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Wer ist denn jetzt der Proll?

Bus M29, Berlin-Wittenbergplatz. Ein mittelaltes Jogginghosenpärchen inklusive Hund (Staffhordshire-Boxer-Verschnitt) steigt ein. Hund tobt knurrend durch den Bus. Man sagt freundlich: „Könnten Sie bitte den Hund anleinen?“ Pärchen glotzt. Busfahrer, der die Szene mitbekommt, laut, über Sprechanlage: „WEM JEHÖRT DER HUND?“

Jogginghosenmann: „Mir, wieso, hapta n Problém oda wat?“
Busfahrer: „Leinen Sie Ihren Hund an, aber dalli“
Jogginghosenmann: „Uff Fresse oder wat?“
Busfahrer: „Haben Sie für den Hund bezahlt?“
Jogginghosenmann: „Beßahlt? Hörck beßahlt? Bissu schief jewickelt Alta? Biss du’n Proll oda wat?“
Busfahrer: „Hunde fahren nur umsonst mit, wenn der Hund in einer Tasche ist, ansonsten haben Sie eine Tageskarte, Zeitkarte oder Gruppentageskarte vorzuweisen“.
Jogginghosenmann: „Den Hund in ner Tasche mitnehmen? Ick glôb’t hackt!“
Busfahrer [schaltet Motor aus, öffnet Türen]: „Entweder Sie zahlen oder Sie steigen aus“
Publikum: [murrt, scharrt mit Füßen]
Jogginghosenmann: „Alta, du WILZ uff Fresse, alta du WILLZ, ja?“
Publikum: „eeh, ööh, Schnauezä, vapiss dir, mannmannmann, wär, Aerschloäch.“
Jogginhosenpaar: [zieht pöbelnd durch Vordertür ab, rotzt vernehmlich auf den Boden]
Busfahrer: [schließt Tür]

 

Verzweifeln mit Briefmarken

Die Postfiliale in der Moabiter Turmstraße hat anderen Filialen etwas voraus: einen zweiten Briefmarkenautomaten. Vermutlich, weil in einer Gegend, in der selbst Aldi Ladenlokale schließt, die Filialmitarbeiter nur noch Stütze auszahlen und gar nicht mehr zum Briefmarkenverkaufen kommen.

Heute Morgen hatten sich vor beiden Automaten Schlangen gebildet. Na gut, Schlängelchen. Blindschleichen. Aber so gewittrig wie das Wetter war auch mein Gemüt, und Leute, die vor mir stehen und ratlos auf den ungefähr 20 Knöpfen des anspruchsvollen Automaten herumdrücken, machen mich erst recht kribbelig.

Einer der Spezialisten vor mir hatte es inzwischen geschafft, eine Briefmarke zu 0,55 Euro und eine zu 0,90 Euro – wohin klebt man bitte 0,90 €? – auszuwählen und versuchte mangels Kleingeld nun, den Betrag mit seiner quietschgrünen Dresdner-Bank-EC-Karte zu berappen.

Magnetstreifen oben rechts, oben links, unten rechts, unten links – ich hatte genug Gelegenheit, festzustellen, dass das Wertplastik noch nicht mit einem Geldkartenchip ausgestattet war und daher vom Automaten verschmäht wurde. Nun kam das nächste Plastik an die Reihe – mit Geldkartenchip, aber ohne Guthaben. Bevor der sichtlich und zu Recht nervöser und nervöser werdende bebrillte Mitvierziger am Ende versuchen würde, einen Zwanzig-Euro-Schein in den Kartenschlitz einzuführen, schritt ich ein.

„So kommen wir hier nicht weiter. Ich geb’ Ihnen einen aus“, sprach ich souverän und zückte meine Geldkarte. Ich hatte irgendwann mal versehentlich 200 Euro Guthaben aufgeladen und bin seitdem beständig darauf bedacht, selbiges auf ein Normalmaß abschwellen zu lassen. Gnierrrk! Gnierrrk! machte der Automat und spie zwei Papierläppchen aus. Die Markenspende führte allerdings zu einem unwirschen „Was soll das denn jetzt“ und einem Blick, der an Boshaftigkeit und Blödheit dem typischen Kampfhundgesichtsausdruck nichts nachstand. „Hier, nehmen Sie, geht auf’s Haus!“ erklärte ich. „Welche Haus?“ – „Das große gelbe, in dem wir hier stehen.“

War das denn so schwer? Der in seinem Stolz verletzte arbeitslose Akademiker zog einen 20-Euro-Schein aus seiner Börse. „Da kann ich nicht drauf rausgeben. Lassen Sie’s gut sein. Freuen Sie sich, und machen Sie sich einen schönen Tag!“ Ich habe 1,45 € investiert, um die Wartezeit zu verkürzen und wollte mich nun wirklich nicht noch dafür rechtfertigen. „Der junge Mann schenkt Ihnen die Marken!“ erläuterte jemand weiter hinten in der Schlange dankenswerterweise. Endlich raffte es der Beschenkte, nahm seine Marken und zog davon. Sein Dankeschön wird vermutlich im Verkehrslärm untergegangen sein.

Auch der vor mir noch verbleibende Postkunde war etwas unsicher im Umgang mit dem Automaten. Halblaut brummelte er „Also, ich will jetzt Fünfundfünfziger…“, schaffte es aber ohne Fremdhilfe, das gewünschte Wertzeichen hervorzukitzeln.

Eine schöne Pointe wäre es jetzt natürlich gewesen, wenn ich jetzt irgend etwas falsch gemacht hätte oder der Automat kaputt gegangen wäre oder so. Ist aber nicht passiert. Aber wahrscheinlich habe ich wieder einmal € 2,20 auf einen Brief geklebt, der noch für € 1,45 befördert worden wäre.

 

Plädoyer gegen den neuen Hauptbahnhof

Ach, das Berlin-Weblog ist so schön liberal, so herrlich dialektisch!
Nach Jochen Reineckes Lobhudelei erzählt uns Don Dahlmann, warum er gegen den neuen Hauptbahnhof ist.

Zugegeben: die Architektur des neuen Bahnhofs mitten Berlin ist gelungen. Zumindest, so lange die Glasscheiben so schön klar und sauber bleiben, sieht der Hauptbahnhof schick aus, und hebt sich wohltuend von den Betonburgen anderer Städte ab. Die Frage ist nur: braucht den Bahnhof irgendein Mensch?

Kollege Reinecke hat in seinem Plädoyer für den Bahnhof hervorgehoben, dass es leid war sich durch den völlig überfüllten Bahnhof zu quetschen, an Saftstand, Würstchenbude und Bäcker vorbei. Auch will er nicht mehr ertragen, dass er sich den Schädel an den niedrigen Gängen zu U-Bahnen anschlägt. Ich könnte noch hinzufügen, dass der Zeitungsladen eine Zumutung ist und wollte man Besuch mit dem Auto am Bahnhof abholen, tat man das am besten gar nicht, sondern schilderte telefonisch lieber den Weg zum Taxistand. Bahnhof Zoo ist und war in vielen Dingen eine kleine Katastrophe. Wie das mit dem Abholen am neuen Hauptbahnhof aussieht, weiß ich nicht, aber den Schädel wird sich Kollege Reinecke leider weiter anstoßen müssen, denn um zum neuen Bahnhof zu kommen, wird er, kommend aus Westberlin, weiter am Zoo umsteigen müssen. Schlimmer noch: jetzt muss er aus dem engen U-Bahn Keller mit Taschen, Tüten und Tochter zwei Stockwerke nach oben zu den S-Bahn oder Regionalbahngleisen klettern müssen um einem Zug zu bekommen, der ihn zu seinem Zug am Hauptbahnhof bringt, da der Bahnhof Zoo seit dem Wochenende außer von Regional-, S-Bahnen und einigen D-Zügen nicht mehr angefahren wird, und der neue Bahnhof kaum Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr besitzt.

Für Reisende aus Westberlin, oder die nach Westberlin wollen ist das unverständlich, und wenn auch noch ein Pressesprecher der DB sagt, das es nur 20.000 Reisende sein werden, die der Zoo bei 150.000 Nutzern pro Tag verlieren wird, fragt man sich unwillkürlich: „Bitte was? Für 20.000 Reisende setzt man so ein pompöses Riesending mitten ins Niemandsland?“ Allerdings versteht man dann auch, warum die Deutsche Bahn den Bahnhof Zoo nicht mehr anfährt. Welcher Besucher, welcher Westberliner würde an den abseits in der Botanik liegenden Hauptbahnhof aussteigen, wenn sich am Bahnhof Zoo U- und S-Bahnlinien in alle Richtungen treffen? Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie viele Menschen den neuen Bahnhof tatsächlich nutzen, würden am Bahnhof Zoo weiter alle Züge halten.

Der neue Bahnhof ist, aus heutiger Sicht, reine Großmannssucht und die fixe Idee eines Bahnchefs, der für das gleiche Geld den Bahnhof Zoo hätte auf den neuesten Stand bringen können. Aber dafür ist es nun zu spät. Solange der neue Bahnhof allerdings in einer Brache liegt und weder von Straßen- oder U-Bahnen angefahren wird, so lange hätte man auch noch den Bahnhof Zoo anfahren können. Denn es wird mindestens noch zehn Jahre dauern, bis der Hauptbahnhof eine funktionierende Infrastruktur hat. Aber das Bahnchef Hartmut Mehdorn ausschließlich das Wohl der Reisenden Herzen liegt, ist beim bevorstehenden Börsengang der Bahn bestenfalls ein Gerücht. So wird der neue Bahnhof noch lange wie ein schlechter Schildbürgerstreich in der Walachei stehen. Aber immerhin nett anzusehen und abends hübsch beleuchtet.

 

Das Kumpelnest ist gerettet!

Das legendäre Kumpelnest war in den letzten Monaten zur No-Go-Area geworden. Der Toilettenbereich war fest in der Hand von rabiaten Dealern aus dem Morgenland, die auch mal Prügel androhten, wenn man keine Lust hatte, deren minderwertiges Hasch zu erwerben. Die Tresenmannschaft war häufig bocklos, die Stimmung hatte sich von aufgepeitscht-euphorisch in tranig-aggressiv verwandelt.

Doch – oh Wunder! – es muss eine Razzia oder irgendwas in der Art gegeben haben. Es hängen jetzt überall Schilder, dass der Erwerb und Konsum von harten Drogen verboten ist. Es ist wieder Leben und Stimmung in der Bude. Man wird nachts um drei von betrunkenen Russinnen zur Weiterfahrt in den Kit-Kat-Club eingeladen – also alles wie früher. Gut.

 

Plädoyer für den neuen Hauptbahnhof

An allen Ecken wird gemeckert: „Och je, unser armer Bahnhof Zoo“, stöhnt Westberlin. „Der böse Mehdorn hat ein anderes Dach eingebaut“, jammert der Architekt. „Det is ja mitten in die Pampa“, klagt der Ureinwohner. Ich bin in den letzten Tagen mehrere Male durch den neuen Lehrter Bahnhof durchgefahren und bin sicher: In wenigen Wochen wird das Gemecker verstummen. Die Architektur ist unglaublich luftig, alles ist lichtdurchflutet und auf eine zurückgenommene, geradezu maritim-niederländische Art und Weise modern. Es wird echtes Trans-Europa-Express-Gefühl aufkommen, es werden Züge von und nach Warschau und Paris ein- und ausfahren. Es wird mit großer Sicherheit ein Ort zum Flanieren und Verweilen sein.

Ich weine dem stets überfüllten Bahnhof Zoo keine Träne hinterher. Warum muss ich mich auf dem Weg von der U-Bahn zum Fernbahngleis zwischen einer Bäckerei, einem stinkenden Wurststand und einer verkeimten Saftbar durchquetschen? Warum soll ich mir auf dem Weg zur U-Bahn aufgrund der niedrigen Deckenhöhen noch dauernd den Kopf stoßen? Warum soll ich mir dieses Gedränge und Geschiebe weiter antun.

Der Hauptbahnhof wird ein großer Gewinn für die Stadt werden. Die Anbindung an den Rest der Stadt wird man in den Griff kriegen. Der Bahnhof als wichtiger, pulsierender Verkehrsknoten ist ein kühnes und visionäres Projekt, da wird man den Kleinkram noch regeln. Der Flughafen Tegel ist vom öffentlichen Nahverkehr her auch nicht besser angebunden und keiner meckert darüber.

Ich freu mich auf die Eröffnungsfeier.

 

Zuuuuuuuuuurückbleim!

Die BVG als WM-Trittbrettfahrer

„BVG – Unser Spielfeld heißt Berlin: Unsere Mannschaft steht bereit“ tickert auf den Anzeigegeräten in den Berliner U-Bahnhöfen durch, anstatt dass dort der übernächste Zug der unbeliebten Verkehrsbetriebe („Bummelzüge, Verspätungen, Grantiges_personal“) angekündigt wird.

Wieder einmal beweist die BVG ihre spandauartige Piefigkeit. Wer denkt sich solche Slogans bloß aus? Vermutlich derselbe, der die nahverkehrsfachbegriffverseuchten Beiträge der unguten Kundenpostille „BVGplus“ verzapft, an denen allerhöchstens Pufferknutscher ihre Freude haben.

Bevor jetzt alle Spandauer auf die Barrikaden gehen (direkt von den Spandau Arcaden wäre ein guter Platz dafür): Genau betrachtet bzw. analysiert, klingt der Spruch, mit dem die BVG kurz vor zu spät auf den WM-Zug aufspringen (haha, tolle Metapher!) will, eigentlich doch nicht so sehr nach Schrebergarten, Schultheiss und Schnauzbart. Nein, er hat für mich (zugegeben: absolut fußballunbegeisterten Nörgelbold) eher einen muffigen Beigeschmack in der Richtung Kasernenschlafsaal oder Männerumkleidekabine. Die DDR-Wehrsportgruppe GST lässt grüßen, oder Schlimmeres. „Allzeit bereit“ assoziiere ich, oder auch „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“.

Und der Wahrheitsgehalt? Zwar wurde das Personal zu Sprach- und Höflichkeitsschulungen verdonnert, aber bei einem gestandenen BVG’ler bringt diese milde Form der Gehirnwäsche etwa genau so viel wie der Versuch, im 20°-Schonwaschgang Fahrradölflecken aus einer hellen Hose herauszubekommen. Und hinterher ist es dann meistens schlimmer als vorher. (Man stelle sich den Busfahrer vor, der dann auf Englisch hämisch grinst, wenn er einem spurtenden Mitfahrwilligen zuschaut und dann kurz vor dessen Zielerreichen die Türen schließt. Oder ins Mikrofon bellt: „I want your ticket see, bevore I drive not further. I have time!”)

Und dass zum Wohle der Fußballschlachtenbummler mehr Züge, Busse und Fähren fahren, sei dahingestellt. Trotz aller Elektronik muss ja immer noch vorne eine(r) drin sitzen, der Knöpfchen drückt, Kurbeln und Räder betätigt und Pedale drückt. Nun kann man zwar Bussfahrer mit „k.w.“-Vermerk zu Call-Center-Agents umpolen, aber eben nicht umgekehrt, und von massenhaften Neueinstellungen bei der BVG war in den Berliner Blättern nichts zu lesen.

Statt Sportlern mit halsbaumelnden Eintrittskarten wie zur Leichtathletik-WM werden diesmal also (alkohol-)fahnenschwenkende Fußballfans für Full House im Nahverkehr sorgen. Wobei das ja auch ein gutes hat, setzt man verstopfte U-Bahn-Eingänge mit Fußballtoren gleich, bei denen jeweils 10 Keeper zwischen den Pfosten stehen. Ein Eigentor ist dann so gut wie ausgeschlossen – wenngleich die BVG hier sicherlich auch noch den Gegenbeweis antreten wird.

 

Ode an Karstadt

Ich mag die Karstadt-Filiale in der Turmstraße. Sie ist nicht weit von meinem derzeitigen Lieblingsarbeitgeber entfernt, und man erhält dort meistens so ziemlich alles. Wenn mir also während der Schicht siedendheiß einfällt, dass ich noch ein Klemmbrett und 50 Gramm Stecknadeln brauche, genügt die Überquerung der gefährlichen Turm- und Stromstraßenkreuzung, schon bin ich da und kann mich mit solchen und ähnlichen Essentials eindecken.

Auch ist – wohl auch dem übel beleumundeten Moabiter Umfeld bzw. der vorherrschenden mangelnden Kaufkraft geschuldet – dieses Karstadt noch so richtig warenhausmäßig. Es ist keine durchgestylte Glitzermeile, kein Konsumtempel, kein „Einkaufserlebnis“. Man geht dort nicht „shoppen“. Man macht dort Besorgungen. Karstadt-Turmstraße, das sind Kugelschreiberminen, lange Unterwäsche, Dosenöffner und Verlängerungskabel. Vollkommen unsexy, aber auch völlig unverzichtbar.

Auch das Personal weist eine angenehme Schrulligkeit auf. Besonders lohnenswert ist es, in der Haushaltswarenabteilung, an die sich das Tierfutterregal anschließt, hinter der Farben, Lacke, Klebstoffe und Autozubehör aufgereiht sind, nach Fahrradöl zu suchen bzw. zu fragen. Ein Mittfünfziger im rotkarierten Flanellhemd, mit krauser Lockenpracht und beeindruckender Warze war gerade damit beschäftigt, Säcke mit Blumenerde – auch die bekommt man interessanterweise dort – ins Regal zu wuchten. Das einzig ölartige, was ich bis da gefunden hatte, war eine Kombination aus Feinöl, Rostlöser und Korrosionsschutz, das Fläschchen für 3,49 €. Folglich frug ich das Flanellhemd, ob auch irgendwo richtiges Fahrradöl stünde.

„Aaach, die Leute ölen immer so viel! Was wollen Sie denn damit ölen?“ sprach der Verkäufer. „Die Kette. Sie quietscht.“, gab ich eine Fahrrad-Schadensanalyse. „Ölen, ölen, dabei verklebt doch alles, und hinterher wundert man sich dann über die eingesauten Hosen. Nehmen Sie doch erst einmal einen Lappen und machen Sie die Kette sauber.“ – „Habe ich schon, quietscht immer noch.“ – „Na, das Zeug da würde ich dann aber nicht nehmen. Das ist nur, um festsitzende Schrauben zu lösen, wenn Ihnen der Auspuff abgefallen ist oder so. Das zerfrisst auf Dauer auch das Material wissen Sie?“ (Wusste ich nicht. Und was hatte der Auspuff damit zu tun?) „Haben Sie denn kein Emmohess-Spray?“ Ratloser Blick meinerseits. „Na dann kommse mal mit. Das hieß früher Waffenöl“, raunte mir der Verkäufer verschwörerisch zu. „Oh, oh, oh, das ist ja auch schon wieder fast alle, da müssen wir ja mal wieder nachbestellen“, stellte mein Fachberater fest, als er in einem in der Tat recht leeren Regalfach nach einer der letzten Dosen des Wundermittels fischte. „Hier, das hilft gegen alles, da können Sie auch die Mechanik und die Bremsen mit behandeln. Das verwenden auch die Laubenpieper, für Scharniere und so etwas.“

Das war ja nun wirklich eine aussagekräftige Referenz. Ich merkte: Dieser Mann sprach aus Erfahrung. Eigenerfahrung. Ich sah ihn vor mir, wie er auf seinem Schrebergartengrundstück in Spandau die kreischende Tür des Plumpsklos mit MoS-Spray behandelte und hinterher dann in vollkommener Lautlosigkeit das Örtchen aufsuchen konnte. Ja, dieses Mittel musste es sein. Ich bedankte mich, ging zur Kasse, zum Ausgang und zum draußen wartenden Fahrrad, das ich sofort mit der Tinktur behandelte. Der Wind verteilte das Spray gleichmäßig über Kette, Rahmen und Felgen. In der Tat: Die Kette quietscht jetzt nicht mehr. Dafür die Bremse.

 

Der diskrete Charme der Hässlichkeit


(Foto Andreas Muhs)

In Berlin wimmelt es von eigentümlicher Nachkriegsarchitektur. Vor allem die Siebziger Jahre waren und sind bekannt für den äußerst beherzten Einsatz bizarrer Farbkombinationen (kobaltblau, grasgrün und cordjackenbraun), so wie man es in manchen U-Bahn-Stationen der Linie U9 (Rathaus Steglitz oder Schloßstraße) noch heute sehen kann.

Der Architekturkritiker Oliver Elser und der Fotograf Andreas Muhs haben unter www.restmoderne.de eine Vielzahl atemberaubender Bilder zur Berliner Nachkriegsarchitektur versammelt. Ein Bildband ist gerade in der Entstehung; das Projekt rechnet sich allerdings nur dann, wenn vorher genügend Interessierte eine Abnahme des Bildbandes zusichern. Subskriptionsmöglichkeit für dieses wirklich spannende Projekt unter diesem URL.

 

Endlich. Der Berlinroman.

Das Feuilleton schweigt ZOMBIE NATION, den neuen und mit Abstand besten Roman des Berliner Autoren Joachim Lottman bisher beharrlich tot. Und das ist völlig unverständlich. Lottmanns „Familienroman“, in dem er sich mit seinen familiären Wurzeln befasst und en passant mit Leichtfüßigkeit ein grandios genaues Bild der zusammenkrachenden „Berliner Republik“ um den scheidenden Gerhard Schröder zeichnet UND der verzeihenden Liebe ein bitter-liebevolles Denkmal setzt ist sprachlich brilliant, todkomisch und von einer stupenden Genauigkeit. Lottmann hat seit dem Tag, an dem die neue Bürgerlichkeit ausgerufen wurde, still zugeschaut und abgewartet, ist dann mit einem großen Besen herumgegangen und hat alle Reste zusammengekehrt, sortiert, neu bewertet und dann zwingend logisch und überaus komisch aufgeschrieben.

Es ist insofern ein typischer Lottmann-Roman, als dass die Handlung eine wüste Melange aus erlebtem, erfundenem, historisch wahrem und leicht verfälschtem ist.

Es ist insofern aber auch ein untypischer Lottmann, als dass unnötiges Blabla weitgehend fehlt, statt dessen darf man sich über zwei durchaus sauber erzählte und angenehm ineinander verwobene Erzählstränge freuen.

Der Grund, warum das Fäuleton das Buch bisher links liegen lässt ist, dass Lottmann seit längerem über den klassischen Magazin- und Tageszeitungsjournalisten als solchen fürchterlich fiese und wahre Dinge schreibt. Aus dieser beleidigten Haltung heraus verweigert man ihm Wohlwollen, geschweige denn überhaupt eine Form der aufmerksamkeit oder Rezension.

Für mich, ich sagte es bereits: Lottmanns bestes Buch, und zwar mit Abstand. Man wird ihn in einigen Jahren als einzigen brauchbaren Chronisten des Neuwahljahres 2005 preisen.