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Das rätselhafte Sterben der NSU-Zeugen

 

Eine junge Frau stirbt einen Monat nachdem sie im Landtag zum NSU ausgesagt hat. Es ist der dritte Fall, in dem ein Zeuge aus dem Terrorkomplex zu Tode kommt.

Melisa M. fuhr das Motorrad mit der Startnummer 314. Motocross, die Fahrt über Rennstrecken mit Rampen und engen Kurven, war ihr Hobby. Ein Unfall am Dienstag vergangener Woche schien zunächst nur ein Dämpfer zu sein: M. fuhr mit der Maschine ihres Freundes auf einem Trainingskurs. Als sie stürzte, fiel das Motorrad auf ihr linkes Knie und verursachte einen Bluterguss.

Vier Tage später, am Samstag, war Melisa tot. Im Knie hatte sich ein Gerinnsel gebildet und eine Lungenembolie verursacht. Ihr Partner, mit dem sie sich im Februar verlobt hatte, fand die 20-Jährige noch lebend in ihrer Wohnung in Kraichtal nahe Karlsruhe – sie wand sich vor Krämpfen. Ein Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus von Heilbronn, wo sie starb.

Eine Autopsie der Leiche folgte gleich am nächsten Abend, die Polizei gab Pressemitteilungen heraus. Auch Abgeordnete aus dem Stuttgarter Landtag schreckten auf: Erst Anfang März war Melisa M. vor dem Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in Baden-Württemberg befragt worden. So wurde ihr Tod zum Teil einer Reihe von Fällen, in denen Zeugen aus dem NSU-Komplex auf unnatürliche Weise starben. Drei solcher Fälle sind bekannt. Für alle drei liegen plausible Erklärungen vor. Und dennoch: „Komisch kommt das natürlich jedem vor“, sagt der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) ZEIT ONLINE.

Entsprechend kochten Spekulationen hoch, bevor die Todesursache in der Heidelberger Gerichtsmedizin festgestellt worden war. Der Begriff „Zeugensterben“ kursiert. Hinzu kommt, dass der Fall Melisa M. mit dem Tod eines weiteren Zeugen verbunden ist: Florian H. aus Eppingen nahe Stuttgart.

Beweismittel, die die Polizei übersehen hatte

Der ehemalige Neonazi H. besaß nach eigenen Angaben die Information, dass eine rechtsextreme Organisation namens Neoschutzstaffel in den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter vom April 2007 verwickelt sei. Das Wissen passte nicht zu den Ergebnissen des Generalbundesanwalts, nachdem ausschließlich der NSU für den Mord an Kiesewetter verantwortlich war. Wenige Stunden vor einer erneuten Vernehmung durch das Landeskriminalamt, am Morgen des 16. September 2013, verbrannte der 21-Jährige in seinem Auto. Gegen 23 Uhr am Vorabend hatte er sich per Kurznachricht von seiner damaligen Freundin getrennt – Melisa M.

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft stufte das Ableben als Suizid ein. Erst in der vergangenen Woche eröffnete die Behörde das Ermittlungsverfahren erneut – Die Familie von H. hatte in dem Auto Beweismittel gefunden, die die Polizei anscheinend übersehen hatte. Dazu gehörten die Wagenschlüssel und eine Pistole.

Was ist dran an der angeblichen Todesserie? Ein halbes Jahr nach Florian H. starb im ostwestfälischen Paderborn der frühere Rechtsextreme Thomas Ri., bei dem kein Zusammenhang mit dem Kiesewetter-Mord erkennbar ist. Ri. war unter dem Decknamen Corelli ein Spitzel für den Bundesverfassungsschutz. Er soll Kontakt zum NSU-Mitglied Uwe Mundlos gepflegt und seinen Quellenführern lange vor der Enttarnung der Gruppe eine CD mit der Aufschrift NSU übergeben haben.

Sein Ende mit 39 Jahren bereitete den Nährboden für umfangreiche Verschwörungstheorien: Laut Obduktionsergebnis erlag er einem unentdeckten Diabetes. Ermittler fanden ihn in seiner Wohnung.

„Sie hat einen glaubhaften Eindruck gemacht“

Gemein haben die Fälle, dass ein Fremdverschulden – wie bei jedem Tod – nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen werden kann. Allerdings sind ein Selbstmord, eine chronische Erkrankung und eine Verletzung sehr unterschiedliche Ursachen und deuten keineswegs zwingend auf eine Fremdeinwirkung hin. Den Zeugen, der gefesselt und erschossen aufgefunden wurde, hat es im Komplex NSU noch nicht gegeben. Nun bieten die Ermittlungsverfahren zu Florian H. und Melisa M. den Ermittlungsbehörden die Gelegenheit, mit Zweifeln aufzuräumen.

„Es ist gut, dass die Fälle jetzt schnell und umfassend aufgeklärt werden“, sagt Drexler. Der Obduktionsbericht über M. deutet darauf hin, dass Zufälle durchaus am Werk sind. M. war zwar in nichtöffentlicher Sitzung vernommen worden, weil sie sich bedroht fühlte – doch dieses Gefühl habe sie nicht auf Fakten gestützt. Offenbar fürchtete sie sich allgemein, weil sie über das Thema Rechtsextremismus aussagen musste.

Eine Mitwisserin oder Geheimnisträgerin war die junge Frau wohl nicht. Während der drei Monate dauernden Beziehung hatte Florian H. ihr nach eigenen Angaben nichts von seinen Aktivitäten in der rechten Szene erzählt. „Sie hat einen glaubhaften Eindruck gemacht“, sagt Drexler.