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Kassel-Mord: Studie weckt neue Zweifel an Temmes Aussage – Das Medienlog vom Freitag, 7. April 2017

 

Der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme war beim Mord an Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 am Tatort, dem Internetcafé des Opfers. Temme sagt, er habe die Schüsse nicht gehört, den Sterbenden nicht gesehen. Das Gericht hat sich damit abgefunden. Die Londoner Forschungsgruppe Forensic Architecture nicht: Sie ist durch aufwändige Rekonstruktionen zu dem Schluss gekommen, dass Temme den Mord hätte wahrnehmen müssen. Gestern wurde die Studie in Kassel vorgestellt.

Bei ZEIT ONLINE bilanzieren wir, was die Forscher herausgefunden haben, weisen aber auf die verbleibenden Zweifel hin: etwa, dass die Rekonstruktion von Temmes Blickwinkel auf das Opfer am Boden nicht auf dem tatsächlichen Geschehen basiert, sondern auf Temmes für die Polizei nachgestelltem Gang durch das Internetcafé. Außerdem war es, in einem sehr engen Zeitfenster, möglich, dass der Verfassungsschützer den Raum vor den tödlichen Schüssen verließ.

An jedem Werktag sichten wir für das NSU-Prozess-Blog die Medien und stellen wichtige Berichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.

Die Ergebnisse könnten auch für das Münchner NSU-Verfahren relevant werden, weil am 10. Mai Projektleiter Eyal Weizman vor Gericht aussagen soll. „Dann bekommt seine Untersuchung nicht nur eine politische, sondern auch eine juristische Bedeutung“, heißt es bei uns. Auch die Süddeutsche Zeitung schreibt, dass sich „das Gericht dieses bereits ad acta gelegte Kapitel möglicherweise neu vornehmen müssen“ wird.

Die Ladung Weizmans ist allerdings noch nicht beschlossen. Die Nebenklageanwälte von Familie Yozgat wollten den Forscher zunächst auf dem Wege der sogenannten Selbstladung einbestellen. Rechtliche Bedenken an diesem Vorgehen meldete im Gericht allerdings Bundesanwalt Herbert Diemer an. Diese Beschränkung sei notwendig, um die Rechte der Angeklagten zu sichern, wie der Bayerische Rundfunk berichtet. Der Weg wird daher über einen normalen Beweisantrag an die Richter führen müssen. Damit versuchten zuletzt auch die Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, ihren Mandanten zu entlasten. „Dass sich das Gericht die Entlastungsshow in den letzten Tagen der Beweisaufnahme noch antun will, erscheint den meisten Prozessbeobachtern allerdings unwahrscheinlich.“

Das nächste Medienlog erscheint am Montag, 10. April 2017.