diskrimierung unterliegen wie vormals die Juden. Das wäre auch bizarr.
„Der symbolische Diskurs über Minarette“, schreibt Benz, “ist in Wirklichkeit eine Kampagne gegen Menschen, die als Mitglieder einer Gruppe diskriminiert werden, eine Kampfansage gegen Toleranz und Demokratie.“
Benz spricht über den „Diskurs“, der besonders im Internet erschreckende Formen angenommen hat. Und sein eigentlicher Punkt ist den Kritikern entgangen: Es handelt sich bei der „Islamkritik“ um eine Identitätsdebatte der Mehrheitsgesellschaft. Es wird darin verhandelt, was es heute heißt, Deutscher und Muslim zu sein. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die in den Unterstellungen unterging, ausgerechnet Benz, der sein Leben lang über Antisemitismus geforscht und gegen ihn gekämpft hat, wolle irgendetwas von der Schrecklichkeit des Antisemitismus „relativieren“.
Ich halte das für einen entscheidenden Punkt zum Verständnis der deut­schen und europäischen Debatten über den Islam: Sie handeln in Wahrheit nicht wirklich vom Islam als Religion. Man kann die Leidenschaften, die dabei am Werk sind, wohl kaum aus einem Interesse am Verstehen einer Weltreligion ver­stehen, die (als Teil Europas, nicht als sein Gegenüber) immer noch neu ist. In erheblichem Maße dient die Debatte über den Islam der Selbstvergewis­serung einer verunsicherten Mehrheitsgesellschaft. Es geht bei der „Islamkritik“min­destens so sehr um die deutsche, die europäische, die christliche, die säku­lare Identität wie um den Islam.
Das ist für sich genommen weder irrational noch illegitim. Es gibt Gründe für diese Verunsicherung, es gibt Gründe, die die „Islamkritik“ an- und ihr die Leser zutrei­ben. Ich sehe Deutschland in der Situation eines Nach-Einwanderungslan­des. Das Wort ist nicht schön, aber es beschreibt die Wirklichkeit: wir leben in einer post-migrantischen Situation. Wir debattieren also nicht mehr unter einem Einwanderungsdruck: Der Wanderungssaldo Deutschlands mit der Türkei ist seit Jahren negativ. Seit 1961 kamen türkische Gastarbeiter nach Deutschland, mehr als 900.000 bis 1973, als das Programm durch den Anwerbestopp beendet wurde. Durch Familienzusammenführung und natürliches Wachstum nahm die türkische Bevölkerung in Deutschland bis 2005 auf 1,7 Millionen zu. Beginnend im Jahr 2006 kehrte sich der Trend um: Mehr Menschen zogen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt. 2009 gingen 10.000 mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als vice versa.
Das ist nur ein Beleg dafür, dass Deutschland (jedenfalls für Türken) kein Einwanderungsland mehr ist. Doch just in dem Moment nehmen die Debat­ten über die Eingewanderten und ihre Nachkommen immer schärferen Charakter an. Vielleicht kann man im Amerika der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts einen Präzedenzfall sehen. Damals wurden die Gren­zen für Immigration weitgehend geschlossen – nach einer großen Welle zwi­schen 1870-1924, die Iren, Deutsche, Polen und andere Osteuropäer und Italiener in Millionenzahlen nach Amerika gebracht hatte. Der Immigrati­on Act von 1924 setzte harte Quoten nach ethnischen Kriterien. Und dies führ­te dazu, dass die USA zeitweise aufhörten, Einwanderungsland zu sein. Man ging daran, mit viel Druck die Integration/Assimilation der Eingewan­derten zu betreiben. Es gab sogar – vor allem im Zuge des Weltkrieges – starke xe­nophobe Exzesse (gegen Japaner).
Ich will die Analogie nicht zu weit treiben. Nur soviel: Europa insgesamt scheint, nach der gigantischen Einwanderungswelle der Nachkriegszeit, die gespeist wurde durch Postkolonialismus und Wirtschaftsboom, ebenfalls in einer Phase der Schließung zu sein. Schließung im Wortsinne durch gesetz­liche Erschwerung von Zuwanderung. Und im übertragen Sinne als Ver­such, die jeweilige Identität zu bewahren (was auch immer das jeweils sei). Der Erfolg der rechtspopulistischen Anti-Einwanderer-Parteien überall in Europa spricht dafür.
Überall? Eben nicht. Deutschland hat keine solche Partei. Deutschland hat statt dessen eine Debatte in Gestalt der „Islamkritik“. Mir ist das einstweilen lieber so, wie hässlich die Debatte auch sein möge. Bei aller Kritik an der „Islamkritik“ sollte das nicht vergessen werden.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seinem Buch über die „Realität der Massenmedien“ gesagt:
“Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wis­sen, wissen wir durch die Massenmedien.”
Im Luhmannschen Sinn möchte ich im folgenden darüber reden, welches Bild des Islams wir in Deutschland haben, wenn man unsere Massenmedi­en dabei zugrundelegt. Für hier lebende Muslime bedeutet das: Welches Bild bekommen sie davon, wie sich die Mehrheitsgesellschaft durch ihre Medien den Islam zurecht legt. Einfacher gesagt: Ein Muslim sieht unsere Schlagzeilen und liest unsere Geschichten über den Islam und fragt sich: Aha, so also sehen die mich, meine Kultur und Religion, meine Herkunft und Prägung.
Weiter„Ist Islamkritik ohne Islamophobie möglich?“

 

Der Islam gehört zu Deutschland

Die dümmste Debatte des letzten Jahres geht in die dritte Runde: Gehört der Islam zu Deutschland? Ja oder nein? „Historisch“?

Eine neue Lesart schält sich heraus: Muslime ja, Islam nein. Klasse. Das ist endlich die Lösung! Muslime ohne Islam? Das muss doch irgendwie gehen.

Never mind, dass viele „Muslime“ hierzulande ohnehin areligiös leben. Je mehr aber der neue Innenminister und andere obsessiv über „die Zugehörigkeit des Islams“ zu Deutschland reden, um so mehr wird die Identität auch nichtreligiöser Muslime „islamisiert“. Ja, so paradox ist das: Ich höre in letzter Zeit immer wieder: Ihr schafft das noch, dass ich mich als Muslim identifiziere. Oder: Erst hier bin ich zum Muslim geworden, durch das Dauerfeuer der Debatte. Wollen wir das?

Angesichts des Frankfurter Mordanschlags reden wir jetzt wieder über Radikalisierung: Dummerweise beruht das Hauptverkaufsargument der Salafisten für ihren Steinzeitislam auf der Unterstellung, im Westen würden nur „Muslime ohne Islam“ geduldet. Darum müssten „wahre Muslime“ zu den Wurzeln der „wahren Religion“ zurückkehren, um sich gegen diese tiefsitzende Islamfeindlichkeit zu wehren. Der neue Innenminister hat soeben Pierre Vogel, Deso Dogg/Abu Malik, Scheich Abdellatif  et alii eine erstklassige Vorlage geliefert. Der Islam gehört hier nicht dazu – das übersetzt sich in der Propaganda der Salafisten in den Satz: Dass dein Islam der richtige und wahre ist, merkst du daran, dass die anderen ihn ablehnen. Einen Islam, den die akzeptieren könnten, musst Du, im Umkehrschluss, verwerfen. Der kann nicht richtig sein.

Vielleicht sollte sich der Neue im BMI mal mit den Verfassungsschützern treffen, die an vorderster Front gegen die Radikalisierung in Teilen der islamisch geprägten Jugend arbeiten. Er würde auf eine erstaunliche Sorge treffen, was das gesellschaftliche Klima in diesem Land post Sarrazin angeht. Der VS ist darauf angewiesen, dass Muslime mit den Behörden kooperieren. Dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, ist nicht die Arbeitshypothese unserer Verfassungschützer.

Sie müssen glaubhaft widerlegen können, dass „der Islam“ per se hier ausgegrenzt wird aus irgendeinem Vorurteil oder christlich-abendländischen Dünkel heraus. Und das ist ja auch in Deutschland nicht der Fall. Warum also diese Wahrnehmung anheizen durch „historische“ Exkurse über Fragen, in denen nie ein ernsthafter Mensch das Gegenteil behauptet hat? Wie soll man so etwas anders wahrnehmen denn als leicht verklemmte Form der Schikane?

Die Sicherheitsdienste brauchen das Vertrauen, dass unterschieden wird zwischen denen, die die Religionsfreiheit missbrauchen und denen, die sie legitimer Weise in Anspruch nehmen. Eine Aussage wie die Friedrich’sche, der Islam gehöre („auch historisch“) nicht zu Deutschland, zersetzt dieses Vertrauen. Er unterminiert die Bemühungen der Sicherheitsorgane, die Propaganda der Radikalen zu widerlegen, die einen ewigen und unüberbrückbaren Gegensatz konstruiert zwischen Islam und Demokratie, Islam und Menschenrechten, Islam und westlichen Werten.

Es gibt sehr gute Broschüren, etwa neuerdings vom VS des Landes Berlin, in denen jene islamistische Ideologie auseinandergenommen wird, die den absoluten Gegensatz zwischen Islam und unserer Rechtsordnung betont. Die „Zerrbilder von Islam und Demokratie“ werden dort auf deutsch, türkisch und arabisch widerlegt. Niemand macht sich Illusionen darüber – vor allem nicht die Verfassungsschützer – dass es noch ein langer Weg ist, bis nicht nur eine stille Akzeptanz unserer Rechts- und Werteordnung durch „den Islam“ erreicht ist, sondern bis die islamische Theologie in ihren eigenen Lehren gute Gründe für die Säkularisierung (also Entmächtigung ihrer selbst) finden wird. Der katholischen Lehre ist das (vor wenigen Jahrzehnten erst) auch gelungen, und heute tut die Kirche gerne so, als wäre ihr die Idee geradezu selbst gekommen, dass man kirchliche und weltliche Macht zu trennen habe. Der Islam wird es noch viel schwerer damit haben, das ist absehbar trotz aller Reformansätze. Vielleicht wird es auch nie zu einer klaren Sphärentrennung kommen, sondern bloß – bloß! – zu einem modus vivendi. (Mir würd’s reichen, weiß Gott.)

Das sollte die Sorge eines Innen- und damit Verfassungsministers – sein. Unsere Sicherheit hängt daran. Ein Minister, der seinen Diensten die Arbeit schwerer macht, macht Deutschland weniger sicher.

p.s. Ich habe kürzlich einen Vortrag bei einer VS-Tagung gehalten, bei der es um Radikalisierung und Strategien dagegen ging.  Meine sorgenvolle Analyse der Debatte in diesem Land hat dort erstaunlich viel Beifall bekommen. Man fürchtet dort, dass das aggressive Klima Bemühungen um Deradikalisierung konterkariert. Hier mein Text dessen Schlussfolgerungen ständigen Besuchern dieses Blogs nicht fremd sein werden:

„Können Medien der Radikalisierung junger Muslime entgegenwirken?“

Auf den ersten Blick ist das eine merkwürdige Frage: Wenn etwa in einem Leitartikel der ZEIT der militante Islamismus verdammt wird, so wird das wohl keinen gefährdeten jungen Mann davon abhalten, sich in ein Terrorcamp zu begeben. (Und das liegt nicht nur an der Schichtzugehörigkeit unserer Leser. Auch die BILD kann da nicht viel ausrichten.)
Wir erreichen solche Menschen doch gar nicht, könnte man meinen. Vielleicht wäre sogar das Gegenteil denkbar: Dass sich jemand für den bewaffneten Kampf gegen diese Gesellschaft im Namen des Islams entscheidet, gerade WEIL der Mainstream unserer Medien dies verdammt.
Islamismus ist auch, das haben wir anhand radikalisierter Konvertiten und junger Muslime der zweiten und dritten Generation gelernt, RADICAL CHIC. Es wird die totale Gegenposition zum Bestehenden gesucht, man schlägt sich gerade absichtsvoll auf die Seite der Bewegung, die am meisten gefürchtet und abgelehnt wird. In den 70ern war das im Westen der Kommunismus, heute ist es für manche der Islamismus. Dass man sich außerhalb des Mainstreams stellt, wenn man Islamist wird, ist oft Teil der Attraktion.

Menschen, für die es so weit gekommen ist, dass sie sich in absolute Ablehnung des Bestehenden begeben, erreichen wir aber weder mit einem wohl argumentierten Leitartikel wider den politischen Islam noch mit einem aufklärenden Stück über den „wahren Islam“, der Selbstmordattentate ablehnt.

Also: Wir werden zwar weiter solche Artikel publizieren, aber deren „antiradikalisierende Wirkung“ kann man sich wohl kaum so vorstellen, dass der nächste Mohammed Atta oder Fritz Gelowicz die FAZ, den Spiegel oder die ZEIT beiseite legt, nachdenklich wird und seine Reise nach Pakistan absagt.

Trotzdem halte ich es für richtig, dass Sie im Rahmen des Anti-Radikalisierungsprogramms über die Medien nachdenken. Um in den Blick zu bekommen, was die Medien in diesem Zusammenhang für eine Funktion haben, muss man freilich den Blick weiten.

Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seinem Buch über die „Realität der Massenmedien“ gesagt:
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“

Das ist ein radikaler Satz. Aber so weit muss man die Perspektive öffnen, um die möglichen Zusammenhänge von Medien, Islam, Islamismus, Salafismus und Dschihadismus zu erkennen. In dem Konzept, das Sie mir freundlicher Weise zugeschickt haben, werden fünf „Radikalisierung begünstigende Faktoren“ aufgezählt: Einfluss von Predigern und ehemaligen Kämpfern, Internet und Videopropaganda, unmittelbare Bezugsgruppe Gleichgesinnter, soziale Entfremdung, Gefühl des Nicht- Dazugehörens, Aufenthalt in Terrorcamps.

Weiter„Der Islam gehört zu Deutschland“

 

Warum eine Moschee am Ground Zero legitim ist

Obamas Iftar-Rede finde ich wieder einmal bemerkenswert. Ich bewundere diesen Mann für seine Fähigkeit to cut through the bullshit, wie es so schön heißt. Klasse Mann, ein Präsident für Erwachsene.

Ist er unterdessen zurückgerudert, weil er ja später nachgeschoben hat, seine Bemerkungen haben nicht der Frage gegolten, ob es „weise“ sei, eine Moschee am Ground Zero zu errichten (nur ob es legitim sei)? Sehe ich nicht so. Er nimmt ja die Frage der Gefühle der New Yorker schon auf, wenn er von „heiligen Boden“ spricht, wo einmal die Türme waren.

Und dann gegen Ende seine Erinnerung daran, gegen wen „wir kämpfen“ (Muslime einbegriffen) – gegen die vor allem Muslime mordende Al-Kaida.

D a s  ist die moral clarity, von der sein Vorgänger und seine verrottete Partei immer nur reden.

(Unglücklich über Obamas Position ist auch der Religionskritiker Sam Harris, was allerdings nicht sehr überrascht. Aber in dessen Stück sind immerhin nicht nur fiese Unterstellungen drin.)

Hier der Text der Präsidentenrede:

„Hier im Weißen Haus ist die Einladung zum Fastenbrechen eine Tradition, die mehrere Jahre zurückreicht, ebenso wie unsere Feiern zu Weihnachten, zum Seder und zum Lichterfest. Mit diesen Veranstaltungen würdigen wir die Rolle, die der Glaube im Leben der Amerikaner spielt. Sie führen uns vor Augen, dass wir alle Kinder Gottes sind und dass unser Glaube uns Kraft und Sinnhaftigkeit gibt.

Diese Veranstaltungen sind auch eine Bestätigung dessen, wer wir Amerikaner sind. Unsere Gründerväter wussten, dass der Glaube am ehesten dann seinen Platz im Leben unserer Bürger haben würde, wenn die Freiheit der Religionsausübung geschützt wird. Im Gesetz von Virginia zur Religionsfreiheit (Virginia Act of Establishing Religious Freedom), schrieb Thomas Jefferson, dass „alle Menschen ihre religiösen Meinungen frei bekunden und durch Argumente behaupten sollen können“. Mit dem ersten Verfassungszusatz wurde Religionsfreiheit als Gesetz im ganzen Land verankert. Dieses Recht wurde seitdem gewahrt.

Innerhalb unserer Grenzen konnte Religion sich im Verlauf unserer Geschichte genau deshalb entfalten, weil die Amerikaner das Recht hatten, ihren Glauben so zu praktizieren, wie sie es wollten – und dazu zählt auch die Möglichkeit, keinem Glauben anzugehören. Es ist ein Zeugnis der Weisheit unserer Gründerväter, dass Amerika zutiefst religiös ist – eine Nation, in der Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich und in gegenseitigem Respekt miteinander leben ist ein scharfer Kontrast zu den religiösen Konflikten, die andernorts auf der Welt andauern.

Das heißt nicht, dass Religion frei von Kontroversen ist. Seit einiger Zeit erhält der Bau von Moscheen in einigen Gemeinden – insbesondere in New York – verstärkte Aufmerksamkeit. Wir müssen alle die Befindlichkeiten erkennen und respektieren, die mit der Entwicklung von Lower Manhattan einhergehen. Die Anschläge vom 11. September waren für unser Land zutiefst traumatisch. Der Schmerz und das Leid, das jene erfahren mussten, die Angehörige verloren haben, sind unvorstellbar. Ich bin mir also der Emotionen, die dieses Thema hervorruft, bewusst. Ground Zero ist zweifellos heiliger Boden. Weiter„Warum eine Moschee am Ground Zero legitim ist“

 

Das Islambild in den Medien

Mein Gastvortrag vom Dienstag, 6.7.2010, an der Goethe-Universität Frankfurt im Rahmen der Ringvorlesung: „Wieviel Islam verträgt Europa?“

Wo soll man bloß beginnen? Der Zugang der Muslime zu den Me­dien in Deutschland, das Bild des Muslims in den Medien, Muslime als Medienma­cher?
Woher nehme ich überhaupt die Berechtigung, über dieses Thema – Islam in den deutschen Medien – zu reden vor einem akademischen Publikum. Woher nehme ich das Recht, darüber zu schreiben? Denn: Islamwis­senschaftler wie viele von Ihnen hier bin ich nicht. Ich spreche weder türkisch noch arabisch und habe auch nicht Theologie oder Islamkunde studiert.
Trotzdem haben Sie mich ja eingeladen. Sie werden sich schon was dabei ge­dacht haben. Und ich fühle mich geehrt, in einer Reihe mit großen Fachleuten hier vor ihnen reden zu können. Sie werden von mir keinen wissenschaftlichen Vortrag er­warten, sondern eine Reflexion der Praxis, aus der ich selbst komme. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit dazu, einmal innezuhalten und zu fragen: Wie über den Islam, die Muslime und islambezogene Themen berichten?
Immer mehr Muslime in Deutschland, Frankreich und Großbritannien glauben nicht, dass die Mainstream-Medien ausgewogen über sie berichten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Pilotprojekt des Londoner Institute for Strategic Dialogue und der Vodafone Stiftung Deutschland.
55 Prozent der befragten Muslime vertraten die Auffassung, die großen Medien berichteten negativ über Muslime. Bei den nicht muslimischen Befragten waren es immerhin 39 Prozent.
Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer sind überzeugt, dass es in den meisten Berichten über Muslime um Terrorismus geht. Ein Drittel glaubt, dass vor allem Fundamentalismus eine Rolle spielt; ein Viertel nimmt als häufigstes Thema in der Berichterstattung über Muslime die Kopftuchdebatte wahr.
Natürlich haben diese Befragten nicht Recht in einem objektiven Sinn: Keineswegs geht es in der Mehrzahl der Berichte um Terrorismus. Und das Kopftuch ist immer noch ein Aufregerthema, aber das „häufigste“? Nein. Dennoch scheint es mir unbestreitbar richtig, dass die Intuition der Befragten stimmt, dass hier etwas im Argen liegt.
Ein jüngeres Beispiel: „Jung, muslimisch, brutal“ titelte Spiegel Online einen Bericht über die Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer zum Zusammenhang von Religi­ösität und Gewaltneigung. Der Süddeutschen fiel zur gleichen Untersuchung die Zei­le ein: „Die Faust zum Gebet“.  blick.ch: „Macht Islam ag­gresiv? Jung, brutal — Muslim“, Tagesspiegel: „Allah macht hart“, heise.de: „Jun­ge männliche Macho-Muslime“, Financial Times Deutschland: „Studie zu jungen Muslimen — Je gläubiger, desto gewalttätiger“, Welt.de: „Studie — Gläubige Musli­me sind deutlich gewaltbereiter“, Welt: „Muslime — Mehr Religiosität = mehr Ge­waltbereitschaft“, Bild.de: „Junge Muslime: je gläubiger desto brutaler“, Hamburger Abendblatt: „Junge Muslime: Je gläubiger, desto brutaler“.
Das ist die Ausbeute der Schlagzeilen, und sie ist nicht einmal vollständig. In Wahr­heit steht in der Studie allerdings, Weiter„Das Islambild in den Medien“

 

Wie schafft man den Übergang in die Moderne?

Mitbloggerin Miriam antwortete gestern auf meine Frage in diesem Thread:

>>Wie schafft man es denn, dass sich möglichst viele an diese Ordnung gewöhnen?>>

Und ihre Antwort ist einen eigenen Post wert:

Im Moment beschäftigt mich eine andere Frage. In letzter Zeit habe ich eine Reihe junger Muslimas kennengelernt, die selbst keine Probleme mit dieser Ordnung haben, aber ihre Eltern; oder ein Elternteil; oder ihre Brüder. Diese jungen Frauen sind hungrig nach Bildung; sie möchten ein selbstbestimmtes Leben führen; sie möchten den Beruf ihrer Wahl erlernen; sie möchten gleich behandelt werden wie ihre Brüder; sie möchten mit ins Landschulheim fahren dürfen; sie möchten nicht ihren Cousin heiraten; die Kopftuchträgerinnen unter ihnen hätten kein Problem damit, ihr Kopftuch abzulegen, z.B. um Polizistin zu werden. Denn sie tragen das Tuch zwar freiwillig, aber den Eltern bzw. der Mutter zuliebe.

Daher lautet die eigentliche Frage: Wie bringen wir die Eltern dieser jungen Frauen dazu, ihre Töchter (und Söhne) freizusetzen; zu respektieren, dass sie nicht das Recht haben ihren Kindern die traditionelle Ordnung aufzuzwingen? Einzusehen, dass ihre Kinder ihnen nicht in dem Sinne gehören, dass sie bestimmen dürfen, wie sie als Erwachsene zu leben haben?

Wahrscheinlich wird man mir vorwerfen, pathetisch zu sein, aber ich denke an “das Mädchen mit den Tränen in den Augen”, über das ich letzte Woche in einem anderen Thread berichtet habe. Für sie ist Schule ein Ort, wo sie frei sein kann, wo sie ihr Kopftuch ablegen kann und wenigstens so tun kann, als ob sie wirklich frei ist. Ein Ort, wo sie Jungs widersprechen darf; wo sie ein Recht auf eine eigene Meinung hat. Weiter„Wie schafft man den Übergang in die Moderne?“

 

Aussen Minister, innen rot

Aus der aktuellen Print-Ausgabe: Ein Porträt des Aussenministers und Vizekanzlers Frank-Walter Steinmeier, das ich zusammen mit dem neuen Kollegen Peter Dausend geschrieben habe. Die beiden Reden, auf die ich mich beziehe, finden sich hier und hier.

Vom Rasenplatz in Bochum zu den Lehmplätzen von Ouagadougou braucht Frank-Walter Steinmeier nur Sekunden, für den Rollenwechsel vom SPD-Vize zum Außenminister nur einen Satz. Soeben hat Kurt Becks Stellvertreter mit Fans und Spielern des VfL Bochum über Rassismus im Fußball diskutiert – und jetzt berichtet Deutschlands höchster Diplomat von Straßenkindern in Burkina Faso. »Faszinierend« sei es, wie ein Fußballprojekt diesen Vergessenen zwar nur selten eine Profikarriere beschere, aber oft einen Schulabschluss. Burkina Faso ist das ärmste Land der Welt, die SPD eine gepeinigte deutsche Partei, der Fußball politisch – und die nächste Rolle immer die schwerste.
Steinmeier hat nun gleich vier Rollen zu spielen. Seit Oktober 2007 ist der Außenminister auch stellvertretender SPD-Chef, seit November Vizekanzler – und seit Kurt Becks Wortbruch Kanzlerkandidatenkandidat. Nicht genug damit, dass Steinmeier mit vier Hüten durch die Welt reist. Er muss seine Reiseplanung immer mehr an innenpolitischen Pflichten ausrichten: Wegen Becks Krise musste vor zwei Monaten bereits der Indien-Teil seiner Asienreise amputiert werden. Und am vorletzten Sonntag killte die Parteisitzung zur Bahnreform die Station Chicago bei Steinmeiers Amerika-Trip. Seine Gesprächspartner in aller Welt werden sich im Wahljahr 2009 daran gewöhnen müssen, dass der Außenminister sonntags und montags meist Innenpolitik macht.

Als Steinmeier vor gut zweieinhalb Jahren an die Spitze des Auswärtigen Amtes bestellt wurde – der erste Sozialdemokrat seit Willy Brandt –, wiederholte sich ein Phänomen, das noch aus jedem Klaus Kinkel einen Politstar gemacht hat: Kaum im Amt, stürmen Außenminister alle Popularitäts-Hitparaden. Bei Steinmeier überraschte das dennoch. Schließlich war er bis zu seinem Amtsantritt den Deutschen weitgehend unbekannt. Für andere war der Außenministerposten oft Krönung einer öffentlichen Karriere – für den promovierten Juristen der Einstieg. Im stillen Kämmerlein eines Staatskanzleichefs in Hannover, eines Kanzleramtschefs in Berlin hatte der heute 52-Jährige mehr als ein Jahrzehnt lang all das organisiert, was ein anderer, Gerhard Schröder, im öffentlichen Scheinwerferlicht als seine Politik verkaufte. Steinmeiers rasanter Aufstieg von Schröders Schattenmann zu Merkels Beliebtheitsrivalen hat jenseits der roten Teppiche mehrere Ursachen: den Hanns-Joachim-Friedrichs-Reflex, mit dem die Deutschen grau melierten Männern, die sie aus dem Fernsehen kennen, Seriosität und Glaubwürdigkeit attestieren. Die sonore Stimme, die gelassen eine Politik erklärt, die nur schwer zu verstehen ist. Die vielen »konstruktiven Dialoge«, »fruchtbaren Gespräche« und »gemeinsamen Bemühungen«, die einen so sehr aller Parteilichkeit entheben, bis der Sozialdemokrat im Außenminister verschwindet. Doch der muss jetzt wieder sichtbar werden. Steinmeier ist nun außen Minister – und innen rot.
»Werden Sie denn nun gegen Merkel antreten?«, will Professor John Silver in Harvard wissen. Der Außenminister hat gerade eine programmatische Rede gehalten. Steinmeier scherzt, er habe die Einladung an die Elite-Eni in Mas­sa­chu­setts eigentlich angenommen, weil er sich hier vor solchen Fragen sicher wähnte. Aber nicht gefragt zu werden hätte ihm auch nicht gefallen.
Steinmeier war längst Diplomat, bevor er an die Spitze des Auswärtigen Amts wechselte…

Steinmeiers Rollenkonflikt besteht darin, dass er nach außen Entspannungspolitiker bleiben will, nach innen aber Spannungspolitiker werden muss. Das spiegelt sich in den zwei großen Reden, die er jüngst gehalten hat – eine nach Osten, eine nach Westen gerichtet. In Berlin warb er für eine »neue europäische Ostpolitik«, in Harvard stellte er seine »neue transatlantische Agenda« vor. Steinmeier sieht Deutschland als »Modernisierungspartner« für Russland. Er reagiert allergisch auf Kalte-Kriegs-Töne. Mit dem republikanischen Kandidaten John McCain hat er sich deswegen schon gelegentlich hinter verschlossenen Türen gefetzt. Steinmeier will aber auch nicht als Russland-Schmuser gesehen werden. Darum flicht er jetzt öfter Worte über »die Mängel im politischen System Russlands« in seine Statements.
In Harvard stellt er klar, dass er die Rückkehr Amerikas als politisch-moralische Führungsmacht in einer unübersichtlichen Welt wünscht. Dass Amerika den Ansehensverlust der vergangenen sieben Jahre wiedergutmacht, ist für ihn wichtig, weil wachsender Antiamerikanismus zu Hause (nicht nur in der Linkspartei) es schwer macht, Mehrheiten etwa für den Afghanistaneinsatz zu organisieren. Steinmeier zeigt sich in Amerika ganz undiplomatisch als Parteigänger Obamas. Dessen Slogan »Yes, we can« hat er als Pointe in seine Rede eingebaut. Einen Sieg Obamas, der den Irakkrieg immer für falsch hielt und den Afghanistaneinsatz verteidigt, würde Steinmeier als Bestätigung seiner eigenen Außenpolitik se­hen – ein letzter postmortaler Sieg von Rot-Grün….

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